Foto Belinda Helmert: Ex-Liebenauer Bahnhof, 1910 erbaut. Bedeutsam seit 1939 mit dem Bau der “Eibia GmbH Anlage Karl”, einer der größten Explosivstoff-Fabriken in Deutschland. Der Personenverkehr wurde 1968 eingestellt; inzwischen ist es ein Wohngebäude. http://www.eisenbahnkultur.de/Bf-Rahden/Bf-Liebenau/bf-liebenau.html
Ein verhängnisvolles Gewitter
Unter dem Titel „Der Ast war schuld“ widmet das Münchner Feuilleton den seit Studiumbeginn 1919 zeitweise in München (Hauptaufenthalt Murnau) wohnhaften Schriftsteller einen Nekrolog. Er verstarb am ersten Juni 1938 infolge eines Blitzeinschlages. Das Unwetter hatte er, einer Prophezeiung folgend, nicht im Wagen verbringen wollen. Kaum im Exil auf der Flucht vor der Gestapo angekommen, wurde ausgerechnet der herabstürzende Ast einer Eiche zu seinem tragischen Verhängnis.Thema ist eine allerdings verjährte Exposition. Eine Ausstellung inszenierte August 2019 die (vor Corona-)Welt von Horváths Dramenfiguren und verknüpfte sie mit der Zeitgeschichte. Er gilt als Meister des deutschsprachigen Seelendramas.
Der Antrag des polyglotten „Reichsbürgers“ (k uk Monarchie) auf die deutsche Staatsbürgerschaft wird von der oberbayrischen Justizbehörde negativ beschieden, vermutlich wegen seines mangelnden geregelten Einkommens. Horváth wird als staatenloser vom Blitz erschlagen werden. Am 1. Juni wird Ödön von Horváth in Paris auf den Champs-Élysées auf Höhe des Théatre Marigny durch einen herabstürzenden Ast getötet und am 7. Juni in St. Ouen/Paris bestattet. In der Stadt der Liebe lebten auch Marx, Heine und Börne und J.Roth-letztgenanntes Trio verstarb auch an der Seine.
Foto Belinda Helmert: Strauß auf Hof Nietfeld, der Tierfarm in Liebenau. https://www.hofnietfeld.de/ Johann Strauß vertonte „Geschichten aus dem Wienerwald“, das Stück, welches Ödon von Horváth berkannt, posthum sogar berühmt machte.
Widersinn der Zeit
Meinen einstündigen Podcast in der Rubrik Literaten von A bis Z kann man hier hören mitsamt seinen kleinen, der Spontaneität geschuldeten Laufmaschen. So liegt der Geburtsort Horváths (geb. im Dezember 1901) Rijeka im heutigen Kroatien und natürlich setzte der Nationalsozialismus unmittelbar nach dem ersten und nicht dem zweiten Weltkrieg ein. Der Beitrag beginnt mit einer Zusammenfassung von „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (1931) mit dem Genre des „Wiener Madls“ und Spezialitäten wie Trafikanten, die es heute nicht mehr gibt. Nicht nur in diesem Drama, sondern grundsätzlich arbeitet sich der Autor an dem alten Österreich, dem kommenden Nationalsozialismus, den ökonomischen und damit einhergehenden soziologischen Veränderungen während der Wirtschaftskrise ab. Die beschriebene Epoche ist immer zwischen den zwei Weltkriegen, weshalb Horváth ausschließlich zeitgenössische Werke verfasst hat. Den Erfolg erlebte er, zumal die Stücke alle verboten waren, nicht.
Nach dem „Wiener Wald“ folgen biografische Details, die Horváths Nomadenexistenz und Widerstand gegen den main stream geschuldet sind. Vorgestellt wird dann das Drama „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (1932) – wie in „Geschichten aus dem Wiener Wald“ wird die Ausbeutung der Frau als auch der Arbeiterklasse an sich deutlich. Die menschlichen Schwächen, etwa die Wankelmütigkeit bzw. Bequemlichkeit der handelnden Charaktere wird keineswegs sarkastisch gezeichnet, sondern geradezu verständnisvoll. Damals wie heute leben die Akteure in einer Welt der Egoisten. Eine Analyse zu dem Schauspiel in fünf Bildern liefert https://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Horvath/glauliho.htm
Das dritte vorgestellte Bühnenstück ist „Der jüngste Tag“, das von Schuld und Suizid(absicht) handelt; eine detaillierte Analyse zu den sieben Bildern, in denen das Stück anstelle von Akten gegliedert ist, liefert https://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Horvath/jungstag.htm. Mehr als in allen anderen Stücken spielt die Entscheidungsfindung und die Thematik des spontanen Fehlschlusses mit langfristigen schweren Konsequenzen die tragende Rolle. Auch deshalb gilt der (Bühnen) Autor als Klassiker der Moderne: er schreibt über zeittypische Themen, beschreibt die Motive aber in ihrer Zeitlosigkeit. Daher wird Horváth immer aktuell bleiben. Mit anderen Worten: wie mit der unverschuldeten Schuld umgehen? Was tun, wenn die Bildung nicht von moralischem Verantwortungsbewusstsein begleitet wird? Geschichte schläft nicht, sie kehrt wieder. Falscher Umgang mit Vergangenem führt zur Unfähigkeit zu richtigem (angemessenen) Handeln in der Gegenwart.
Foto Belinda Helmert: Spätherbst in Liebenau – Felder nahe dem ehemaligen Bahnhof.
Indolenz
Besonders in seinem Roman „Jugend ohne Gott“ wird die Technik, ein Milieu zum Mikrokosmos zu stilisieren, hier die Schule bzw. die Klasse der pubertierenden „Fische“, jene Penäler, die unter dem Einfluss der NS-Ideologie zu kaltherzigen Wesen ohne eigene Identität mutieren. Zusammenfassungen mit Analyse liefern https://studyflix.de/deutsch/jugend-ohne-gott-zusammenfassung-7150. Eine „hippige“ Version mit Playmobilfiguren liefert das Format „Sommers Weltliteratur“unter https://www.youtube.com/watch?v=CddZUVQeaSM; dies gilt zudem für „Der ewige Spießer“. Die Menschen sind vielleicht nicht grundsätzlich schlecht, aber schlicht unfähig, moralisch integer wider ihren Interessen zu handeln.
In seinem letzten „Jugend ohne Gott“ (1938) wird bereits im Titel deutlich, dass Gott, sofern er das Gute verkörpert, die Erde verlassen und damit auch die Menschen ihrem eigenen Schicksal überlässt. Die sittliche Verrohung bzw. Indolenz endet fast folgerichtig in Mord an einem Schüler bzw. Selbstmord eines Klassenkollegen. Protagonist ist ein an Gleichgültigkeit leidender Lehrer, der aus der Ich-Perspektive in Tagebuchform berichtet; am Anfang steht sein Geburtstag. Am Ende ist die den Mord auslösende „Eva“ mit den Fischaugen im Jugendgefängnis, der Nationalsozialismus hat gewonnen und der Lehrer fährt nach Afrika: „Der Neger fährt zu den Negern.“ (Schlussatz) https://www.projekt-gutenberg.org/horvath/jugend/chap044.html
Zuletzt handelt der eigene Podcast von „Der ewige Spießer“, dem Abgleiten der Kleinbürger(in) in das sozial verwerfliche Milieu bzw. der Wandel von einem unredlichen zu einem perfiden Charakter durch Opportunismus und Erfolgsstreben, weil man eben nicht mehr Kleinbürger sein will. Horváth zeigt anschaulich: Politische Anpassung kann zum Verlust von Individualismus und Haltung führen. Am Ende bleibt eine an Nihilismus grenzende Mentalität: dazu passend die Scherenschnitte, auch Montage genannt, die inneren Monologe, das sturkturierte Durcheinander. Für Horváth schließen sich Zufall und Mechanismus nicht aus. Es entstehen Arabesken, Schlaglichter auf gewisse Lebenssituationen, Wendepunkte. Doch die Menschen begreifen meist nicht und handeln auf der Suche nach dem Silberstreif am Horizont, ihrem Glück wie Automaten.
Foto Belinda Helmert: Wehr an der alten Mühle der Aue in Liebenau. https://web.destination.one/poi/angeln-an-der-grossen-aue
Links zum Eintauchen oder Vertiefen
Jüngst lief das Hildesheimer Gastspiel „Der ewige Spießer“ im Nienburger Theater. Wer den Originaltext hören will, sei auf die mehrteilige Vertonung hingewiesen: https://www.ardaudiothek.de/sendung/der-ewige-spiesser-das-hoerspiel/54948914/ Einen audiblen professionellen Beitrag gibt es unter https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-oedoen-von-horvath-schriftsteller-todestag–100.html.
In der Rubrik „Literatur am Gartenzaun“ ist auch ein halbstündiger Film eingestellt, der mit der inhaltlichen Aktualität seiner Werke einsetzt und dabei zunächst Bezug zu „Jugend ohne Gott“ nimmt. Zudem kann man hier den „Spießer“ in 3,5 h fortlaufend hören. Zumindest mir nimmt die Entscheidung immer das Ohr ab; welche Stimme und Deklamation mich erreicht.
In der Reihe mit Tilman Spengler darf der Dramatiker und Romancier natürlich nicht fehlen: 15 Minuten, exemplarisch doch mit einer ausführlichen Vita, die natürlich mit dem blitzartigen Ableben des Schriftstellers im Alter von nur 37 Jahren einsetzt. https://www.youtube.com/watch?v=vhxWFzA1klU. Spengler stellt „Die italienische Nacht“ vor, einem politischen Stück in sieben Bildern aus dem Jahr 1931: hier stehen sich Faschisten und Marxisten in ihrer Gemeinheit, die sie ideologisch rechtfertigen, wenig nach. Das apokalyptisch endende Stück enthält das Bonmot „Pflichten verpflichten„.
Interessant ist dem Volkstheater“Die italienische Nacht“ die Technik des Spaltens; die verlorene Einheit macht es den bösen Mächten leicht, nach Gutdünken zu herrschen. Das „Verlotterte“ macht Horváth auch sprachlich deutlich und selbst das Schweigen wirkt durch seine Positionierung sehr bered. Modern an seinen Stücken ist auch die Verbindung zu Musik (Operette) und Film, das Paraphrasieren und Persiflieren. Das zweite Drama, an dem es Tilman Spengler illustriert, sind die „Geschichten aus dem Wienerwald“, dem meistgespielten der elf Bühnenwerke von Horváths.
Die meisten seiner Texte sind im Gutenberg-Bibliothek enthalten.https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/horvath.html
Auf Youtube sind auch die Romane „Jugend ohne Gott“ knappe 4 h) und „36 Stunden“ (3,5 h) abrufbar. Zu hören ist „Jugend ohne Gott“ auf https://www.podcast.de/podcast/284871/hoerbuch-oedoen-von-horvath-jugend-ohne-gott.
Zuletzt sei auf den sehenswerten SW-Film (1961 von Michael Kehlmann) , die Adaption des gleichnamigen Theaterstücks „Der jüngste Tag“ in sieben Bildern verwiesen, das Horváth im Jahr vor seinem eigenen Ableben verfasste. Das Fernsehspiel „Liebe,Glaube,Hoffnung“ und“Kasimir und Karoline“ sind ebenfalls im Kanal eingestellt.Es fällt daher leicht, medial einen Zugang zu dem vielseitigen und meisttragisch-komischen Werk zu erhalten.
Verdichtung der Atmophäre
Wenn man die Bühenstücke (Volkstheater) von Horváth auf eine Eigenschaft reduzieren möchte, dann ist es die Verdichtung der Atmophäre durch eindrückliche Dialoge. Was vielleicht sonst in einem Leben passiert oder an entscheidenden Sätzen gesagt wird, geschieht hier im Minutentakt. Dass sein Sendungsbewsstsein gegen Dikatur, aber auch Spießbürger gerichtet ist, kann kaum übersehen werden. Der (aufgeklärte!) Bürger ist der Spießer, der Künstler hält sich nur für das Genie. Generell erscheinen die meisten Figuren in Illusionen und falschen Selbstwahrnehmungen gefangen.
Ein wiederkehrendes Motiv bleibt Einsamkeit. In „Der letzte Tag“ heißt es über den moralisch integren, wachsamen und loyalen Bahnhofswärter wegweisend im zweiten Bild: „Aber er war halt allein, mutterseelen allein.“ Weder kann er mit dem falschen Zeugnis der ihn liebenden, aber durch ihren Kuss die katastrophale Zugentgleisung erst auslösende Anna (ein Stereotyp in Horváths Namensgebung) seinen Frieden finden, noch ihren Suizid überwinden. Der einzig anständige Mensch in diesem Stück soll gelyncht werden; alle brauchen einen Sündenbock, weil einer am Ende schuld sein und diese Schuld bezahlen muss.
Nun sind Lokomotive, Suizid auf den Schienen und Zugentgleisung kein neues, sondern ein geradezu die moderne Prosa oder das Drama prägende Werke. Verwiesen sei exemplarisch auf „Bahnwärter Thiel“ (Hauptmann, 1888), „Bestie Mensch“ (Zola, 1890), „Anna Karenina“ (Tolstoi, 1877), „Die Frau des Bahnwärters“ (Ernst, 1916) oder „Stadionschef Fallmerayer“ (Jospeh Roth, 1933). Aber auch „Rauch“ (Turgenjew, 1867) oder „Im D-Zug dritter Klasse (Keun, 1937) spielen mit der Dynamik der Moderne, der Einteilung in Klassen durch Wagons und dem begrenzten Horizont durch den Fensterblick.
Die Uraufführung von „Der jüngste Tag“ fand in Mannheim 1980 statt, nahezu 50 Jahre nach Entstehen des Stücks. Im siebten Bild spricht der Bahnhofswärter, der durch einen unachtsamen Moment eine Weiche nicht gestellt und so die Zugentgleistung „verschuldet“ hat, mit den Toten. Anna, die sich, weil sie den Wärter umarmt, geküsst und damit verhängnisvoll ablenkte, bereits das Leben genommen hat, rät diesem, ihrem Weg nicht zu folgen: „Bleib, bleib leben, du!“ Die geschundene Seele findet daraufhin die Kraft, sich der Justiz zu stellen und einem höheren Gericht anzuvertrauen. Nahezu seine Schlussworte lauten: „Die Hauptsach ist, daß man sich nicht selber verurteilt oder freispricht.“
Foto Bernd Helmert: Fußgängerbrücke in Nienburg über die Weser, auch „blaues Wunder“ genannt. Fertigstellung 2000. Derzeit gesperrt. https://www.dieharke.de/lokales/nienburg-lk/nienburg/bauarbeiten-an-der-wesertorbruecke-in-nienburg-sperrung-monatelang-O2BPNPEX4VG67OZCWEQWE4NW2Q.html
Foto Bernd Helmert: Weserbrücke Nienburg. Nicht nur die Dresdner Carolabrücke, auch die Nienburger Schrägkettenbrücke stürzte ein. allerdings 1904, bedingt durch zwei durchfahrende Schiffe Etwa zu Luthers Anschlag der Thesen entstand die Vorgängerin, allerdings aus Holz. https://www.nienburg.de/portal/meldungen/archivale-des-monats-nienburgs-weserbruecken-902009665-21501.html Schon damals wurde falsch berichtet und desinformiert, um Versäumnisse zu verschleiern. Darum: Wer über die Lage der Nation (ihrer maroden Infrstruktur, dem Aufrüstungswahnsinn) nicht zweifelt, ist verrückt.
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