Rezension Der ewige Spießer, Ödön von Horváth, Theater auf dem Hornwerk, 4.11. 2024, 20-22.30 Uhr
Foto Belinda Helmert: Programmheft in festen Händen, freigiebig in Umlauf gebracht, ausgiebig informativ und ergiebig in der Unterhaltung.
Teil 2, Szene 8: „An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja, es war gar nicht so häßlich, es war eigentlich nichts. Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung.“
Episches Theater
Vorweg: es handelt sich um die Adaption eines Romans von Ödön von Horváth aus dem Jahr 1930. (https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110704310-111/html). Der in Kroatien geborene, in Budapest aufgewachsene polyglotte Schriftsteller der k u k Monarchie (https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/die-doppelmonarchie-zwei-staaten-einem-reich) lebte zu dieser Zeit am Schauplatz seiner Handlung, in München, Schellingstraße, Maxvorstadt (https://www.muenchner-spaziergaenge.info/blog-schellingstrasse.html). Episches Theater an der Weser.
Foto Belinda Helmert: Theatergänger im Zwiegespräch und Erwartung im Nienburger Theater-Foyer auf dem Hornwerk, dem Wartesaal der Hoffrnung.
Der Regisseur
Verantwortlich für das buchstabengetreue „Schauspiel“, das seine Premiere im Großen Haus des Theaters Hildesheim am 1. September 24 feierte, zeichnet Michael Stacheder (https://michaelstacheder.com/). Stacheder (1980), in Bad Aibling bei Rosenheim (dort gebürtig) wohnhaft brachte u.a. Stefan Zweigs „Stimmen aus der Welt von Gestern“ und Franz Kafkas „Briefe an Milena“ als Lesung auf die Bühne. Er gründete das Junge Schauspiel Ensemble München, das anspruchsvolles Literaturtheater in Gastspielform anbietet. Darüber hinaus ist Stacheder seit 2017 mit Inszenierung von Opern vertraut und bettet gerne ein Musikstück in das Sprechtehater ein, wie im Fall von „Der ewige Spießer“ eine vertonte Lyrik Rilkes, die auch im Original inkludiert ist.
Seine Gedanken, vorgetragen in der Einführung vor dem Stück und im kostenlos verteilten Programmheft, sind auf der Homepage unter „Was sind wir alle Bestien“ https://michaelstacheder.com/2024/09/01/was-sind-wir-doch-fur-bestien/) nachzulesen. Ihr Schlusssatz verweist auf die Aktualität der Tragikomödie: „Hass und Hetze vergiften zunehmend ein offenes und demokratisches Miteinander.“
Der aus der Weltwirtschaftskrise als Folge des Black Friday, September 1929 in der Weimarer Republik spielende „Der ewige Spießer“ ist bereits das zweite Horváth-Projekt von Stacheder. Zwei Jahre vorher inszenierte der Regisseur das Monodrama „Ein Kind meiner Zeit“, allerdings nicht für das Hildesheimer, sondern für das Erzgebirgische Theater. https://michaelstacheder.com/theater/schauspiel/der-ewige-spiesser/.
Foto Belinda Helmert: Seitenansicht zur Nienburger Bühne und Orchestergraben sowie aufsteigende Ränge. Das Theater gilt als eines der best besuchtesten in ganz Deutschland, obwohl oder weil es ausschließlich auf Gastspiele setzt. https://www.dieharke.de/lokales/nienburg-lk/auf-dem-hornwerk-ist-seit-jahrhunderten-theater-NX4U3DU34HP3WYVYNUCUEJ6IGV.html
Darsteller, Rollen
Sieben Schauspieler schlüpfen in diverse (mitunter sechs) Rollen, um den zahlreichen Nebenfiguren gerecht zu werden. Die drei Hauptrollen verkörpern dabei Nina Carolin, Manuel Klein und Ole Riebesell wohltuend unkapriziös. Carolin (https://www.filmmakers.eu/de/actors/nina-carolin) haucht der Romanfigur Anna Pollinger, „eine Durchschnittsfigur und ein Durchschnittsgesicht, nicht unangenehm, aber auch nicht hübsch, nur nett“, wie es in der Begegnung mit ihrem untreuen Liebhaber Alfons Kobler (Erster Teil, 7. Szene, https://www.projekt-gutenberg.org/horvath/spiesser/chap001.html) heißt, Leben ein. Wie ihre Kollegen tut sie dies unaufgeregt mit klarer Artikulation, den Text würdigend und nicht wie im Regietheater üblich, verfremdend. Da Horváth nur wenig Dialoge einstreut, sprechen andere ihre Beschreibung, Situation oder Gedanken; nur die eigenen ausformulierten Sätze Annas bleiben ihr überlassen. Ihre ursprüngliche Nebenfigur als von Kobler Verlassene, aus der die Geldnot ein „Mistvieh“ (Prostituierte) macht, wird erst nach der Pause tragend.
Der erste Teil (im Roman Herr Kobler wird Paneuropäer) steht im Zeichen von Alfons Kobler, der personifizierte „ewige Spießer“ (Opportunist). Darsteller Manuel Klein (https://www.theapolis.de/de/profil/manuel-klein-1) verkörpert den skrupellosen Autohändler, der im Grunde mit allem zu handeln, zu schachern versteht und sich je nach Vorteil mit jedem/jeder einzulassen und bei nächstbester Gelegenheit wieder zu verlassen vermag. Am Ende jedoch muss das menschliche Chamäleon einsehen, dass es gegen reiche Amerikaner so machtlos ist wie die paneuropäische Idee ohnmächtig gegenüber ihrem Kolonisator.
Auch die Besetzung des arbeitslosen Kellners Eugen Reithöfer mit Ole Riebesell (https://www.landestheater-eisenach.de/personen/ole-riebesell.html) ist stimmig. Glaubhaft verkörpert er das nette, das humane „Mistvieh„, das trotz Enttäuschung und nach der ökonomischen Ausbeutung die Selbstlosigkeit entdeckt und Anna Pollinger einen Job als Näherin, damit die Chance auf ein anständiges Leben, besorgt. Seine letzten Worte an sie lauten: „es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, und das ist halt die menschliche Solidarität.“ (Teil 3, Szene 6) https://www.projekt-gutenberg.org/horvath/spiesser/chap003.html
Foto Belinda Helmert, Szene aus „Der ewige Spießer„, Koblers Bordellbesuch in Marsaille auf dem Weg nach Barcelona zur Weltausstellung und vor der Begegnung mit der „falschen Ägypterin“ und Sphinx, Frau Regimor, die sich auf ihre Weise durch Einheirat und Mitgift standesgemäß prostituiert.
Zwei Abschnitte: vor und nach der Pause
Koblers Auftritte, seine Reise nach Barcelona und zurück, dominieren das Stück vor der Pause, die Szenen 1- 26. Da die beiden folgenden Romanteile (11 bzw. 6 Szenen) kürzer sind, werden sie folgerichtig im zweiten Akt zusammen gelegt . Bevor der Vorhang fällt, tragen sich die Szenen bedingt durch seine Zugreise nach Barcelona, an verschiedenen Orten zu. Die Gespräche handeln auch von vermeintlich großer Politik.
Die Bahnfahrt Koblers, durch den überteuerten Verkauf des Schrott-Cabrios seiner abgelegten Geliebten an einen Käsehändler zu Geld gekommen, beginnt und endet verarmt in München, Schillerstraße. Aus der aussichtsreichen Partie mit einer reichen „Ägypterin“, die sich als deutsche Industrietochter erweist, wird nichts. Die Weltausstellung in Barcelona widerspiegelt Koblers Mikrokosmos. Am Ende sieht auch er ein, „dass wir einem neuen europäischen Weltbrand entgegentaumeln.“ ( Erster Teil, 26. Szene). https://www.projekt-gutenberg.org/horvath/spiesser/chap001.html
Der Teil nach der Pause legt die Kapitel zwei (Fräulein Pollinger wird praktisch) und drei (Herr Reithofer wird selbstlos) aus dem Roman Horváths zusammen, ohne etwas an deren Reihenfolge zu ändern und lässt nur wenige Szenen weg. Hier begegnen sich die arbeitslose Näherin (und Gelegenheitsmodell für Maler Aichinger) Anna Pollinger, vom Leben, den Männern enttäuscht und auf dem Weg zu einem gefallenen Mädchen und der seit langem arbeitslose Kellner Eugen Reithöfer. Die Sehnsucht, aus der Einsamkeit und der wirtschaftlich bedingten Monotonie des Alltags auszubrechen, überwiegt. Fast alle Szenen spielen sich direkt in München ab; als kleines Barcelona muss der Ausflug zum Starnberger See herhalten.
Die Inszenierung ist deshalb gelungen, weil auf Effekte bis auf die rochierende Drehscheibe (ein von den Mimen von Szene zu Szene bewegter „Bus“) verzichtet wurde. Die Kostüme dienen der Kenntlichmachung von Rollen, die Stimmen, welche den Roman nahezu 1:1 wiedergeben, wurden umsichtlich auf diverse Darsteller verteilt. Der erste Teil enthält Politik und Zeitgeschichte, der Vorhang fällt und alles ist beim Alten – Dialektik des Stillstands. Symbol für den Irrsinn des überall Mitreden-Wollens und der Einsamkeit, weil sich das Subjekt in der Masse verliert: Kobler, der als paneuropäisch gelten möchte, kauft fremdsprachige Zeitungen, die er nicht versteht und sehnt sich doch nach einem Menschen, mit dem er deutsch reden kann.
Foto Belinda Helmert: Drehbarer Wagon, Bühnenbild zum Übergang von Szene zu Szene und Abbild der Beschleunigung/Stagnation durch die Mobilität. Verantwortlich zeichnet hierfür Moni Gora.
Spießer, Bestie, Mistvieh
Spießer, Bestie, Mistvieh – Wenn man so will, so enthält das Stück drei Schlüsselbegriffe Horváths, die zeitlose Charaktertypen verkörpern. Der Typus des alten Spießers, an dem man gewöhnlich denkt, wird von ihnen bereits verlacht. Alfred Kobler erscheint seinen Mitmenschen, besonders den Frauen, sympathisch; unter der gefälligen Larve entpuppt er sich jedoch als gedankenlos bzw. als Epigone, als Trittbrettfahrer und Egoist. In den Eingangsworten des Autors handelt es sich um einen Hypochonder, der bereit ist „sich überall feige anzupassen und jede neue Formulierung der Idee zu verfälschen, indem er sie sich aneignet.“
https://www.projekt-gutenberg.org/horvath/spiesser/titlepage.html
Den Roman widmete der polyglotte Horváth (1901-38) seinem Freund und Kollegen Ernst Weiß (1882-1940), der zehn Jahre nach der Publikation des „ewigen Spießers“ Suizid beging, teils aus Furcht vor den immer näher kommenden und von Sieg zu Sieg eilenden Nationalszozialisten, teils aus Einsamkeit, dem Leitmotiv des Romans. Denn aus Einsamkeit treffen Menschen falsche Entscheidungen, verbittern, verrohen. Wenn die Situation erdrückend wird, sei es durch Inflation, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit oder permanente Ablehnung und Missachtung, können aus traurigen oder verzweifelten Menschen Bestien entstehen. Selbstironisch kommentiert der Autor, derm bei einem Blitzeinschlag in einer Eiche, unter der er Schutz suchte, verstarb: er liefere „Beiträge zur Biologie des werdenden Spießers“ , einem moralischen Ungeheuer.
Foto Belinda Helmert: Nächtliche Baumgruppe vor illuminierten, verglasten Theater auf dem Hornwerk. https://www.architektur-bildarchiv.de/image/Theater-auf-dem-Hornwerk-NienburgWeser-69548.html
Nicht als Bestie, doch als Mistvieh wird Anna bezeichnet: sie verkörpert das gefallene Mädchen, das an den Umständen situativ verzweifelt, resigniert und nicht mehr länger nur Opfer sein will. Dabei nimmt sie das erste Mal Geld für ihren Körper, weil sie sich schämt, für ein Schnitzel mit Gurken und eine Fahrt im Sportwagen sich hergeben zu müssen.
Symbolisch denkt Anna Pollinger, fasziniert vom Automobil (wieder einem Cabrio), den sie wie alles an diesem Abend, inklusive dem Fahrer Harry als wunderbar empfindet – „sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem.“ (Teil 2, Szene 9), der wahre Mensch beginne doch erst mit einem wunderbaren Automobil. Ebenso symbolisch erscheint ihr Aus- und später Verführer Harry, Sohn eines Schweinemetzgers und der sich ihr gegenüber viehisch benimmt . Symbolisch ist die Fahrt zum Starnberger See, wo König Ludwig ertrank bzw. ermordet wurde. Symbolisch, dass ein spendiertes Schweineschnitzel mit Gurkensalat (Reprise des Essens mit Kobel vor dessen Abreise nach Barcelona) nicht nur den hungrigen Magen einer arbeitslosen Näherin füllen, sondern auch das Anrecht des Metzgersohnes auf weibliches Fleisch zu verbürgen scheinen. Doch wie man bereits aus der Episode mit Kobel weiß, das Weib ist halt eine Sphinx, mit der selbst Psychologen nicht klarkommen. Daher muss Fräulein Pollinger auch praktisch werden: um zu überleben sich verkaufen, wie alle anderen auch. Sie wird ungewollt zu einem Mistvieh, biblisch eine Sünderin, einer Bestie. so zumindest empfindet sie Reitlinger.
Foto Belinda Helmert: Emblem des Weserschlösschen nahe des Theaters am Hornwerk, nächtlich einer Teufelsfratze anmutend.
Einsamkeit, Regen, Fluss
In diesem Zusammenhang (Zweiter Teil, Szene 8) erklingt zum ersten Mal das Lied „Einsamkeit“ von R.M. Rilke, welches Hováth in seinen Roman integriert. „Die Einsamkeit ist wie ein Regen“ lautet die erste Zeile, „dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen“ der Schlussvers der zweistrophigen Poesie aus dem „Buch der Bilder“
https://www.rilke.de/gedichte/einsamkeit.htm
„Ein selbstloses Mistvieh ist. Es ist ein liebes, gutes, braves Mistvieh.“ Mit dieser Selbstaussage Reitlingers, menschlich tief enttäuscht von Annas sich spät zeigender Prostitution (sie hat ihn sein letztes Geld für einen Kinobesuch aus der Tasche gezogen), endet das Stück. Der etwas naiv von einer besseren Welt und Frieden träumende Kellner ist mehr von Annas Kälte angewidert, während er doch an Liebe ohne Gegendienst glauben will, obschon ihm die Genugtuung seiner moralischen Größe auch eine Selbstbestätigung ist. Zugleich erscheint Selbstlosigkeit als einziger Ausweg aus der Einsamkeit.
Foto Belinda Helmert: Lücken im Publikum bei der Einführung. Das Nienburger Theater fasst seit 1989 626 Plätze, die steil aufsteigen. Obschon gut besucht, erscheint es bisweilen nahezu verwaist.
Moralische Verwahrlosung
Summa summarum bleibt eine verkehrte Verpuppung, die vom schönen Schmetterling in eine hässlich anmutende Raupe (wobei diese moralische innere Leere vermeint) handelt. Nicht untypisch für die moderne Zeit tritt der „ewige Spießer“ in Gestalt des Automobilverkäufers auf ,der nur eine gute Partie machen möchte und ohne Anstrengung durchs Leben zu kommen versucht und dabei seine eigenen Charakterschwächen ebenso wie die Gedankenlosigkeit immer zu rechtfertigen weiß. Sein Pendant besteht in dem Metzgersohn Harry, der nicht nur ein äußerlich ähnliches Auto fährt, sondern die zurückgelassene Geliebte Anna mehr oder weniger vergewaltigt und ausnutzt.
Die zweite Metamorphose von einem Rind- zu einem Mistvieh durchläuft eine Frau, die allerdings nicht geschlechtlich festgelegt erscheint (weshalb auch Männer in die Rolle der Prostituierten in Marseille schlüpfen). Anna Pollinger, vaterlos und im Schatten ausbleibender mütterlicher Zuneigung aufgewachsen, verliert ihre Identität schrittweise wie den Job. Sie ist durchaus eine Chiffre der ökonomischen oder sozialen Ausbeutung, zugleich primär ein Modell wider Willen, das sich auszieht und verkauft, während sie sich noch für van Goghs Malerei interessiert und „den Nabel Buddhas“ sucht – allerdings im Atelier des Kupplers und Pseudo-Malers Achner.
Das Mistvieh, das keine Bestie (wenn man die femme fatale oder die promiskuitive Seele so bezeichnen möchte) sein will, sondern an Solidarität und Werten festhält, damit auch ein Held wider seiner Zeit, ist der Kellner, den keiner will: den unscheinbaren Reitlinger, den man zudem verwechselt und der genau wie Kobel einen geliebten Menschen im Krieg verliert, aber andere Schlüsse daraus zieht: während der Autohändler partout kein Pazifist sein will, sorgt sich der arbeitslose Ober um den Frieden. Da wir alle nicht an der großen Schraube des Weltgeschehens beteiligt sind, muss man sich, so die horváthische Lehre, mit Nächstenliebe, Anstand, Solidarität behelfen.
Foto Belinda Helmert: verwaistes Foyer vor der Vorstellung „Der ewige Spießer“. Die meisten Gäste befinden sich an der Gardrobe oder an der Bar.
Deutung
Eine Interpretation bzw. Analyse des Romans liefert https://lektueren-verstehen.de/%C3%B6d%C3%B6n-von-horv%C3%A1th/der-ewige-spie%C3%9Fer/ Bei der Motivsuche wird auf die Bildungsreise (hier eine Anti-Bildungsreise) verwiesen, und auf das Thema Dummheit, welches politisch den Nährboden für den Nationalsozialismus bildete. Exemplarisch sei auf die Metapher „Flügel der Verblödung“ (Teil 2, Kapitel 8) verwiesen. Neben politischen und sozialen sowie ökonomischen Verhältnissen des Klein- und Mittelstandes, die alle vom Aufstieg träumen oder vom privaten kleinen Glück, erscheinen das Patriarchat und der Kapitalismus als Angeklagte. Die Verrohung der Sitten, unmerklich, auf leisen Sohlen, erscheint unaufhaltsam. Wenn alle nur zuschauen und meinen, um dazugehören zu können, muss man eben hobeln, so dass Späne fallen, dann entsteht krummes Holz und am Ende ist jeder für sich allein, weil ja keiner dem anderen helfen hat wollen.
Nicht zufällig reist der vorher nie über die Grenze, den Tellerhand seines geistig minimierten Horizontes, hinauskommende Kobler Alfons über viele Länder nach Spanien, um dort den Stierkampf zu bestaunen, wobei er im Nachhinein an den getöteten Stier erinnert, während der Amerikaner als Matador erscheinen muss. Die Corida, das Spektakel an sich, bildet wiederum eine Chiffre für das Schlachtfeld Mensch. Darüber hinaus kennzeichnet es die Gier des Zuschauers nach Blut und Sensation. Die Felder Politik (Kolonien) und Psychologie (betrogene Menschen) überkreuzen sich: am Ende gewinnen die Amerikaner gegen Europa und ein Millionär aus Texas gegen den aufstrebenden Sportwagen-Casanova.
Kobler reist ungewollt nach Barcelona, um auf der Weltausstellung Opfer seiner eigenen Strategie zu werden: eine Zugbekanntschaft, die reiche Frau Rigmor, von der er glaubte, sie bereits erobert (kompromittiert) zu haben, um von ihr als Ehemann ausgehalten zu werden, heiratet einen noch reicheren Mann, in erster Linie, um selbst dem dolce vita frönen zu können. Materialismus pur: kleine Haie werden von den großen geschluckt.
Foto Belinda Helmert: Lüster aus Muranoglas im Nienburger Theater auf dem Hornwerk Anders als beim Berliner Flughafen oder Stuttgarter Tunnel gab es beim Neubau des Theaters in den Sechziger Jahren weniger Kosten als geplant: das Ersparte wurde sinnvoll in Innenarchitektur investiert. Früher war weder alles besser noch schlechter, aber gewiss maßvoller https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/theater-auf-dem-hornwerk-nienburg/
Gott denkt, der Zufall lenkt. Hováths feinsinnige Ironie („Ich hab‘ mal Gott gefragt, was er mit mir vorhat. Er hat es mir aber nicht gesagt, sonst wär ich nämlich nicht mehr da. Er hat mir überhaupt nichts gesagt. Er hat mich überraschen wollen.„) offenbart immer wieder in den flüchtigen Begegnungen nicht wahrgenommene Relationen bzw. ihre Wirkungen. Alles hängt mit allem zusammen wie alle Personen an einander hängen und nichts erscheint Sinn zu ergeben. Die Figuren tanzen aneinander vorbei wie in Schnitzlers „Reigen“ und so ließe sich behaupten, alle spielen falsch, damit im Großen und Ganzen doch alles richtig wird und jeder bekommt, was er oder sie verdient.
Alle verstecken sich hinter einer vorgeschobenen Haltung, sind unredlich. („Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu„). Alles wiederholt sich: Auch Regen, Metonymie für Einsamkeit, steigt, sinkt, geht und fällt: der Autor spricht von Menschen die hinfallen, aufstehen, weitermachen. Die Attribute in Rilkes Poem, enttäuscht und traurig, gelten, weil in der Zweisamkeit keine Verlässlichkeit zu finden ist. Am Ende steht bei ihm die bittere Einsicht, mit dem, den man hasst, Tisch und Bett teilen zu müssen. Das alles zeigt: alle Flüsse fließen ins Meer und aller Regen in die Flüsse.
Foto Belinda Helmert: nächtlicher Meerbach, der unterhalb des Theaters in die Weser mündet. Bei Nacht erscheinen nicht nur alle Katzen grau, sondern alle Flüsse blau. Der Steinhuder Meerbach, „Meerbach“ genannt, ist ein 29 km langer rechter Nebenfluss, inzwischen kanalisiert wie ein dressierter Mensch.
Weitere Rezensionen
Neben dem gelungenen „Fräulein Julie“ vermochten nicht alle Stücke zu überzeugen, sofern man kein Freund des Regietheaters ist. Dies betraf Büchners gentirfiziertes Stück „Woyzeck“
und noch mehr den who is who Klamauk Shakespares „Plötzlich Shakespeare“
Am Ende entscheidet das Publikum. Qualität jedenfalls sollte nicht vom Quälen kommen. Denn das Traurige ist, wenn keiner lacht über das, was traurig macht.
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