Ein halbes Pferd ist besser als gar keines

Foto Bernd Oei: Münchhausen-Skulptur im Münchhausen -Park, Bodenwerder. Der Bildhauer ist ein Russe und das Denkmal stammt aus dem Jahr 2008 aus dem Spirit „Dialogue of Cultures – United World“ – als Russland und Deutschland noch „freunde“ waren. Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen kam als Siebzehnjähriger an den Hof und diente im russisch-österreichischen Krieg um die Türkei unter Zarin Anna Iwanowa.

Gut gelogen ist halb wahr

Als Münchhausen-Trilemma wird ein philosophisches Problem bezeichnet. Es geht um die Frage, ob es möglich sei, einen „letzten Grund“ (im Sinne einer letzten Ursache bzw. eines unhintergehbaren ersten Anfangs) zu finden bzw. wissenschaftlich zu beweisen. Mitunter muss man der Wirklichkeit etwas nachhelfen, um die wirkliche Wirklichkeit, die Wahrheit dahinter zu begreifen. Übertreibungen können ein Mittel dazu sein, ebenso die subjektive Einbildungskraft oder eine Anekdote, die zwar erfunden ist, doch den Kern der Tatsachen illustriert.

Der Baron selbst war weder an der Veröffentlichung seiner für die unterhaltsame Konversation gedachten Anekdoten interessiert, noch brachten ihm die Prozesse gegen die Publikationen durch Rudolf E. Raspe kurz vor Ausbruch des Französischen Revolution, mehr als Schulden ein. Zum endgültigen Gespött machte er sich durch die Heirat mit einer 50 Jahre jüngeren Braut, die den Greis gehörig die Hörner aufsetzte und in einem Scheidungskrieg triumphierte.

Münchhausen (1720-97) verlebte einen Großteil seiner Jugend in Lettland, aufgrund des militärischen Berufs seines Vaters (den er als Kleinkind verlor) und der Verzahnung seines Landherren, dem Herzog von Braunschweig, mit Lettland und damit dem Zarenhof, in Riga. Rittmeister (Offizier) wurde er erstaunlich spät, erst kurz vor seiner Rückkehr genau in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Unter den Zuhörern seiner nach der Jagd veranstalteten Gesellschaftsabende befand sich jener Raspe, damals Museumsdirektor von Kassel, der durch einen Münzdiebstahl straffällig geworden, nach London ging und dort in der Publikation der erzählten Geschichten einen Markt erkannte.

Der Hunger nach solchen Erzählungen, wenn man so will dreisten Lügen, war groß. Fast zeitgleich erschienen auch Gullivers Reisen von Jonathan Swift und Jules Vernes „Geschichten „Reise zum Mond“ oder Stevensesons „Die Schatzinsel“ populär. Der Nerv war getroffen und der Leser lernte seinerzeit lieber über Lügen als über Fakten. Dies gilt vielleicht bis heute: besser gut erfunden als schlecht nacherzählt oder wenn es nicht gelogen ist, so entspricht es doch der Wahrheit. Denn eine Lüge ist es nur, wenn sie ihre Logik und damit ihre Anschaulichkeit verliert.

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Rathaus am Münchhausenpark , ehemals Geburtshaus von Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, 11.5.1720 bis 22.02.97. Erbaut wurde das Gebäude 1603; seit 1936 ist es Rathaus. https://www.weserbergland-tourismus.de/de/p/bodenwerder/55310202/

Kosaken müssen reiten

Münchhausens Ritt über den Bodensee – nein, eine Redensart, die nicht auf den (Lügen)Baron zurückgeht und doch in einem Atemzug mit dem Ritt über die Kanonenkugel kolportiert und daher ihm zugeschrieben wird. Als solche gilt eine verwegene Tat (die u.a. Nietzsche bewundert), bei der ein Held erst nach Vollendung der Tat reflektiert, in welche Gefahr er sich begeben hat. Sprichwörtlich steht es für Unkenntnis , Naivität oder Falschauslegung der tatsächlichen Verhältnisse. Die Ballade „Ritt über den Bodensee“ stammt aus der Feder des weit weniger bekannten Autoren Gustav Schwab, etwa ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der (insgesamt zwölf) Erzählungen, die Münchhausen zugeschrieben werden, aber aus der Feder von Raspe stammen.

Vielleicht gilt hier der Liedtext von Ivan Rebroff, den bis heute für einen eingedeutschen Russen halten, der in Wahrheit aber ein Berliner Jung war, der eine Marktlücke in den russischen Volksliedern erkannte und im Bass, begleitet von Balalaika-Klängen mit slawischen Akzent und Bärenfellmütze den Anschein erweckte, echter Russe zu sein: „Kosaken müssen reiten ihr ganzes Leben reiten, noch schneller als der Wind: weil sie dazu – geboren sind.“ Die Betonung liegt hier auf schneller als der Wind, einem Markenzeichen Münchhausens, der so feindlichen Kanonenkugeln und der Wahrheit entkam, somit die Lüge ins Ziel rettend.

Foto Bernd Oei: Münchhausens Geburtshaus respektive heutiges Rathaus Bodenwerder, Detail. Bodenwerder (4600 EW) liegt im Landkreis Holzminden (dem Geburtsort von Wilhelm Raabe) und 23 km Straßen- bzw. 54 km Radweg südlich von Hameln. Jeden Sonntag gibt ein Laientheater eine Vorstellung über Münchhausen. Von hier aus beginnt der Rundgang. https://www.muenchhausenland.de/portal/seiten/sehenswuerdigkeiten-900000047-25640.html

Links von der Lüge liegt die rechte Wahrheit

Die größte Lüge ist immer die, die man selbst glaubt, der man aufsitzt oder die man sich selbst erzählt, also die Lebenslüge. Wieso so viele Menschen dies bis heute tun, selbst wenn sie sich zu den Klügeren oder gar den Wahrheitsaposteln zählen, ist nicht immer leicht zu verstehen und noch weniger zu begreifen. Es fällt bekanntlich leichter, der glaubwürdigen Lüge zu vertrauen, als auf eine unglaubliche Wahrheit zu bauen. Zudem (ver)kleidet sich die Lüge wie des Kaisers Kleider besser und erscheint angenehmer, plausibler oder moralischer als die wirkliche Wahrheit. Sofern es eine unwirkliche Wahrheit gibt, so beruht diese auf Einbildungskraft und subjektiver Überzeugung.

Wenn man bemerkt, dass eine Hälfte fehlt zum großen Ganzen, das wir hier als Wahrheit bezeichnen (die zumindest temporär, nicht absolut vorliegt), ist es nicht jedem gegeben, offen, frank und frei diese Erkenntnis mit allen Konsequenzen zu tragen, also sich und dem anderen einzugestehen. Mitunter verfällt der eine in Rechtfertigungsmuster und der andere sucht und findet Gründe, die fehlende Hälfte neu zu erfinden. Alles was links vor dem „aber“ gesagt wird, ist eine rechte Lüge, die durch die Kontradiktion sowohl widerlegt als auch eingeschränkt zu werden vermag.

Ich habe mich geirrt, aber in Grunde doch das Rechte gewollt, getan, gedacht. Im Idealfall nennt man dies Resilienz. So beinhaltet das Attribut „Wahre Geschichten“ allein durch das Postulat bereits ein Narrativ. Raspe bediente sich dieses Oxymoron, denn Geschichten sind nie wahr, sondern kolportierte Interpretationen der Geschichte, als er einen Titel zu Münchhausens Anekdoten suchte. Zudem verschwieg er wohlweislich den eigenen Namen. Auch der Titel „Wunderbare Reisen“ verweist ins Märchenland, doch finden die meisten es wunderbar, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.

Foto Bernd Oei: Münchhausen-Brunnen mit dem halben Pferd aus Weser-Sandstein vor seinem Geburtshaus, 1962/63 von von Bruno Schmitz (1858 Düsseldorf – 1916 Charlottenburg) zum Anlass der Stadtgründung vor 675 Jahren. Text: http://www.nimm-drei.net/tom/hausaufgaben/06-07-Litauerpferd-Kanonenkugel.pdf

Etwa hundert Geschichten von Münchhausen sind kolportiert. Der Autor reiht sich damit ein in die Tradition der Parodisten von Eulenspiegel (Gtrüninger) über den Riesen Pantagurel (Rabelais) und Don Quijote (Cervantes) bishin zu Gullivers Reisen (Swirft), die der kannte. Über Mnchhauisens VErhältnis zur Philosophie ist wenig bekannt, doch sah er sich als Aufklärer. Insofern dürfte auch er Diderots Rede, die Künstler von heute müssten Zwerge auf den Schultern von Riesen sein, in sich aufgenommen haben. Der Rittmeister liebte Pferde, tolldreiste Übertreibungen, aber er blieb der mündlichen Überlieferung (Reportage) verpflichtet. Er gab sich mit halben Wahrheiten zufrieden und überließ es seinem Publikum sich die andere Hälfte zu suchen.

Die zeitgenössische Philosophin Tina Breckwoldt begibt sich auf Spurensuche, gräbt längst verschollene Kulturschätze aus und versammelt die unglaublichsten Flunkereien. Auf diese Weise entfaltet sich eine facettenreiche Geschichte, nicht nur des Lügenbarons, sondern der Lüge schlechthin, um die Wahrheit über das Lügen oder gar die Wahrheit in der Lüge herauszufinden.

Foto Bernd Oei: Münchhausen, das halbierte Pferd von Bruno Schmitz. https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Schmitz . Das Hinterteil des halben Pferdes steht am Dampferanleger an unserer Weserpromenade.

Lüge haben eine lange Geschichte

Die Entscheidung, ob es sich bei einer Aussage um eine Lüge handelt oder nicht, hat nichts mit dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu tun. Beispielsweise ist es denkbar, dass jemand einem Politiker eine Affäre andichtet, um ihm zu schaden. Jahre später gibt der Politiker tatsächlich zu, eine Affäre gehabt zu haben. Dennoch hat die Person gelogen, wenn sie nichts davon wusste. Eine Lüge besteht also dann, wenn man bewusst etwas sagt, von dem man annimmt, dass es falsch ist und nicht wenn man etwas unwissend oder gar noch in fester Überzeugung, dass es stimmt, in Umlauf bringt.

Lars Svendson schrieb in der Corona-Zeit ein Buch mit dem irreführenden Titel „Philosophie der Lüge“, da es ihm um die Geschichte derselben, einer Art Genealogie der Lüge geht und um Aufklärung bzw. Klärung der Begriffe, die im Kontext zu Wahrheit und Lüge stehen. Unter anderem geht er auf die weniger belasteten, durchaus subjektive Wahrhaftigkeit ein, die Nietzsche anstelle der objektiven, teilweise verabsolutierten Wahrheit, anführt. https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-philosophie-der-luege/2090469

Ein Pferd von hinten aufzäumen bedeutet in der Regel, etwas falsch zu machen, die Prioritäten außer Acht zu lassen. Mit anderen Worten, sich einer verkehrten (vielleicht aber überzeugenderen) Logik zu bedienen. Es ist zudem ein geflügeltes Wort für Besserwisserei, so wie es schon Luther anführt.

Angesichts seines langjährigen Dienstes bei der Kavallerie vermag es kaum zu erstaunen, dass vier der Münchhausen – Anekdoten mit dem Pferd einhergehen. Eine davon betrifft das geteilte Pferd. Münchhausens Pferd wird durch ein Torgatter zweigeteilt. Während der Baron unwissend mit der vorderen Hälfte zur Tränke reitet, vergnügt sich die hintere auf der Wiese mit Stuten. Volltext unter: http://www.hs-ostermiething.at/hso/images/SJ_2019_20/Coronavirus/lernplattform/2a/D_Herrmueller/Plan304/Das_Zerteilte_Pferd_-_Text_Kopie.pdf

Das Schöne daran: Wunden verheilen schnell. Eine Lüge ist rasch vergessen oder wenigstens verziehen, wenn sie vordem ihren Zweck erfüllt hat. Dazu gehört auch beste Unterhaltung. Sichtpunkt Infotainment.

Foto Bernd Oei: Münchhausen-Skulptur Bodenwerder, ergänzendes halbes Pferd an der Weser von Bonifatius Sirnberg, 1997. https://de.wikipedia.org/wiki/Bonifatius_Stirnberg.

Wer einmal lügt, den glaubt man gern nochmal

Alle Dichter lügen, schreibt Nietzsche und da er selbst zu dieser Zunft zählt, spricht er (doppelte Verneinung) schon wieder die Wahrheit. Lügen muss man lesen können, behauptet zumindest die zeitgenössische und mit mir gleichaltrige Philosophin Bettina Stangneth aus Lübeck in ihrem fast gleichnamigen Buch „Lügen lesen“. Der Autorin geht es um die Strategien und Verwertbarkeit von Lügen, die offensichtlich gewollt und nur von Menschenhand in die Welt gesetzt werden – alle anderen Tiere lachen nicht und lügen noch weniger. Für die menschliche Entwicklung stellen sie ein unverzichtbares Gut dar. Der Fokus rückt dabei rasch auf die Zuhörer und Leser, die belogen werden wollen. https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-der-luege-die-luege-ist-anti-aufklaerung-100.html

Die Aktualität belegt, dass man Politiker gerne ein zweites und drittes Mal wählt, obwohl ihre Aussagen sich als falsch oder gar dreist herauskristallisiert haben. Im Sinne von „Wir schaffen das“ konnten Kohl, Merkel und Co schalten und walten und im Sinn von Pistorius darf weiter wild geschossen werden. Die offensichtlichen Lügen werden kurz demaskiert, à la Lautersack als Kleinigkeit oder Randnotiz nivelliert und Fakten einfach weg moderiert. Weiter so, gegen die Wand und allen Verstand Schulden akkumulieren und Demokratie eskamotieren, der Feind steht immer rechts und rechts ist immer der andere. Drei Buchstaben, ein Symbol für Faschismus, vorher waren es halt fünf, das ist jetzt leichter zu merken, besonders für die Analphabeten im Lande, die zunehmend wachsen im Zeitalter des Schrumpfens. Alles Lüge? Oder vielleicht doch Verschweigen und Umbiegen von bekannten Tatsachen, was auf Lüge im Volksmund hinausliefe. Übrigens ohne Witz, dem positiven Begleiter der Lüge. Münchhausens Geschichten sind komisch und grotesk, so dass niemand auf die Idee käme, sie für bare Münze zu halten. Der Witz liegt im Kontrast zwischen der Handlung und dem Tonfall, dem lakonisch-nüchternen Erzählen.

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, das halbe Pferd, die andere Hälfte. Münchhausen ritt mit seinem Pferd durch das Festungstor des Feindes, als dieses plötzlich hinunter fiel und das Pferd halbierte. Mit dem Vorderteil ritt Münchhausen dann zum Marktbrunnen und lies es dort trinken. https://www.weserbergland-tourismus.de/de/poi/denkmal/ergaenzendes-halbes-pferd/21735996/

Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden

„Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ , ein früher Aufsatz Nietzsches (1873) wurde über 20 Jahre, als der Philosoph bereits paralysiert vor sich hin dämmerte und vier Jahre vor seinem endgültigen Ableben von seiner (unsäglichen, völlig ungebildeten) Schwester veröffentlicht.Unter anderem impliziert es Sprachkritik. Er hat nach seinem späten Bekanntwerden vornehmlich Dichter beeinflusst und die Bedeutung fiktiver bzw. konstruierter Wirklichkeit (poetischer Realismus, Naturalismus) akzentuiert . Der in zwei Abschnitte eingeteilte Essay beginnt mit dem Eingangssatz „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden“ U.a. ist der volle Text einzusehen unter https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/essays/wahrheit.html

Der Beitrag enthält viele Leitmotive Nietzsches. Der weitaus häufigste zitierte Absatz betrifft das Heer von Metaphern mit Verweis auf Polysemantik. „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“

Wahrheit bzw. Lüge im außermoralischen Sinn durchzieht nahezu alle Texte und Gedanken des Philologen. U.a. heißt es in „Genealogie der Moral“, einem seiner letzten Schriften vor dem geistigen Zusammenbruch „Mit dem Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich und wenn der Mensch es dabei gar zu menschliche treibt — ich wette, er findet nichts.“

Nietzsche erwähnt Münchhausen in sechs seiner Briefe http://www.nietzschesource.org/#eKGWB und in „Jenseits von Gut und Böse“ sogar im Werk selbst : (Erster Abschnitt, Von den Vorurteilen der Philosophen, 21): „Das Verlangen nach „Freiheit des Willens“, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs „freier Wille“ und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine „Aufklärung“ noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs „freier Wille“ aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den „unfreien Willen“, der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft.

So hat die Wahrheit, ohne sie je vollkommen zu erkennen oder gar zu besitzen, mehrere Seiten und mindestens zwei Hälften. Sie gleicht daher durchaus einem aufgeschnittenen Leib samt Introspektion und Vivisektion. Es gibt einen starken und einen schwachen Willen zu ihr, gleichzusetzen mit der Lust zu Erkennen und Freiheit (Unabhängigkeit der Meinungsbildung) und ihrem genauen Gegenteil.

Foto Bernd Oei: Das halbe Pferd, Bodenwerder an der Weser bei km 110 (insgesamt Länge 452 km) mit Weserbrücke (165 m) im Hintergrund. Bodenwerder liegt rechts der Weser, die hier selten mehr al 1 m Tiefe aufweist. An dieser Stelle stand auch die erste Holzbrücke im 13. Jahrhundert. https://www.komoot.com/de-de/smarttour/3048229

Lügen als Brückenbauer

„Ein Lied kann eine Brücke sein“, so sang einst Katja Ebstein, gleichfalls Berlinerin., gleichwohl in Schlesien geboren, zudem eine gebürtige Überall. Auch Dichtung, hier die Münchhausens, schafft es, die Kluft zwischen den Polen zu überbrücken. So etwa den Antagonismus von Himmel und Erde mitsamt seinen physikalischen Gesetzen, wenn er seine Axt auf den Mond wirft, um ein Seil daran zu befestigen, an dem er sich hochzieht zum fernen Planeten. Mehrere Natürlichkeiten überspringend, gelangt ausgerechnet er über eine Bohnenranke so zum Ziel. Münchhausen bedient sich Literaturverweise, in diesem Fall einem englischen Märchen und generell poetischer Vorgaben, die seit der Antike metaphorisch Wahrheiten einkleiden und Moral vermitteln. Von sprechenden Tieren und metaphysischen Utopien, die Menschen erziehen zu einem vermeintlich besseren Verständnis ihrer Mit- und Umwelt.

Brücken erfüllen ihren Zweck. Dies gilt auch für die Lügenbrücke auf Sylt, die Schutz vor Hochwasser bietet. https://www.sylt.de/poi/luegenbruecke. Und wie sagt Nietzsche so treffend in „Die Geburt der Tragödie “ (§21): „Wir mögen die Gestalt uns auf das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke gibt, die in die wahre Realität, in’s Herz der Welt führte.“ Zudem spricht er von einer Brücke von Genie zu Genie und nur Narren könnten Münchhausen Unlauterbarkeit vorwerfen. Was Nietzsche an Münchhausen inspiriert haben könnte ist der Kern seiner Erzählungen: jemand schafft es durch eigenes Geschick und Willen, sich buchstäblich aus einer verfahrenen Situation zu befreien.

Foto Bernd Oei: Weserbrücke in Bodenwerder. Historische Bilder unter https://bodenwerder-damals.de/bau-der-nato-bruecke-in-bodenwerder/

Wo ein Schopf, da ein Schopenhauer

Über das Verhältnis zu Nietzsche und Pferden muss man angesichts der legendären Droschken- Anekdote – seinen Zusammenbruch beim Anblick eines vom Kutscher geprügelten Gauls (das Leben erfindet doch die besten Geschichten) kaum berichten. Auch sein Lehrmeister Schopenhauer bedient sich des Barons, um auf die Macht der Vorstellung und die des Willens hinzuweisen. Nicht von ungefähr lautet der Titel seiner, vornehmlich gegen Hegel gerichteten Streitschrift „Welt als Wille und Vorstellung“. Dass wir die ‚Welt nie so wahrnehmen, wie sie an sich ist, scheint unzweifelhaft bewiesen. In einer komischen Schrift, der eristischen Dialektik darüber, wie man mit „mit erlaubten und unerlaubten Mitteln“ Recht bekommt (Recht ist, was gefällt) lautet: „Die Kunst recht zu behalten“ und handelt von dem Problem, das Gerechtigkeit und Recht offensichtlich bis heute trennt. Der entscheidende Satz lautet „Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, dass man recht behält“. Die objektive Wahrheit existiert auch für ihn nicht. Eine Einführung bietet: https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-kunst-recht-zu-behalten/21254

Aber auch in seiner vielleicht schwierigsten zu lesenden Schrift über den SAtz von Grunde „So sehe ich meinerseits in causa sui nur eine contradictio in adjecto, ein Vorher was nachher ist, ein freches Machtwort, die unendliche Kausalkette abzuschneiden, ja, ein Analogon zu jenem Oesterreicher, der, als er, die Agraffe auf seinem festgeschnallten Schacko zu befestigen, nicht hoch genug hinaufreichen konnte, auf den Stuhl stieg. Das rechte Emblem der causa sui ist Baron Münchhausen, sein im Wasser sinkendes Pferd mit den Beinen umklammernd und an seinem über den Kopf nach vorn geschlagenen Zopf sich mit sammt dem Pferde in die Höhe ziehend; und darunter gesetzt: Causa sui.“ (Schopenhauer, Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom vierfachen Grunde, § 8) https://www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de/Satz-vom-Grunde/satz-vom-grunde.html

Wie man sich mit den eigenen Haaren und noch dazu andere aus einer ausweglosen Situation befreit, davon handelt eine weitere der insgesamt vier Pferde- Geschichten des „Lügenbarons“, die mit den Worten endet „Es ist manchmal ganz nützlich, kräftige Muskeln zu haben.“

Foto Bernd Oei: Münchhausen-Skulptur im Münchhausen-Park. Bronze-Skulptur (800 kg) in Bodenwerder zur Erzählung Münchhausen zieht sich am Schopf mit seinem Pferd aus dem Sumpf, Werk des Bildhauers A. J. Orlow aus Moskau, 2008. Ein Sinnbild für Selbsthilfe. Der Baron behauptete, in einer schwierigen Situation gefangen zu sein und sich samt seinem Pferd am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen zu haben. https://www.leifiphysik.de/mechanik/kraft-und-bewegungsaenderung/aufgabe/muenchhausen-im-sumpf.Das Original steht in Moskau seit 2005 nahe dem Trampolinpark nahe der Moskwa.

Empfohlene Beiträge

Noch kein Kommentar, Füge deine Stimme unten hinzu!


Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert