fake is good news – lie sells

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Weserbrücke, Nachmittagsstimmung, Blick auf Weserbergland. Bodenwerder liegt etwa 20 km südlich von Hameln.

Schauspieler oder Regisseur?

Heinrich Mann schreibt in seiner Novelle „Die Schauspielerin“, Teil der Trilogie „Römische Novellen“: „Man mußte darüber hinwegreden, den Lippen Falsches überliefern, damit die Seelen aufeinander zukommen und sich ihr Wahrstes gestehen können.“ Der Schauspieler gilt als Inbegriff eines Menschen, der lügen darf und sogar muss, weil er ja eine Rolle verkörpert und nicht sich selbst und dennoch dabei Wahrheiten verkündet, vorzugsweise solche, die nicht öffentlich gehört werden sollen und die ihm im Privaten Schwierigkeiten bereiten könnten. Verkürzt ist damit jeder Schauspieler ein Münchhausen.

Der leibhaftige Baron Hieronymus von iMünchhausen traf sich in seiner „Grotte“, um einem illustren Publikum Bärengeschichten aufzubinden. Am Vorabend der Großen Erschütterung, der Revoluton, amüsierte man sich gerne und niemand nahm es mit der Wahrheit so genau. Gut erfunden und erzählt mussten die Geschichten sein und Erzählkunst ging damals über Rhetorik hinaus. In den Geschichten des „Lügenbarons“ spiegeln sich, faszinierend bis heute, Weltflucht und Einbildungskraft. Die Imagination. Vielleicht hatte man intuitiv verstanden, dass über Dichtung die Wahrheit leichter zu ertragen oder zu fassen ist. Immerhin nennt Goethe eines seiner Hauptwerke „Dichtung und Wahrheit“. Die darin geschilderten Erlebnisse sind nahezu deckungsgleich mit der Epoche Münchhausens. Auch kannte er die 1786 von Gottfried Anton Bürger kolportierten Geschichten (1786).

Bürger war ein Göttinger Dichter, der Raspes in Englisch tradierte Form Münchhausens von 1781 aufgrund des großen Erfolges in England ins Deutsche zurück übersetzte. Deie Bekanntheit wider Willen erschlug und vergrämte den vorherigen Meistererzähler, der alles andere als volksnah und schon gar nicht als unseriös erscheinen wollte. Er tat darum alles bis zur langjährigen Gerichtsprozessen, die ihn überschuldeten, um wieder Herr im eigenen Hause, Regisseur seiner biografisch geprägten Geschichten zu sein. https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Baron-von-Muenchhausen-Wie-ein-Page-zum-Luegenbaron wurde,muenchhausen280.html#:~:text=Die%20Abenteuer%20des%20ber%C3%BChmten%20Barons,um%20eine%20historische%20Pers%C3%B6nlichkeit%20handelt

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, Münchhausen Grotte. Die Münchhausen-Grotte auf einer Anhöhe wurde 1763 nach dem Siebenjährigen Krieg vom Freiherrn von Münchhausen am Hopfenberg erbaut. https://www.weserbergland-tourismus.de/de/poi/denkmal/muenchhausen-grotte/12202451/

Halb gelogen ist auch schon halb wahr

Philosophen quälen sich mitunter mit der Wahrheit. Ein jüdisches Sprichwort sagt: Die halbe Wahrheit ist die gefährlichste Lüge! Dagegen ist die ganze Wahrheit meistens die schlimmste Brutalität! Die Hellenen hatten es noch leichter: Für Aristoteles ist Wahrheit die „Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit. Sie ist infolgedessen keine Idee und keine Frage der Moral „ Seine berühmte Formulierung, dass „Seiendes ist und Nicht-Seiendes nicht ist“, ist wahr, weil die Wirklichkeit selbst so ist. Dieser Gedanke wird als Korrespondenztheorie der Wahrheit bezeichnet und besagt, dass eine Behauptung wahr ist, wenn sie dem entspricht, was ist.

Halbwahrheit bezeichnet dadurch eine teilweise Annäherung an die bzw. Schnittmenge der Wirklichkeit. Nietzsche erst macht daraus eine Frage der Macht und der Ermächtigung. Zweifellos hatte er sowohl die Kirche in ihrem Dogma als auch die Wissenschaft in ihrem Objektivismus-Wahn im Visier und nannte die Jagd nach der Fata Morgana eine Vivisektion. Bereits vor ihm erkannte Schopenhauer einen Trieb zum Schein, zur Illusion, meisterhaft von Flaubert in Szene gesetzt. die Lust an der und auf die Enttäuschung. Diese bleibt keineswegs Privatvergnügen, sondern bildet den Rahmen, nahezu den Klebstoff für das Zusammenleben. Was geschieht, wenn sich alle die Wahrheit sagen würden, sieht man u. a. in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ (1962) von Edward Albee. Schonungslose Offenheit erträgt kaum jemand. Selbstlüge gehört zur Selbsterziehung und zum Selbstschutz

Foto Bernd Oei: Weg zur Münchaussengrotte

Bei Rorbert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, heißt es: „So will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus.“

Parrhesia beruht auf den hellenischen Kosmopolitismus und bezieht sich auf eine mutige und freimütige Rede, welche Wahrheit zumindest intendiert, selbst wenn sie wie im Fall des Sokrates mit großen Risiken einhergeht. Sie geht also nicht mit politcal correctness oder einer anderen Form von Konformismus oder Opportunismus zusammen. Auch bleibt sie unvereinbar mit Verallgemeinerung oder tendenzieller Verleugnung.

Parrhesia bedeutet, die Wahrheit unverschleiert auszusprechen, insbesondere gegenüber mächtigen Personen, und impliziert Offenheit, Mut, die Verpflichtung zur Wahrheit und die Bereitschaft, potenzielle Gefahren einzugehen. Der Begriff wurde in der Antike als eine wichtige Form der Redefreiheit geschützt und von Philosophen wie sie u. a. Michel Focuault in der modernen Philosophie wieder aufgreift. Ein Paardebeispiel jedoch liefert der Renaissance -Philosoph Michel de <Montaigne dafür. Ein modernes Wort in dieser Richtung lautet Zivilcourage.

Foto Bernd Oei: Blick von der Münchhausens Grotte auf Bodenwerder und Weserbergland. Die Grotte gehörte zum Münchhausen-Gutshof mit seinem Geburtshaus, der Brennerei und der Schulenburg, welches zum Münchhausen-Museum umgebaut wurde. http://www.muenchhausen-museum-bodenwerder.de/

Wahrheit langweilt, Lüge interessiert

Die zweite Lebenshälfte, streng genommen sogar zwei Drittel davon, verbrachte der Baron von Münchhausen in seiner Geburtsstadt Bodenwerder an der Weser. Bürgers nicht autorisierte Fassung seiner etwa hundert Anekdoten lautet „ Wunderbare Geschichten zu Wasser und zu Lande„; seltsamerweise ist vom Himmel nie die Rede, obschon sich doch so manche wie der Ritt auf der Kanonenkugel oder den Gänsen-Flug sowie das Erklimmen des Mondes mithilfe von Bohnenranken der Gravitationskraft entzieht.

Zu Lebzeiten des Barons besiedelten nicht einmal tausend Menschen die heutige Kleinstadt, die auf einer Werder, also einer Insel im Fluss, gegründet wurde. Das Geschlecht der Münchhausner ist seit Anfang des 16. Jahrhunderts verbrieft, doch gelten nahezu alle Assoziationen Hieronymus Carl Friedrich (18. Jh).

Neben seiner Beringungsfunde und blendender Erzählkunst zeichnet den ungewollten Autor (Kreator) der so genannten Lügengeschichten der eigene Wille zur Wahrheit aus, denn Forschungsdrang lag in dem Fossil des Kunstmärchens. Er liebte die Entenjagd und das Baltikum, doch mit solchen Banalitäten wird man nicht berühmt. Er überlebte den russisch-türkischen und den russisch.-schwedischen Krieg, in dem das Zarenreich sich langsam zu einer Kontinentalmacht entwickelte. Auch diese Fakten sind nahezu uninteressant. Wichtig und nachhaltig scheinen allein die Übertreibungen und Erfindungen.

Foto Bernd Oei: Weserufer, Weserbergland. Die Weser endet bei 452 km in der Nordsee: in Bodenwerder hat sie etwa ein Viertel ihres Weges hinter sich.

Foto Bernd Oei: Bodenwerder, ehem. Eisenbahnbrücke über die Weser; die stillgelegte Strecke von 32,5 km verband von Holzminden mit Hameln

Wen die Götter lieben, ersparen sie die Wahrheit

Wahrheit wird philosophisch seit Platon noch über Tatsachen-Wirklichkeit gestellt, weil sie die Idee und das Große Ganze metaphysisch inkludiert und sich nicht in Phänomenen erschöpft. Wer, wie die Ballade Schillers „Der Schleier von Sais“ bzw. die Novelle Novalis'“Die Lehrlinge zu Sais“ verkünden, die Wahrheit zu erkennen oder gar zu durchzuschauen und zu besitzen wagt, wird von den Göttern mit Wahnsinn gestraft. Ein Schicksal, das an die >Hybris und die Büchse der Pandora mythisch und an Hölderlin und Nietzsche poetologisch erinnert.

Folglich sollte der Mensch, will er nicht das Schicksal des Prometheus erleiden, sich mit Wahrscheinlichem zufrieden geben und nicht das Geheimnis des Großen und Ganzen zu erkunden suchen. Ein Refugium bildet die Korrespondenztheorie (Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin), welche sich mit der temporären Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit begnügt und damit der Wissenschaft vorarbeitet. Kant verlangt bereit nach notwendig und hinreichenden Übereinstimmungen und spricht damit der Mathematik einen wesentlich exakten Stellenwert zu, den bereits die Physik nicht mehr leistet.

Ein eher sinnliches Gegenbeispiel aus der Erfahrungswissenschaft stellt Marx‘ dialektisch historischer Materialismus dar. Hier geht es um die Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und objektiver Realität und damit sinnlicher Expertise, die verallgemeinerbar ist.

Eine dritte Form stellt etwa Tarskis Postulat von der semantischen Logik auf, dergemäß es um Satzstruktur und Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts zu tun ist. Stichpunkt Schrödingers Katze, obgleich dies der Quantenphysik entlehnt ist. https://www.leifiphysik.de/atomphysik/quantenmech-atommodell/versuche/schroedingers-katze-ein-gedankenexperiment

cum grano veritas

Insofern Gedanken und Handlung korrespondieren und stimmig sind, folglich auf Theorie Praxis folgt, spricht man von einer Performation. Ihre Vertreter wie Austin und Butler schließen an die inzwischen überholte Präformation (Vererbungstheorie) an, die u.a. Leibniz vertrat. Demgemäß liegt im Herkunftsmaterial bereits die Wahrheit über die Zukunft deterministisch vor (die Welt ist die beste aller möglichen Welten, weil aus Vernunft nichts Unvernünftiges hervorgehen kann.)

Die Widerspruchsfreiheit, basierend auf Konsistenz und Intersubjektivität wird vom Wiener Kreis, den Positivisten vertreten u.a. von Popper und Carnap vertreten. wobei ersterer eine Drei-Welten Theorie aufgestellt hat. Diese unterteilt Wahrheiten in der Physik, dem Bewusstsein (Wahrnehmungsphänomen) und der Ideen, zu der schlussendlich auch die Religion zählt.

Die sechste heute wissenschaftlich aufrecht erhaltene Position zur Wahrheit ist die Konsenstheorie, z.B. durch Habermas. Sie inkludiert permanente Diskussion und argumentativen Austausch, um sich den Bedingungen des Wandels anzupassen und Wahrheit zu verzeitlichen, nicht sie zu verabsolutieren. Summa summarum kann von Wahrheit nur noch selten und mit Vorsicht gesprochen werden, geradezu unter Vorbehalt.

In Anlehnung an den latinischen Wortlaut cum grano salis mit einem Körnchen Salz ist die Welt mit einem Körnchen Wahrheit versehen, nicht mehr. Der Rest bleibt Konstruktion bzw. Imagination.

Foto Bernd Oei: Festungsturm Mühlentor. Der Zugang zur Altstadt führte früher ausschließlich über eine Brücke durch diesen Wehrturm, da die Innenstadt zu dieser Zeit noch auf einer Insel zwischen der Weser und einem Seitenarm lag. https://www.weserbergland-tourismus.de/de/poi/festung/festungsturm-am-muehlentor/21736174/

Münchhausen for president

Lügen scheint um vieles einfacher, obschon es nicht den Gegensatz zur Wahrheit sondern zur Ehrlichkeit bzw. Aufrichtigkeit bildet. So vermag eine Lüge wider besseren Wissens wahr zu werden oder bereits wahr zu sein, aber weder Absicht noch Kenntnis des Die Aussage Treffenden berücksichtigen. Reformuliert: Man kann lügen wollen und doch die Wahrheit sagen.

Interessanter ist natürlich die offensichtliche Lüge zum Zwecke der Darstellung einer Wahrheit, die sich so nicht direkt vermitteln lässt. Dies scheint bei Münchhausen zweifellos der Fall zu sein, da er die Fähigkeit des Individuums, sich gegen das mutmaßliche Gefängnis der Welt, ihre Mechanismen erfolgreich zur Wehr zu setzen, herausstreicht Auch verweist seine Erfindungsgabe auf eine Befreiung aus dem Elfenbeinturm.

Der Wert der Lüge wird u.a. von Simone Dietz beleuchtet. Ihr geht es hauptsächlich um moralische Implikationen sozialer Beziehungen, wobei ihr Schwerpunkt bereits Medientechnik (fake news) umfasst. Zudem geht sie auf die Notlüge als Sonderform ein. Vom Wert der Lüge spricht auch Josef Krieg, der auf die mediale Desinformagtion eingeht und publizistische Verdrehungen aus ideologischen und publikatorischen Zwängen analysiert. Die Lüge ist zu einem relevanten politischen und ökonomischen Faktor geworden. Lügen machen sich zu Geld. Münchhausen und seine Auflagen beweisen es

Foto Bernd Oei: Festungsturm Hagen, Bestandteil der Stadtmauer aus dem 13. Jahrhunder.t https://www.weserbergland-tourismus.de/de/poi/architektur/festungsturm-im-hagen/21736184/

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