Foto Bernd Oei: Heknersteg, Nürnberg. Über diesen Holzsteg gelangte der Henker, im Mittelalter ein Mann, mit dem ein ehrbarer Bürger nichts zu tun haben durfte, von seiner abgeschiedenen Wohnung im Henkerhaus in die Stadt. Errichtet wurde der Henkersteg an seinem heutigen Platz nach dem großen Hochwasser im Jahr 1595, dem sein Vorgänger zum Opfer gefallen war.
Die meiste Zeit seines Lebens, abgesehen von seinen Jahren der erzwungenen Emigration, verbrachte Theodor W. Adorno in seiner Geburtsstadt Frankfurt, einer der Köpfe der „Frankfurter Schule“. Neben Siegfried Krakauer, gleichfalls Frankfurter (Tod 1966 in New York) und dem auf der Flucht verstorbenen Walter Benjamin zählte Max Horkheimer zu seinen besten Freunden und engsten Weggenossen. Dieser verstarb 1973 in Noris, der lateinischen Bezechnung für Nürnberg https://www.spiegel.de/politik/datum-16-juli-1973-a-3a1e4537-0002-0001-0000-000041955040.
Wie scheint doch alles Werdende so krank
Laut Horkheimer, kongenialer Mitautor der „Dialektik der Vernunft“ und Mitbegründer der „Kritischen Theorie“ zählt „Minima Moralia“ (1951 publiziert, im Exil entstanden) zu den Haupt- und Schlüsselwerken Adornos. Ihr Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben” erlaubt die Assoziation mit der fränkischen Metropole aufgrund ihrer historischen Bedeutung für das Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, den pompös inszenierten Reichstagen als auch das Ausmaß der Kriegszerstörung durch Bombenangriffe. Das Max Horkheimer gewidmete Buch mit seinen 151 Aphorismen entstand aus tiefster moralischen Erschütterung heraus.
Adornos späteres Verdikt hat seine Gültigkeit erwiesen: Die Aufarbeitung der NS Verbrechen misslang, wie die jüngsten Beispiele gezielter (pogromartiger) Verfolgung, Denunziation, Diffamierung und moralische Verurteilung bzw. Schuldzuweisungen Andersdenkender dokumentieren. Der Geist von 1933 ist keineswegs besiegt. Sprachverdrehung und nebuöse Formulierungen sind weiterhin an der politischen Tagespordnung. Die Medien werden ihrer Aufgabe, neutral, sachlich und ausgewogen zu berichten, nicht gerecht. So schreibt Adorno im Abschnitt 30, der unmittelbar auf den Schlussatz „Das Ganze ist nicht das Wahre.“ folgt: „Die älteren, nicht auf Massenproduktion berechneten Medien gewinnen neue Aktualität: die des Unerfaßten und der Improvisation.“ https://giuseppecapograssi.wordpress.com/wp-content/uploads/2013/08/minima_moral.pdf
Am Beispiel des Turmbaus zu Babel verdeutlicht Adorno in „„Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ (1944) klar, dass der morderne und zugleich mediale Mensch sich auf eine durch Medien selbst induzierte universelle Sprache eingelassen hat, die eine Pseudo-Aufklärung verrichten und eine Schein-Objektivität verkünden. Er schätzt den Wahrheitsgehalt der Musik höher ein als symbolische Zeichen dessen, was wirklich ist, als die Sprache, die immer einem Jargon der Eigentlichkeit unterliegt. Was früher Türme waren, sind heute hoch aufragende Medienhäuser, die er für Modelle der totalitären Massenversammlungen hält.
Adorno äußert sich in „Minima Moralia“ Abschnitt 45 (“ Wie scheint doch alles Werdende so krank“) wie folgt: „Vor den Begriffen des Gesunden und Kranken, ja den mit ihnen verschwisterten der Vernünftigen und Unvernünftigen selber vermag Dialektik nicht Halt zu machen. Hat sie einmal das herrschende Allgemeine und seine Proportionen als krank – und im wörtlichsten Sinn, gezeichnet mit der Paranoia, der »pathischen Projektion« -erkannt, so wird ihr zur Zelle der Genesung einzig, was nach dem Maß jener Ordnung selber als krank, abwegig, paranoid -ja als »verrückt« sich darstellt, und es gilt heute wie im Mittelalter, daß einzig die Narren der Herrschaft die Wahrheit sagen. Unter diesem Aspekt wäre es die Pflicht des Dialektikers, solcher Wahrheit des Narren zum Bewußtsein ihrer eigenen Vernunft zu verhelfen, ohne welches sie freilich untergehen müßte im Abgrund jener Krankheit, welche der gesunde Menschenverstand der andern mitleidslos diktiert.“
Foto Bernd Oei: Nürnberg, Nassauer Haus, Karolinenstr. 2 gegenüber der Lorenzkirche, südliche Altstadt. LetzterWohnturm der Stadt „Nämberch“ mit ihren heute 544 000 Einwohnern. Der Name bezieht sich lediglich auf ein Eckhaus im Allgemeinen, doch die Grafen besaßen unweit der Lorenzkirche Besitzungen.
Foto Bernd Oei: Narren(schiff)brunnen (1987) von dem Münsterianer Bildhauer Jürgen Weber (1928-2007) eine Kopie steht auch in Hameln. In Nürnberg schuf er auch den Hans Sachs Brunnen (https://de.wikipedia.org/wiki/Ehekarussell) am Weißen Turm in der Fußgängerzone (1984 errichtet). Der Text „Das Narrenschiff“ stammt von dem Humanisten und Erasmus -Zeitgenossen Sebastian Brant. Die hundert Seeleute reisen nach Narragonien.
Schein der Freiheit
Adorno spricht in „Minima moralia“ auffallend häufig von Freiheit bzw. Schein-Freiheit. Nicht selten geschieht dies in Verbindung mit Markt und seiner „Zirkulationssphäre“. Der Mensch als Marktteilnehmer bestimmt durchaus nicht mehr als früher sein Geschick, bleibt anderen Hierarchien und Autoritäten unterstellt, wovon das Kapital und die Arbeit einen gewichtigen Raum einnehmen. Neben der suggesitven und abstrakten Beeinflussung unterliegt er der Manipulation von Marktschreiern. „Aus dem, der hilft, weil er es besser weiß, wird der, welcher den andern durchs rechthaberische Privileg erniedrigt. Von der Kritik des bürgerlichen Bewußtseins bleibt nur jenes Achselzucken, mit dem alle Ärzte ihr geheimes Einverständnis mit dem Tod bekundet
haben.“ (39, „Ich ist Es“). Der Mensch wird zerlegt und zerschraubt wie ein Motor in seine Teile und Funktionen. Oft merkt er es nicht einmal, wie fremdgesteuert er durch „den Druck des ökonomischen Marktes „ist.
Adorno schreibt über die durchorganisierte Gesellschaft, in der auch der Glaube institutionalisiert und organsiert werden muss. Mit Verweis auf Nietzsche schreibt er: „Alle Moral hat sich am Modell der Unmoral gebildet und bis heute auf jeder Stufe diese wiederhergestellt. Die Sklavenmoral ist schlecht in der Tat: sie ist immer noch Herrenmoral.“ (119, „Tugendspiegel“). Die Weltverbesserer von heute sind die Kriegsbeschwörer von morgen. So ist es wieder gekommen. Im Namen des Friedens und der Solidarität werden Menschen vernichtet, Waffen geliefert und Schlachten unterstützt (Granaten statt Diplomaten), sogar für den Sieg der einen Partei, Nation oder Ideologie gebetet. Alles ist von Zwängen durchzogen, Freiheit sieht sich in pseduomoralischen Fallstricken gefangen.
Foto Bernd Oei: Nürnberger Hauptmarkt mit der protestantischen St. Lorenzkirche im Hintergrund. Rot-Weiß sind die Farben Frankens und des „Clubs“, der allerdings traditionsgemäß in rot-schwarzer Kleidung spielt. Die Lorenzkirche ragt 81 m in die Höhe, fast doppelt so hoch wie die Frauenkirche.
Foto Bernd Oei: Katholische Frauenkirche auf dem Hauptmarkt 14. Errichtet um 1349 anstelle einer Synagoge während der Pest, wirkte auch hier bei der Lorenzkirche Adam Kraft mit. Unter dem Bergriff Männleinlaufen versteht der Volksmund die Kunstuhr mit dem Umlauf von Figuren am Westgiebel der Kirche, die Mittags zwölf Uhr durch einen Mechanismus in Tätigkeit gesetzt wird , so dass die sieben Kurfürsten dreiimal um den Kaiser laufen. Erinnert werden soll an die Goldene Bulle von 1356. https://tourismus.nuernberg.de/sehen/sehenswuerdigkeiten/kirchen/location/frauenkirche/
Rechthabenwollen lässt verstummen
Alle Entwicklung beruht auf Verlust. Wenn Adorno „O Abschied, Brunnen aller Worte!“ zitiert, dann verweist er auf Franz Werfel und dessen 1915 verlegtes Layrikband „Einander“. Die benannte Zeile bildet den Abschluss aus dem Poem „Abschied“. Für Adorno ist dieser Brunnen versiegt „er ist versiegt, und nichts mehr kommt heraus“ (Schlusskapitel, IV, „Les Adieux“) Der Grund dafür stellt die Absenz der Verinnerlichung dar. Formelhaft wie ein Gruß verlaufen Begegnungen und Beziehungen. „Wer vermöchte noch zu lieben?“ fragt Adorno. Das zweistorphige Gedicht Werfels ist auf Frage und Antwort aufgebaut:
Das monolitihische Rechthabenwollen klingt hier nach. Es fehlen die Brücken zwischen den Ufern. Es fehlt der Wille an Versöhnung und Menschlichkeit. Jeder verbleibt an Ort und Stelle. Dialog, Diskussion, Austausch, finden nicht statt. Einen Hinweis darauf gibt Adorno in seinem 44. Abschnitt „Für Nach-Sokratiker“ – der sokratische Typus des Denkers mit seiner Fragekultur einer Hebammer, die nahezu liebevoll den eigenen Gedanken auf die Sprünge zu helfen vermag, ist aus den Akademien und dem Leben verbannt. „Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstands gesättigten Folgerungen müßten entfallen.“
Foto Bernd Oei: Schöner Brunnen (19 m) , Hauptmarkt. Im Hintergrund das Rathaus. Der Brunnen wurde 1396 fertiggestellt; es handelt sich um einen Nachbau aus Muschelkalk. Das Wahrzeichen wurde durch einen Stahlmantel vor den Bombenangriffen geschützt. Die vierzig farbig bemalten Figuren des Brunnens stellen in vier Stockwerken das Weltbild des Heiligen Römischen Reiches dar.
Foto Bernd Oei: Fleischerbrücke und Pegnitz. Die Fleischbrücke ist eine zwischen 1596 und 1598 erbaute Steinbrücke für Fußgänger über die Pegnitz in der Innenstadt und verbindet die nach ihren Kirchen benannten Stadtteile St. Sebald und St. Lorenz.
Verdrängung durch Konformität
Auch Abschnitt 61 („Berufungsinstanz“) antwortet auf Nietzsche, der latent omnipräsent in der minima moralia mitschwingt. „Auf die Liebe zu Steinmauern und vergitterten Fenstern verfällt jener, der nichts anderes zum Lieben mehr sieht und hat.“ Inhaltlich knüpft Adorno an die Verwechslungsgefahr von Wahrheit und Hoffnung an und auf Nietzsches Antwort, amor fati, das Schicksal anzunehmen und es sogar zu lieben, wo es schmerzt. Sein Verdikt dagegen lautet, ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, selbst wenn sie sich im Dornenkleid verkleidet.
Die Kritik des Versagens von Anstand und Korrumpierbarkeit der Moral, gerade begünstigt durch die Öffentlichkeit über mediale Inszenierung ist ein Leitmotiv Adornos. So spricht er abfällig vom Geistesgeschäft anstelle von Kultur und von Kunstetrieb wie einer Firma. Die Ökonomisierung hat vor dem Denken nicht Halt gemacht. und simplifiziert auf groteske Weise – unterzieht jedes Verhalten einer Musterung: „Die einfältig-verlogene Wichtigkeit, wie sie Geistesprodukten im öffentlichen Kulturbetrieb zugewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu, welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt„. (85, Musterung)
Die unmittelbare Kommunikation wird bewusst durch die Kulturindustrie verwehrt. Alles wird zum Kunst verstümmelnden happening. So spricht Adorno (Abschnitt 136, „Exihibitionist“) von „subjektiv-zensorischen Bearbeitung“, also Selbstzensur. Was nicht sein soll oder darf, kann nicht sein. Der Ausdruck, gefördert von saturierten Bürgern, negiert die Realität, das Unbehagen. Konformität wird zur Forderung: „Weiter setzt der Druck der Konformität, der auf jedem Produzierenden lastet, dessen Forderung an sich selbst herab.“ (8)
Foto Bernd Oei: Schlayerturm mitten im Ausfluss der Pegnitz auf einer kleinen Flussinsel. Er bildet einen Teil der km langen Stadtmauer Nürnbergs.
Das Nägeleinswehr wetliche der Maxbrücke ist eines der vier großen Wehranlagen Nürnbergs, doch das einzige im Stadtgebiet. Bei niedrigem Wasserstand wird das Wasser konstant gehalten, bei Hochwasser gibt es den Abfluss frei. 1909 kam es hier zu einem verheerendem Hochwasser, mitverschuldet durch die Drosselung des Abflusses durch etliche Mühlen. Deshalb wurde nach 1945 ein Wiederaufbau der Mühlen untersagt, stattdessen bestehen Wohnmöglichkeiten.
Denker und Henker
In Abschnitt 33 („!“ir vom Schuss“ spricht sich Adorno bewusst gegen Ressentiment und Richter-Allüren aus. „Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten. Einmal: ich möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für
Geschehenes rächt.“
Unangemessenheit in der Reaktion auf einen missliebigen Umstand rufen Selbstjustiz oder drakonische Maßnahmen auf den Plan. Aus scheinbarer Verteididgung entsteht schnell Angriff. Die Meute folgt Einpeitschern. Fütr wahre Kritik an der Depotie ist man zu liberal. Toleranz wird dort geübt, wo sie augenscheinlich zelebriert zu werden vermag.
Foto Bernd Oei: Henkersteg. 1457 wurde für Fußgänger über dem südlichen Ausfluss der Pegnitz an der vorletzten Stadtmauer ein Holzsteg errichtet. Den Namen Henkersteg erhielt er vom Henkerturm, der früheren Wohnung des reichsstädtischen Scharfrichters auf dem Säumarkt (heute: Trödelmarkt).
verinnerlichte Räuberbande mit dem Führer
Die Kernfrage, weshalb auch Gebildete bereit sind, freiwillg und voreilig vorauseilenden Gehorsam zu leisten, beschäftigte Adorno in den Kriegsjahren so sehr wie kritische Geister, die dem Treiben der Ampelregierung und vordem den Pandemisten-Hysterikern fassungslos gegenüberstehen. Der Kopf der Frankfurter Schule schreibt (23, Plurale tantum) „daß man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realitätsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und
allem anderen Zubehör aufzufassen hat.“
Plurale tantum bedeutet Mehrzahlwort wie Familie oder Leute oder Masern. Adorno verwendet es als Chiffre für Massengesellschaft. Bandenführer sind immer die Wütenden. Das Individuelle ist das Allgemein: Individualismus wie jeder ismus eine Ideologie, die mit echter Individualität nichts gemein hat. Im Fall des Dritten Reichs (Überbetonung der eigenen Nationalität) wie heute, der willfährigen Gefolgschaft zur USA (Verleugnung der eigenen Nationalität) basiert dieser Individualismus auf „gehorsame Resignation„.
Widerstand, Zivilcourage, Mut zum Handeln Fehlanzeige. Pantha rhei. Alles fließt vorüber. Adorno im äußerst langen Abschnitt 72 (Zweite Lese): „Wer etwa auf das
Ausbleiben eines jeglichen spontanen Widerstands der deutschen Arbeiter hinwies, dem ward entgegengehalten, alles sei derart im Fluß, daß kein Urteil möglich sei; wer nicht an Ort und Stelle, unter den armen deutschen Opfern des Luftkriegs sich befinde, der doch diesen ganz gut gefiel, solange es gegen die andern ging, habe überhaupt den Mund zu halten ….“
Was wäre dem in heutiger Zeit hinzuzufügen ?
Foto Bernd Oei: Pegnitz, von der Trödelinsel aus fotografiert. Sie durchfließt Nürnberg in 14 km Länge. Das natürliche Flussbett der Pegnitz befand sich im frühen Mittelalter direkt im Herzen Nürnbergs, auf dem heutigen Hauptmarkt. Dieser Platz war anno dazumal ein sumpfiger Wiesengrund unterhalb der etwa 50 m höher gelegenen Burganlage in der Sebalder Stadthälfte.https://www.nuernberginfos.de/gewaesser-nuernberg/pegnitz-fluss-nuernberg.php
Foto Bernd Oei: Agnesbrücke; sie verbindet die Insel Schütt mit der Lorenzer Stadtseite. 1462 aus Holz im Osten der Innenstadt erbaut war sie als Heubrücke bekannt. 1779 wurde an der Brücke ein Wassermessstand zur Beobachtung des Pegnitzpegels errichtet. Nach dem Weltkrieg ersetzte Stein Holz.
Stagnation der Kulturindustrie
Immer wieder kommt Adorno auf Kulturindustrie zu sprechen, die Fortschritt verhindert und bloß voranschreitet. In Anlehnung an Benjamins Dialkeik des Stillstands spricht er von ihrer Stagnation als Resultat ihrer Monopolisierung und darüber hinaus, der „sogenannten Unterhaltung“, die auf Verblendung, entfremdung und Zerstreuung abzielt. die Intention der Kultur ist daher nicht Aufklärung, sondern Verklärung von Anbeginn an.
Adornos Terminologie dafür lautet Kitsch bzw. Klischee. „Der Kitsch ist jenes Gefüge von Invarianten, das die philosophische Lüge ihren
feierlichen Entwürfen zuschreibt. Nichts darin darf sich grundsätzlich ändern, weil der ganze Unfug der Menschheit einhämmern muß, daß nichts sich ändern darf. Solange aber der Gang der Zivilisation planlos und anonym sich vollzog, ist der objektive Geist jenes barbarischen Elements als eines ihm notwendig innewohnenden sich nicht bewußt gewesen.“ (96, „Januspalast“).
Folglich unterliegt der moderne, technokratische Bürger dem Wahn, frei und demokratisch zu sein, sich selbst und sein Schicksal zu bestimmen, einen eigenen Geschmack zu besitzen und ein Urteilsvermögen. In Wahrheit ist er Teil des seine Individualität vernichtenden Systems, ein reproduzierbares Gebilde wie alle Objekte, mit denen er sich umgibt. Kitsch begleitet ihn wie ein Schatten.
Der Fetischismus der reproduzierbaren und konsumierbaren Ware ist in die Bourgeoisie „eingesickert“, seine Folgen für die Gesellschaft „Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen“. (99, „Goldprobe“)
Foto Bernd Oei, Insel Schütt im Osten der Altstadt, mit 630 Metern Länge und maximaler Breite von 120 Meter die größte Flussinsel der Pegnitz. Die Pegnitz lagerte Sandbänke an, die durch künstliche Schüttungen ergänzt wurden. 1376 fand die Insel in der Stadtchronik erstmals Ewähnung.
Tanz auf dem Vulkan
Im Abschnitt 120 „Rosenkavalier“ Adorno die Metapher des Tanzens auf: „Keiner tanzt mehr aus der Reihe auf dem Vulkan, er wäre denn deklassiert.“ Der Mensch ist resistent sowohl gegen sich selbst zu denken als auch sich zu genießen. Er gleicht einer Selbstverweigerung, einem Kaninchen vor der Schlange.
„Der Vulkan“ (1939) lautet der Titel des letzten Romans von Klaus Mann, der 1949 im amerikanischen Exil Selbstmord beging. Danser sur un vulcan ist zudem eine stehende Redewendung für ausgelassenes, riskantes, meist ahnungsloses Verhalten in einer sehr gefährlichen Situation oder angesichts einer drohenden Katastrophe. In seinem Exilroman beschrieb Mann den Riss, der durch alle in die Emigrantion gezwungenen ging, die sich gegen das herrschende System auflehnten. Signifkiant ist der Satz „Als lebten wir auf einem Vulkan, der Feuer speit! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft.“
Im Abschnitt 131 „Wolf als Großmutter“ greift Adorno abermals auf die Tanz-Metapher zurück im Sinne des Totentanzes : das Märchen teilt die Welt in Gut und Böse auf; es geht darum, „die Stiefmutter in glühenden Eisenschuhen zu Tode sich tanzen lassen.“
Auch wenn Johann G. Säumes Verdikt vom Widerstand: „Alles, was man in dieser Zeit für seinen Charakter tun kann ist, zu dokumentieren, dass man nicht zur Zeit gehört“ (Apokryphen, 1806/07) aufzeigt, was Adorno reformuliert in: „Widerstand ist die letzte negative Beziehung zur Wahrheit“ (139, „Unbestellbar“), so gilt doch abschließend: Es muss dem Nein auch ein Ja, dem Gegen auch ein Für und der Veto ein Plädoyer folgen, sonst hat die Unmenschlichkeit gesiegt.
Foto Bernd Oei: Skulptur Tanzendes Bauernpaar, Entwurf nach Dürers Kupferstich 1514 von Skavo Oblak (1984) auf der Trödelmarkt-Insel. https://www.nuernberg.museum/projects/show/1148-tanzendes-bauernpaar
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