Woyczeck weiblich auf türkisch

Theatersaal Nienburg

Foto Belinda Helmert, Theater Nienburg, Lüster in der Eingangshalle (https://theater.nienburg.de/portal/seiten/theater-auf-dem-hornwerk-902000083-21501.html)

Das Nienburger ist ein Gastspiel-Theater , d.h. manche Aufführung gibt es nur einmal, und ein eigenes Ensemble besitzt die Stadt nicht. Bei der Premiere zu Büchners Woyzcek gab es eine Einführung am Anfang, die vielleicht Missverständnisse ausräumen oder zunmindest das Publikum vor Verstörungen bewahren sollte. Am Ende gab es, gemessen an diametral wirkenden Raktionen, zwei Parteien: Die Jungen tobten auf den Rängen wie Groopies und hatten sich von der schauspielerischen Leistung ode nackten (Hintern) Tatsachen euphorisieren lassen. Die Alten schüttelten Köpfe oder schlüpften resigniert in die Abendgardrobe. Zur Pause war das vorher nahezu ausverkaufte Stück bereits halb geleert , was auch eine Ausssage ist. Der Beifall reichte nicht für einen zweiten Vorhang.

Foto Bernd Oei: Weserschlösschen mit Durchgang zum Theater. Im Vordergrund der Meerbach, Flüsschen, das den Nienburger Bürgerprakr durchquert und in die Weser mündet (im Hintergrund)

Das Stück Woyzeck (1836/7) füllt die Seiten meines Buches „Vormärz“ (Verlag Dr. Kovac, 2020) S. 117 bis 137. Es ist das berühmteste und meistgespielte Stück aus der Zeit des Vormärz und immer zeitlos geblieben, ein Fragment, dessen Szenen in unterschiedlicher Reihenfolge gespielt werden können. Die Regisseurin – erwählt das Zitat „Jeder Mensch ist ein Abgrund: es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“ (und schreibt es wie Stefan George alles in Kleinbuchstaben) – heißt Ayla Yeginer. Dass sie weiblich ist, muss nicht der Grund dafür sein, weshalb aus Maria die eigentliche Hauptdarstellerin wird. Sie darf einige Monologe sprechen, die im Original.

Foto Bernd Oei: Weserschlösschen mit Theaterklause von hinten, Meerbach und Stadttheater Nienburg mit Glasdachaufsatz

Auch dass der Arzt eine Ärztin, dazu grell geschminkt und hysterisch lachend ist, muss nicht zwingend auf das Geschlecht der Regisseurin zurückgeführt werden. Die Texte, um es vorwegzunehmen, basieren auf Büchner, wurden aber variiert von Cornelia Pook. Auch der Ärztin wird etwas mehr Raum und Rolle zzugebilligt als im Original. Doch dieses einfach zu übernehmen ist für Theatermacher von heute keine Alternative geschweige Herausforderung.

Die türkische Kielerin (1983 geboren) , die bereits Falladas „Kleiner Mann , was nun“ auf die Bühne gebracht hat (https://www.youtube.com/watch?v=AbBAsYOsLL8) titelt mit „in einer kalten welt“, nachzulesen im Programmheft Woyzeck: Marie wurde wie viele Frauen zur Täterin gemacht, obschon sie doch Opfer von Woyzecks Gewaltobsession ist, namentlich seiner rasenden Eifersucht. Sie wird, so wörtlich „zu einer Schablone zur Reproduktion von Gewalt an Frauen.“

Foto Belinda Helmert, Eingangshalle im Nienburger Stadttheater vor der Aufführung Woyzeck am 5.10.23. Das Theater auf dem Hornwerk bietet über 100 Aufführungen pro Jahr auf 626 Sitzplätzen an

Natürlich muss man ihren ganzen Text lesen, um Ayla Yeigner gerecht zu werden und es ist ein Aspekt, den sie herausgreift und der verständlich macht, weshalb sie das Stück so angegangen ist, dass dem Besucher klar werden musste, hier steht Marie als Sühneopfer (unverheiratet mit einem Schreikind, um das sich der Vater nie kümmert) im Fokus. Ihr Leiden, möglicherweise auch ein Betrug der nur im Kopf des verwirrten Einzelgängers stattfindet, die nahezu verständliche Faszination für einen „echten Mann“, kurz die weibliche Sehnsucht nach ein bisschen Glück, wirkt nachvollziehbar.

Foto Bernd Oei: Skulptur Der Glasbläser, Innenstadt Nienburg, Lange Straße, von Kufrt Tasotti 1989 (https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/skulptur-nienburger-glasblaeser-2/)

Auch Karl wird von einer Frau bzw. einem Mädchen gemimt und hat mehr Worte als bei Büchner, u.a. deklariert sie das Märchen, welches sinnbildlich die Einsamkeit auf Erden als auch im Weltall verkörpert, am Anfang und am Ende des Seelendramas. Entmenschlichung kennt kein Geschlecht.

Es steht niemanden an, den Stab zu brechen über eine Inszenierung und die Wahl der Schwerpunkte bis hin zum geschlechtlichen Rollentausch. So sagt Marie auch textgetreu büchnerisch „ich bin nur ein arm Weibsbild.“

Es ist aber das Recht des individuellen Theatergängers, ob er das goutiert und als Kunstgriff oder gar Kunstkniff rezipiert, oder aber enttäuscht turückbleibt mit dem Gedanken: Das hat der geniale Büchner nicht verdient, diese Mediokrität, diese Inseznierung des Banalen und Dummen, des Ordinären und Vulgären. Nein, nur einzelne mögen daran Anstoß nehmen, dass Woyzeck einen nackten Hintern zeigen muss, um vielleicht den Aspekt der Demütigung noch deutlicher hervor- und herauszustellen. Man muss sich nicht über die pantomimischen Einlagen eines Zauberers oder Gauklers, den der Tambourmajor auch gibt, wundern oder gar echauffieren.

Foto Bernd Oei: Sprargelbrunnen mit ältestem erhaltenen Haus (1722) in der Langen Straße, Nienburg Bronzefiguren von Helge Michael Breig (1998) https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/spargelbrunnen-1/

Drei Aspekte scheinen mir in diesem zeitlosen Stück von Gewalt, Sehnsucht,m Einsamkeit, Eifersucht, Hierarchien, Determinismen und Milieuerscheinungen relevant unbd signifikant für das heutige Regiewesen: erst mal muss kräftig verändert werden, denn Klassik war gestern und dass die Schüler den Text entweder können (weil sie ihn schulisch vorgesetzt und vielleicht sogar vorgekaut bekommen) oder nur so, gentrifiziert und banalisiert, in ihre Welt einzuorden wissen. Zweitens muss mittels Effekte immer einer draufgesetzt werden, da heute die leisen, subtilen oder gar intelligenten Töne überhört bzw. gar nicht gehört werden. Erinnert sei an Paul Celans Rede bei der Entgegennahme des Büchnerpreieses: Ein Publikum muss nicht zur zuhören oder mithören, sondern verstehen und das heißt aktiv reflektieren wollen. Das nimmt man den heutigen Theaterbesuchern gerne ab. Ob am Ende das Stück dabei ein wenig manipuliert wird, wen mag das stören. Hauptsache, das Geschreie ist nicht zu überhören, denn Gewalt stumpft ab und man muss sich heute schon etwas einfallen lassen, um sich im Lärm des allgemeinen besonders Gehör zu verschaffen.

Foto Bernd Oei: Rad- und Fußgängerbrücke entlang des Weser-Radwegs, 2000 vollendet (https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/wesertor-bruecke-1/)

Drittens darf im Zeitalter des Spaltens keinesfalls auf diese im Generationskonflikt verzichtet werden. Wer einen echten Büchner sehen will, soll gefälligst lesen und draußen, d.h. der Bühne fern bleiben. Wer einen türkischen Tambourmajor oder eine Feta-Fetisch-Doktorin zu sehen begehrt oder zumindest keinen Anstoß an ihrer Erscheinung mit Lolli und Spritze nimmt, der kann sich die Orgie geben mit Freimarkt-Herzen (in diesem Fall fiel es Andres zu, dieses übergroß vor sich herzutragen). Nebenbei sei erwähnt: auch die Kostüme, Bühnenausstattung wurde allein von Frauen bewältigt, vermutlich um eine chauvinistische Männerdikitatur in der Theaterwelt zu durchkreuzen.

Foto Bernd Oei: Weserradeweg entlang der Nienburger Altstadt mit Blick auf die Wesertrorbrücke (https://www.weserradweg-info.de/de/tour/fernradweg/weser-radweg-5.-etappe-von-nienburg-nach-verden/33274384/)

Die heutige Welt ist verrückt. Ver- rückt. Mindestens verschoben, durch und durch invertiert und teilweise pervertiert. Weshalb sollte sich das nicht im Theater spiegeln? )Der Spiegel nimmt im Original eine Schlüsselfunktion ein). Auf der Bühne ist immer zugleich hinter der Bühne. So wundert es nicht, dass auch Woyzecks Tod, sein Gang ins Wasser, nicht vorkam. Ebensowenig wie die Barbierszene mit dem Hauptmann, der in seiner Lackuniform unter all der Schminke schwer erkennbar war und meist wie ein Harlekin durch die Luft gewirbelt wurde. Es fehlte so manches in diesem Stück, das antrat, die Einsamkeit in einer kalten Welt zu demonstrieren und einen Blick in den eigenen Abgrund der Gewalt(bereitschaft) zu werfen. Stehen wie ein Baum und nicht wie ein Schilfrohr im Wind.

Foto Bernd Oei: Bürgerpark in Nienburg mit einer der zahlreichen kleinen Brücken über den Meerbach. Der etwa 7 ha große Park entstand 1883 (https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/buergerpark-1/)

Beim Verlassen des Theaters kam mir Hamlet in den Sinn: „Des Gedankens Blässe kränkeln mich an.“ Für das moderne Regietheater fehlt mir der Geist oder die Anspruchslosigkeit an Kunst, die nur grell geschminkt daherkommt. Mein Gusto lautet: Man soll mit der Zeit gehen, aber auch nicht sie einfach über sich ergehen lassen. Mit Woyzeck: Man müsste im Himmeöl donnern helfen – wohl auf auf der Nienburger Bühne, wenn es um die Bewältigung von Klassikern geht, die an Klarheit nichts gewinnen, wenn man sie für mainstream instrumentalisiert. Das Epizentrum ist weiblich und spricht türkisch.

Foto Bernd Oei, Meerbach im Bürgerpark Nienburg. Das Flüsschen entspriongt im Steinhuder Meer, daher sein Name (https://de.wikipedia.org/wiki/Steinhuder_Meerbach) und mündet nach fast 30 km in der Weser direkt am Theater. Sein trübes Wasser erinnert an einen getrübten Blick auf den Vormärz.

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