Wie man auf einer Kanonenkugel reitet

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen-Brunnen, Fußgängerzone, Bonifatius Stirnberg aus Aachen. Die kleine Stadt nahe der Raabe-GEburtsstadt Holzminden liegt im Weserbergland links der Weser https://de.wikipedia.org/wiki/Bonifatius_Stirnberg

Husarenritt

Kann man auf Kugeln reiten? Die Geschichte des Barons Münchhausen – in schriftlicher Form gegen seinen Willen von einem gewissen Raspe 1781 und erweitert 1788 in London veröffentlicht – widerlegt die newtonschen Gesetze der Physik. Münchhausen, Teil der Kavallerie, ritt für seine Zarin auf einem Pferd ud Kanonen spielten in diesem russisch-türkischen Krieg eine untergeordnete Rolle. Im übertragenen Sinn gilt auch heute: Man kann Schlachten gewinnen und dabei Kriege verlieren und man kann Pferde vor der Apotheke sehen ohne Medikamente „eingeworfen“ zu haben. Unser mediales Zeitalter ist eines der inszenierten Lügen, zumindest der kolportierten Unwahrheiten. Und dies gerade im Zeitalter der bewegten Bildertechnik. Man glaubt das, was man sieht ist echt und sitzt schon auf dem falschen Pferd. Daher gleicht unser TV derzeit einem Husarenritt, eine waghalsige Spekulation.

Kanonenkugeln sind ein Symbol für Krieg, jedoch auch für die Epoche der späten Renaissance, vor allem des Barock. Bereits zu Napoleons Zeiten erzielten sie keine durchschlagende Wirkung mehr. Immerhin schreibt Baron Hieronymus von Münchhausen (18. Jahrhundert), dem seine Geburtsstadt mit ihren 4600 Einwohnern ihre Reputation verdankt, von einem Ritt auf der Kanonenkugel. Hintergrund bildet der österreich-russische Krieg um das osmanische Reich (Zentrum Türkei) Dieser fand 1736-39 statt. Die Rede ist von zweiten Krieg, der im Friede von Belgrad (vorerst) endete und Serbien der heutigen Türkei überließ. Die Russen und vielmehr noch Österreich verlor ein Gebiet, das für den Ausgang des Wersten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung wurde.

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen-Museum. Die Schulenburg auf dem ehemaligen Gutshof Münchhausen mit Branntweinbrennerei (letzter Umbau 1871) ist ein mehrstöckiger, steinerner Wohnturm. Das Münchhausen-Museum befindet sich in der um 1300 erbauten „Schulenburg“ – einst das Wohnhaus des Stadtverwalters und die Zehntscheune des Gutes http://www.muenchhausen-museum-bodenwerder.de/

Kanon statt Kanone

Da Bodenwerder und Münchhausen Kindererinnerungen weckt, kommen viele Eltern mit Kind in das Sagenland und Spielplätze oder Spielangebote sind deutlich überrepräsentiert. Zur Zeit des „Lügenbarons“ von Münchhausen standen sich sein Landesvater, der Herzog von Braunschweig und der Zarenhof im neu gegründeten Petersburg sehr nahe, was die Bereitschaft der Münchhausens, sich im Krieg auf Seiten der Russen zu engagieren, nahelegt. Heute undenkbar. Ein Braunschweiger erfand geradezu die moderne Kanone des 16. Jahrhunderts, die etwas schneller und flexibler zu bedienen war. Kanonen gab es zwar bereits gegen Ende der Renaissance, doch erlebten sie im Barock, bzw. Rokoko ihre Hochkonjunktur. Witzigerweise (oder doch besser sardonisch) spricht man vom Kanon in der Philosophie. und meint Werkzeug zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem-

Seit Machiavelli spielt Kriegstechnik und strategisches Denken in die Philosophie hinein. Kanon meint griechisch Richtschnur. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/kanon/1030.

Es mutet seltsam an, dass Kanone, obgleich aus dem Griechischen entlehnt, eher mit Zündschnur verbunden bleibt. Münchhausens legendärer Kanonenritt ist im Volltext einzusehen unter halberstadt.bildung-lsa.de/dat/cms1001934/images/schwaenke/DerRittaufderKanonenkugel.pdf

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen-Spielplatz mit Kanone in Anlehnung auf den Kanonenritt Münchhausens. Als Teil des russischen Braunschweig-Regiments kämpft Münchhausen wahrscheinlich wenig später an der Seite Anton Ulrichs im russisch-türkischen Krieg 1768-74. Die Geschichte von Hieronymus Carl Freiherr von Münchhausen ist nachzulesen unter https://internet-maerchen.de/maerchen/muenchhausen07.htm

Eine Kanone für das Reich

Wer sich mit Münchhausen als Lügenbaron beschäftigen möchte, der möge nachlesen auf https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Baron-von-Muenchhausen-Wie-ein-Page-zum-Luegenbaron-wurde,muenchhausen280.html. Die Rede kommt auch dort auf die Festung Otschakow am Schwarzen Meer bilden den historischen Hintergrund. Die Stadt liegt am Otschakow liegt nicht weit entfernt von der Dnepr und dieser Fluss mündet wie die Donau im Schwarzen Meer. Philosophisch seht Münchhausen für die Letztbegründung des Daseins, wenn alle Argumente zu einem Zirkelschluss oder eine, infinitiven Regress führen.

Das Herzogtum Braunschweig, dem die Familie Münchhausen unterstand, war zu Baron Münchhausens im 18. Jahrhundert mit dem russischen Zarenhof Petersburg verbandelt und damit der Romanow-Dynastie. Historisch ist die Bedeutung der russisch-deutschen Verbindung legendär wie chronisch verbrieft. Münchhausen kolportiert die Auseinandersetzung im Krieg des Heiligen Deutsch-Römischen Reiches unter der Allianz der Habsburger und der Romanows gegen die Türken (Osmanisches Reich), die 1688 noch vor den Toren Wien standen:

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen-Park, Mauer-Streetwork-Art. Baron Münchhausen ködert einen Schwarm Enten, indem er Speck an eine Leine befestigt.Die Enten greifen nach dem Speck und fliegen davon.Der Baron wird an der Leine hoch in die Luft gerissen und fliegt mit dem Schwarm davon. Die Wolkenfee lenkt den Schwarm in Richtung Münchhausens Schloss, wo sie erschöpft im Schlossteich landen. Die ganze Geschichte: https://c.wgr.de/f/pdf/978-3-14-120826-9-10-l.pdf

Münchhausen – ein Kunstmärchen ?

Fast exakt hundert Jahre später erscheinen fast gleichzeitig Kants Kritik der reinen Vernunft und Münchausen-Geschichte au der Feder von Raspe. Bodenwerder, eine Stadt, die von Minden etwa 60 km südlich entfernt liegt und 116 km von Braunschweig trennt, liegt direkt an der Weser und lebt vonm berühmtesten Sohn ihrer Stadt, Baron von Münchhausen, einem Rittmeister aus der Kavallerie der Dragoner, der sich in der zweiten Hälfte seines Lebens auch wieder in seine Geburtsstadt zurückzog- Das Eigentümliche an ihm: Er mag all seine Geschichten so erzählt haben, Schriftsteller indes war er nie. Alle heute gängigen Film- und Büchernacherzählungen fundieren auf einen gewissen Rudolf Erich Raspe. https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Erich_Raspe

Grundsätzlich verfasst der Baron Kunstmärchen im Vorgriff auf Wilhelm Hauff, das in der Romantik wurzelt und u. a. E. T. Hofmann perfektionierte. 40 Jahre verlebte der Rittmeister seine Rente in Bodenwerder , kinderlos. Nach dem Tod seiner Gattin heiratete er eine über 450 Jahre jüngere Frau, offensichtlich dem Kindersegen wegen. Der standesbewusste Barton selbst wollte nie Schriftsteller werden, ihm genügte die mündliche Rede. Als Aristokrat war ihm an Volksmärchen nicht gelegen. Als seine Frau fremdelte, musste er ein Kuckucksei im eigenen Nest befürchten. Märchen wie Liebesehen enden selten glücklich. Sein selbstgefälliges Leben mag sich am Vorabend der Französischen Revolution gegen ihn gewendet haben. Seine mündlich vorgetragenen Geschichten richteten sich an den Adel, bei dem er mit Verständnis auf seine Ironie rechnen durfte, nicht an den Bürger, der auf den Gedanken verfiel, alles sei erlogen.Im Unverständnis gegenüber den Verhältnissen und der Hoffnung auf deren Überwindung stellt Münchhausen eine bizarre Verknüpfung von Moderne (Satire, Groteske) und dem Ancien Regime dar.

Das ferne Russland

Das Zarenreich zu Münchhausens Zeiten umfasst die Regentin Anna (Tochter Iwan V) und Iwan VI., beide Thronfolger in einer für Russland eher schwächlichen Zeit. Von daher ist sein Wille zur Selbstinszenierung nicht nur Koketterie, sondern auch Überlebensdrang, weil Münchhausen auf der Seite der Schwächeren, der Verlierer, stand. Seine Erzählkunst stand gegen den Strom des Verfalls und einer Zeit der Aufklärung, die der alteingesessene Adel nicht goutierte. Russland stand zum damaligen Zeitpunkt den meisten deutschen Großfürsten näher als eine andere Nation.

Die Veröffentlichung seiner privaten und bewusst grotesk gehaltenen Anekdoten im kleinsten Kreis konnte Münchhausen nicht gefallen. Er fühlte sich in seiner Offiziersehre gekränkt, als der bürgerliche, im Harz geborene, Gottfried August Bürger seine, ausschließlich zu Konservationszwecken kolportierten Geschichten ausgerechnet beim Kriegsgegner England veröffentlichte.

Bodenwerder (seit dem 13. Jahrhundert Stadtrechte) liegt an der Weser, Flusskilometer 110 und besaß bis in das späte Industriezeitalter hinein einen Hafen bzw. eine Werft. So wenig heute davon zu sehen ist, so .unglaubwürdig muten Münchhausens Geschichten an, obschon sie immer einen wahren Kern behandeln. Das gilt aber auch für das Hochwasser, das selbst zu NSDAP Zeiten noch Schlauchboote erforderte, um die Innenstadt zu erreichen.

Vieles, was heute scheinbar wirklichkeitsfremd anmutet, war also wahr. Mitunter wünscht man sich die alten Verhältnisse zurück, wo ein schnelles Springen und eine individuelle Entscheidung von (historischer) Relevanz sein konnten.

Bernd Oei: Münchhausen-Rathaus und Geburtshaus Münchhausens von hinten. Der „Lügenbaron“wurde 1720 hier geboren. Der Gutshof ging ausgerechnet unter der Herrschaft der Faschisten 1936 an die Gemeinde über. https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Baron-von-Muenchhausen-Wie-ein-Page-zum-Luegenbaron-wurde,muenchhausen280.html

So wollte ich in die Festung fliegen

Die Geschichte in kürzester Fassung ist nachzulesen auf https://www.lutherschule-coburg.de/wp-content/uploads/2021/01/Eine-L%C3%BCgengeschichte-des-Barons-von-M%C3%BCnchhausen.pdf. Ihr Kern besteht darin, dass jemand einen Ort verlässt, weil es ihn nach Freiheit dürstet., wofür er jedes Risiko auf sich nimmt. Zudem ist es eine Hommage an den Zufall, der seit der cartesianischen Wende stets an Bedeutung verlor. Zufall und Zufälligkeit sind zu unterscheiden:Zufall bezeichnet im Allgemeinen ontologischen Sinne diejenigen Ereignisse, die sich weder als gesetzmäßige Folge eines objektiven Kausalzusammenhangs noch als intendiertes Folgeereignis subjektiv-rationaler Planung erklären lassen, während Zufälligkeit als modallogische Kategorie verwendet wird und als solche im Gegensatz zur Notwendigkeit steht. . Auch in der Antike, z.B. in Goethes Gedicht, wird unterschieden: Zufall entspricht etwa dem griech. tyche (lat. casu)s. Mit Zufälligkei geht dagegen das griechische endechomenon (lat. contingentia ) einher. Zufälligkeit entspricht dem Latein der Kontingenz, der begriffsschriftlich auf griech. endechomenon zurückgeht. Insofern tat Münchhausen, was ihm angeboten wurde und er seiner Gesinnung nach tun musste.

Der Ritt auf der Kanonenkugel hat es bis zur Briefmarke geschafft. Im Alter von Jesus kehrte der Rittmeister auf sein Gut (Schloss) Bodenwerder als Frührentner zurück. Er erzählte surreale Geschichten, an Bücher oder gar Öffentlichkeit dachte er dabei nie., ganz im Gegensatz zu Raspe, der im Londoner Exil gleich sechs Auflagen der Erfolgsstory veröffentlichte und auch den Prozess gegen den ihn anklagenden Münchhausen gewann. Etwa 300 Jahre sind seine Kriegsgeschichten, wohl bemerkt, mündlich kolportiert, verjährt. Die Ukraine beschreibt er schon damals, war ja lange Zeit friedlichst Teil Russlands. Man befindet sich in der Aufklärung. Die Veröffentlichungen Münchhausens konvergieren mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“.https://www.deutschlandfunk.de/300-jahre-baron-muenchhausen-gestaltwandler-der-100.html

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausens Ritt auf der Kugel nahe der Weserbrücke und Hotel Goldener Anker. https://www.goldeneranker.com/

Mit Lügen aufklären, was wirklich ist

Eine weitere Version des Kanonenritts ist zu sehen unter https://www.sos-halberstadt.bildung-lsa.de/dat/cms1001934/images/schwaenke/DerRittaufderKanonenkugel.pdf. Immerhin bedeutet Kanon Richtschnur (nicht Zündschnur). Münchhausensteht für eine zündende Idee, vielseitiges Denken und spontane Entschlusskraft. Ein enger Kanon reduziert die Vielfalt an Konzepten und Analysewerkzeugen, die für ein tieferes Verständnis gesellschaftlicher Strukturen notwendig sind. Er privilegiert bestimmte Denkweisen und marginalisiert andere (mehr über die Falle, philosophische Grundbegriffe unhinterfragt zu übernehmen. Es stellt sich die Frage, ob Münchhausen mit einer bekannten Geistesgröße in Verbindung stand.

Bei der Pairing-Methode werden klassische Texte gezielt mit Schriften weniger bekannter Denker:innen kombiniert. Beispiel: Die gemeinsame Lektüre von René Descartes und Elisabeth von Böhmen, die in ihrem Briefwechsel zentrale Fragen der Metaphysik, der Philosophie des Geistes und der Moralphilosophie diskutieren. Leider sind hier nur Raspe und Bürger, beides keine bekannte Denker verbürgt, die seine Geschichten kolportierten und veröffentlichten, zeitgleich zu Kants Schriften über die Metaphysik. Das Museum Bodenwerders würdigt den berühmtesten Sohn als Aufklärer. http://www.muenchhausen-museum-bodenwerder.de/seite/466972/wer-war-hieronymus-von-m%C3%BCnchhausen-wirklich.html

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchausens Kanonenritt, Skulptur des Bildhauers Bonifatius Stirnberg aus Aachen 1994 in der Langen Straße, Fußgängerzone, Im Hintergrund Stadtkirche St. Nicolai https://www.weserbergland-tourismus.de/de/poi/brunnen/muenchhausen-brunnen/12202678/

Notwendigkeit der Lüge

Betrachtet man die Aussage, dass Dichter lügen, um die Wirklichkeit wahrhaftiger zu gestalten (Nietzsche), so gelangt man zur Einsicht:, dass man lügen muss,, um die Geschichte konzentrierter, plastischer oder exemplarischer darzustellen, d.h. um auf den Kern der Wahrheit zu kommen Aus der Summe vieler Wahrheiten kann durch Verknüpfung eine Lüge entstehen, auch zwischen Ursache und Wirkung. Dies bezieht sich auf die ästhetische Argumentation.

Ethisch wäre zu sagen: Lüge liegt außerhalb der Moral, d. h. welchen Wert hat sie für die Gesellschaft, was sie als Notlüge rechtfertigt. Für Hellenen war Lüge nicht Gegenteil der Wahrheit sondern das Augenscheinliche im Gegensatz zur Unverborgenheit und Lichtung der Wahrheit (aletheia).

Psychologisch bedeutet es: Wieviel lügen wir unbewusst, was verdrängen wir an Wahrheit ? Ist diese Verdrängung vielleicht lebensnotwendig, so dass Geschichte immer im Grunde auf Gedichtetes hinausläuft ? Erkenntnistheoretisch: Wir blenden etwas aus, wenn wir etwas vergrößern, um es zu erkennen, gerät anderes aus den Focus, wird unscharf, tritt in den Hintergrund. Wir haben also mehrfach gute Gründe zu lügen.

Zuletzt auch hinsichtlich der Ironie: Doppelte Verneinung. Ausgang bildet Nietzsches Phrase „Alle Dichter lügen“ (Also sprach Zarathustra, II, Von den Dichtern) Wenn ein Dichter lügt und sagt, er lügt, dann spricht er die Wahrheit. Lügen können eine Erzählung voranbringen, indem sie zu Missverständnissen, Konflikten und Geheimnissen führen, die von den Charakteren gelöst werden müssen.

Hugo von Hofmannsthal, in jungen Jahren von Nietzsche geradezu infiziert, sagt: Die Maske ist für ihn dabei keineswegs Versteck, sondern gehört zur „Selbsterziehung zum ganzen Menschen“ notwendig dazu. Er postuliert für die eigenen Salzburger „Mysterienspiele“ : „Auf der Bühne wird alle Lüge wahr“ , denndie Notwendigkeit der Lüge und befreit sie von ihrer moralischen Stigmatisierung. In seinem berühmten „Chandos Brief“, der um die Jahrhundertwende der von Nietzsche ausgeösten Sprachphilosophie folgt, spricht der Dramatiker von einer Sprachkrise; Worte lügen, Gefühle lügen, auch das Selbstbewusstsein lügt, da nichts von selbst vorliegt, sondern alles von Außén ins Innere, ins Sprachbewusstsein dringt.

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Fußgängerzone, St. Nicolaikirche, evangelisch – dreischiffige gotische Hallenkirche, 13-17. Jahrhundert. https://de.wikipedia.org/wiki/ St._Nicolai_(Bodenwerder) Bekanntlich band Münchhausen im Schnee sein Pferd an einem Kirchturm fest, der ihm erst sichtbar wurde nach geschmolzenem Schnee. https://internet-maerchen.de/maerchen/muenchhausen02.htm

Zum Teufel mit der Wahrheit

Literatur kann auch die psychologischen Folgen von Lügen und Selbsttäuschung beleuchten, indem sie zeigt, wie diese Handlungen sowohl die Realität als auch die eigene Wahrnehmung beeinflussen. Thomas Manns nasch dem Zweiten Weltkrieg fertiggestellter Roman „Doktor Faustus,“ eine Parodie auf Nietzsches vermeintlichen Größenwqan, sein Leben und Schicksal (aller Deutschen) der Hybris, stellt folgende Frage: „Nun fragt es sich, ob bei dem heutigen Stande unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis, unseres Wahrheitssinnes dieses Spiel noch erlaubt, noch geistig möglich, noch ernst zu nehmen ist, ob das Werk als solches, das selbstgenügsam und harmonisch in sich geschlossene Gebilde, noch in irgend einer legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der schönste, heute zur Lüge geworden ist.

In dieser halben Künstler-Biografie (Artsteinmetaphysik) und durch Montage auch Kollektivschicksal der Deutschen mischt der Nobelpreisträger mehrfach Wirklichkeiten zu einer fiktionalen Ebene, sei es örtlich, zeitlich oder durch Personen, die in der Zeit- aber auch der Literaturgeschichte verortbar sind. Die Dialoge ,mit dem Teufel sind auf Dostojewskij (Iwan, „Die Brüder Karamasow“) zurückzuführen. So sagt der Teufel zum genialen Musiker Adrian: „Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit“.

Mann las Münchhausen. wie aus seiner weniger bekannten Novelle „Tobias Mindernickel“ aus seiner Frühzeit hervorgeht. Sie handelt von einem menschenscheuen Eigenbrötler, der sich einen Jagdund zulegt, dessen Bewegungs– und Freiheitsdrang ihn allerdings überfordert. Als dieser ihm, entflieht und sich bei seinem Ausflug schwer verletzt ist er doppelt glücklich: er hat ihn wieder und zudem als Pflegefall. Zu Manns Zeiten hat sich der Begriff Münchhausen-Syndrom bereits etabliert, worunter man die Lust an einer Misshandlung zu Dominationszwecken versteht. Eine detaillierte Erklärung und Wiedergabe findet sich unter https://de.wikipedia.org/wiki/Tobias_Mindernickel

Eine andere Geschichte, die in ähnlicher Richtung berläuft, liefert Münchhausen selbst: Der Erzähler bindet sein Pferd in einer Winternacht an einen – wie er glaubt – Pfahl an, der aber in Wirklichkeit die Spitze des Wetterhahns eines Kirchturms ist. Nach einer Schneeschmelze baumelt das Pferd am Kirchturm. Da schießt Münchhausen mit seiner Pistole den Halfterriemen durch, so dass das Pferd herunterfällt und er seine Reise fortsetzen kann. Volltext unter https://internet-maerchen.de/maerchen/muenchhausen02.htm

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen-Brunnen. Pferd am Kirchturm mit Blick auf das Weserbergland. Bodenwerder nahe Hameln liegt auf 76 m Höhe an der Weser. Zu Baron Münchhausens Zeiten lebten nicht einmal 1000 Menschen in diesem Dorf, heute 4600. Vor der Wende waren es fast 7000.

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