Rezenssion Vodkagespräche in der Villa, Nienburger Theater, 14.12.2024
Foto Belinda Helmert: Wodka im Liebenauer Trödelmarkt – im Idealfall hat der Brand 40 Prozent. Wegen seiner Farblosigkeit und Klarheit benennen die Russen (vodka) ihr Leibgetränk nach Wasser. Im Hintergrund das Gemälde „Der Handkuss“ von Hespe 1964 aus der Generation der Darsteller.
Danish dynamite
Hört man Dänemark, so denkt der literaturbeflissene Mensch vielleicht an „Hamlet“ und somethings ´s rotten in the state of Denmark aus der Feder von Shakespeare. Oder an den verfilmten Bestseller-Roman“Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ von Bille August. Vielleicht kommt einen nebst Kierkegaard in den Sinn, dass Strindberg im Exil einige Stücke in Dänemark (Skovlyst) schrieb. Einige deutsche Schriftsteller zog es nach der Machtergreifung bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in dänische Gefilde, darunter Brecht nach Svedborg. Ende der Zwanziger Jahre fühlte Tucholsky sich inspiriert „Glückliches Kopenhagen – eine Oase in der Wüste“, „Dänische Felder“ und „Eine schöne Dänin“ zu verfassen. Zwischen 33 und 39 setzte er ohne den inhaftierten Ossietzky die unter Hitler verbotene Weltbühne als „Die neue Weltbühne“ hier fort. Etwa eine halbe Million deutschsprachiger Kommunisten und Juden suchten auf der kleinen Insel Schutz vor dem sicheren Tod. Auch Klopstock und Hebbel fanden am dänischen Hof königliche Mäzene.
Der populärste dänische Schriftsteller war der aus Odsense stammende Andersen. Nietzscheaner denken an den vielleicht bedeutendsten Literaturkritiker des Naturalismus Georg Brandes, dessen Bruder Edvard (beide gebürtig in Kopenhagen) selbst Dramen verfasste. Von den zeitgenössischen Autoren dürfte Arne Nielsen (geboren 1971) herausragen, der verantwortlich für die „Vodkagespräche“ zeichnet. https://www.dievodkagespraeche.de/
Nielsen ist auch Musiker, Sänger und Texter des Elektro-Pop-Schlager Duos »Der Büro«. Dies verbindet ihn mit Jonas Landschier (1969), dem Regisseur, Schauspieler des Hamburger Thalia Theaters und Keyboarders in diversen Bands, u. a. des Hamburger Jan Delays. https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/ensemble/schauspiel/darsteller/jonas-landerschier Damit sind zwei Verantwortliche und mit dem Thalia Theater am Alsterstor das Ensemble für die Aufführung der Vodkagespräche genannt. Das on tour Gastspiel in Nienburg fand am 14. Dezember in der Vorweihnachtszeit statt.
Landschier steuert auch die über den SW Film gelegte Musik zu der gespielten Lesung bei. Die beiden Schauspielerinnen des Zwei-Personen Stücks sind Karoline Eichhorn und Catrin Striebeck (1966). Letztgenannte ist Wienerin und erprobte Burgtheater-Actrice (auch Landschier arbeitete am Wiener Burgtheater), zudem äußerst präsent im Fernsehen. Ihre Bühnen-Komparsin Eichhorn (1965, Stuttgart) bekleidete ebenso viele Fernseh-Rollen und spielte an diversen Theaterstätten, zudem ist sie, nicht unwichtig, die Ehefrau des Autors Arne Nielsen.https://www.theater-muenster.com/produktionen/gastspiel-karoline-eichhorn-und-catrin-striebeck-506.htmlDie Charaktere sind daher einschlägig bekannt, erfolgreich und entstammen derselben „meiner“ Generation. Aufgrund der Tour wenig verwunderlich, dass schon vorab von einem „feierten Theaterabend“ zu lesen war.
Foto Belinda Helmert: Vodka gekipppt.Russischer Geist oder russischer Sprit. in spirictu sancti segnet der Papst. „Heile Welt“ ist zerbrechlich (Porzellan).
Komposition –
Hinsichtlich der Exilautoren, der engen Beziehung zwischen dänischen und deutschen Literaten bzw. Philosophen sowie der Generation, der die Macher entstammen, sollte es kaum verwundern, dass braune Gesinnung und AfD zur Sprache kommen (müssen). Ebensowenig wie das Motiv Werteverlust in einer im Verfall begriffenen Demokratie. So scheint es, liest man die Hinführung zu dem gefeierten Bühnestück. Anspruch und Wirklichkeit klafften auseinander.
Das Bühnenbild: zunächst ein Film, schwarz weiß, man sieht eine gutbürgerliche Tischgesellschaft beim Violinkonzert,nachdemvorherpompös der Maestro mit Dirigentstock (erstes Bild überhaupt) das Auto verlassen und die Villa betreten hat. Menschen, die sich pausenlos zutrinken und zuprosten. Zwei Mädchen, später Frauen, die in ein ihnen verwehrtes und verschlossenes Zimmer wollen. Den Bodensee, tief und schweigsam, einen Mann mit Trompete, lustig spielend, Ufergäste und zwei Schwestern, die sich innigumarmen, spielen oder rennen. Ein farbiges Paar, eine resolute Hausdienerin, rauchend, einem älteren Mann hinterhersehend, der im Garten verschwindet. Wozu das alles, bleibt dem Zuhörer/Zuschauer überlassen,denn eines ist gewiss: dasRätsel soll bleiben. Alles erscheint fragil:dieBeziehung zwischenden Menschen und derMensch selbst. Zweisamkeit in Einsamkeit.Moll.
Zwei Frauen, schwarz gekleidet, betreten die Bühne. Sie trinken unaufhörlich Wodka, umdaseis zwischen ihnen zu tauen. Es sind die Schwestern Edda (blond), der germanische (Haus)Segen und die (dunkle) Freya,germanische Ikone der Freiheit. Die Beerdigung des Vaters ist gerade vorüber, seine Leiche noch nicht ganz kalt.
Zwei Akte liegen vor und nach der Pause, diese sind inhaltlich unterteilt in vier Themen: zunächst kreist der Dialog um Vaters überraschendes Ableben und sein Verhältnis zur Religion, die Angst vor dem eigenen Tod (oder dem einsamen Sterben). Danach eine Diskussion um Liebe versus Leidenschaft,die an Kierlkegaards Kontroverse zwischen Ästhetik und Ethk erinnert. Nach der Pause dann die Frage nachdem Warum.ERSTENS;weshalbverstehen sich die Schwestern nicht mehr. ZWEITENS: was macht der Brief des Vaters, die VUV (Vermögensunterlassungsverfügung) mit Edda, der Pragmatikerin und mit Freya, der Idealistin? Nach der Systemfrage folgt noch einmal das Private: der mögliche Suizid derMutter und der kontrollsüchtige Vater am schönsten Tag ihres Lebens.
Foto Belinda Helmert: Werbung im Nienburger Theater für Vielseitigkeit und Pluralismus unterm Tannenbaum. Das ganze Leben ist ein Quiz (ein Fest) und wir die Kandidaten. Frieden schmücke den Tag !
Foto Belinda Helmert: Blick vomTheater nach draußen.Über den Spagat, in dem System und aus dem System herauszukommen, handelt „Vodkagespräche“.
Werteverlust im falschen Kontext
„Napoleon, hätte er nicht gesoffen, wäre er Muslim geworden.“ Der Satz ist eingebettet in die Frage,warum Christen sich nicht mehr christlich verhalten,etwa nach der Bergpredigt,die anEindeutiglkeit kaum zu wünschen lässt, und weshalb sich kaum ein Christ mit dem Koran beschäftigt,während der Muslim sehr wohl die biblischen Texte kennbt.Verwiesen wird auf Gemeinsamkeit und die Bedeutung Abrahams, auf Tugend und Enthaltsamkeit (Kants Werkzeuge der Moral),die zugunsten derjüngsten der drei Weltreligionen sprechen. Hinterfragt wird die Jungfräulichkeit Marias. Die unterschiedlichen Wertevorstellungen, konservativ (Edda) und liberal progressiv (Freya) werden deutlich. Ebenso die Rolle der Nähe: Edda war immer dierechte organisatorische Hand des Vaters, Freya die von derLedienschaft zur Bühne Getriebene,fern in Berlin, nur mit dem Vater telefonierend. Das gemeinsame Ritual: Vodka trinken in getrennten Räumen. Vielleicht, weil sich so leichter etwas vorgaukeln lässt.Oder aber um die Zunge zulösen und von dem zu sprechen, was wirklich ist.
Im zweiten Teil des Gesprächs wird klar:Freya fliegt in der Welt herum,meist mit Ryan Air und hat Probleme mit Nähe. Sie wechselti ihre Männer oft , lebt promiskutiv und nennt das Leidenschaft. Sie spricht gerne und häufig vom falschen Kontext und erläutert das mit ihrem Fialsko in Kroatien, wo sie sich von Roman trennt, weil der nicht den Kühlschrank repariert bekommt und stundenlang im Supermarkt an der Gefriertruhe verweilt.Nebenbei offenbar tsie ihre Abscheu gegen kroatische Vermieterin, die mit Oliven die mangelnde Elektrzität wettzumachen versucht und freistehende Häuser,die ein Familienidylle erzwingen.
„Von ihrem schewesterlichen Pendant erfährt man, dass sich bei ihr alles um den Göttergatten Robert dreht,der vorzugsweise seinen Fahrradhelm im Café aufbehält und seine Flugmodellleidenschaft mit einer großen dicken Frau auf einerDecke mit Mickymausemotiven aussitzt. Was sie fürLiebe hält, weilermichliebt“Von ihrem schewesterlichen Pendant erfährt man, dass sich bei ihr alles um den Göttergatten Robert dreht,der vorzugsweise seinen Fahrradhelm im Café aufbehält und seine Flugmodellleidenschaft mit einer großen dicken Frau auf einerDecke mit Mickymausemotiven aussitzt. Was sie fürLiebe hält, „weil er mich liebt“ erscheint gleichfalls als Selbstbetrug. Edda ist eine Mutter von zwei Kindern, über die sie sagt: „Ich liebe sie, aber ich mag sie nicht“ weil die Kinder wie die Schwestern immer alles besser wissen als sie selbst. Fazit: Weder Nähe noch Distanz haben den Schwestern genützt, die gesunde Balance für sich und ihre Mitwelt zu finden.
Foto Belinda Helmert: Fast ausverkauftes Haus im Nienburger Theater. Zwei Stühle als Symbol für Einsamkeit und Leere bei der Inszenierung“ Vodkagespräche“.Viele Fenster für mögliche ,aber ungenutzte Auswege.Weißes Mobilar, schwarze Kleidung, ein swFilm zu Beginn: Symbol der Kontraste.
Foto Belinda Helmert: Die Kamera,derProjektor -als technisches Hilfsmittel für die Inszenierung der „Vodkagespräche“ unverzichtbar.
Ein Riss durchs Leben
Nach der Pause wird der Brief des deusabsconditus.,des Vaters, vorgelesen. Man hört die Stimme aus demOff (von Sepp Biechbüchler),der im bayrisch angehauchten Hochdeutsch seinengrundverschiedenenTöchtern die Beweggründe für seine VUV nennt. Er hat das viele Geld einer“braunen“ Stiftung vermacht, einer lesbischen Freundin (die Anspielung an Alice Weidel dürfte klar sein). In seinem Brief spricht er, der Chemiker und Musikliebhaber klassischerTöne (Hitler verehrte Wagner) von Heimat und Werten wie Fleiß, Anstand, Verantwortungsgefühl. Möglicherweise hat das die PressealsNähe zur AfD ausgelegt.
Der Vater entschuldigt sich bei seinenTöchtern,sie falsch erzogen und verweichlicht, zu egoistinnengemacht zu haben.Während die realitätsscheue Freya über Anruf indieSchweriz versucht,herauszubekommen,was eine VUV ist und als Idalistin das Kapital für ihr sozialistischen Projelte (Bühnenmonologe) aufzutreiben versucht,vermag sich die ökonomisch gebildete Schwester nur über denErhgeiz einer versnobten Künstlergemeindezu echauffieren. Warum also die eine Schweste nie die andere inBerlin im Theater und diese nie die Heimat am Bodensee besucht wird klar: unterschiedliche Lebenskonzepte und keine Kraft,überden eigenenSchatten zuspringen.Man begehrt,wasmanselbstnicht hat.Die eine humanistische Bildung, die andere einen festen Partner und Boden unter den Füßen.
Die Frage lautet zugespitzt,wie man aus demSystemasusbrechenkann,wennman doch in dem System sitzt. Wie also sozialistisch agieren,wenn man doch amGeld hängt und im Kapitalismus festhängt ? Wie die Revolutionüben,wo man auf Vaters Geldspritze und Erbe angewiesen bleibt? Freya verwickelt sich mit ihrem Sinn von Freiheit und Multikulturalität (sie selbst agiert fremdenfeindlich in Kroatien) in Widersprüche. Aber genauso Edda: ihr Treuebekenntnis zu Robert, der sie entweder betrügt oder langweilt, in jedem Fall aber bevormundet, erscheint wenig serlbstbestimmt, eher wie ein zugeklebter Riss.
Als Abschluss lesen die Schewstern, zerstritten und doch versöhnt, den lang gesuchten Abschiedsbrief der Mutter, der vom schönsten Tag in ihrem Leben handelt,denmanfreilich erst imNachhinein zu erkennen vermag. Symbol ist das anfangs imSwFilm zu sehende Kleid, welchesbislangderVaterlievevollverwahrt und im für die Kinder stets verschlossenen Raum gelüftet hat.
Foto Belinda Helmert: Sw Film zu Beginn der Vorstellung: Freya (Catrin Striebeck) in nachdenklicherPose, von Bildern umgeben.Ihr Charakter ungestüm, unbeherrscht. Vorgeblich weltoffen, doch im eigenen Künstlerkosmos befangen,imGrundeerfolglose Schauspielerin. Ohne Geld müsste sie in die „Sklavenwelt“am Bodensee zurückkehren.
Foto Belinda Helmert: Edda (Karoline Eichhorn), im Rücken der omnipräsente übermächtige Vater. Sinnbild der Zerrissenheit ihrer Seele, aber auch der Welt.
Fragen statt Antworten
Viel berchtigter Beifall am Ende,als der Vorhangfällt. Ein Stück, nur getragen von zwei Akteurinnen verlangt neben Textsicherheit auch Dramaturgie,denn die Handlung in Form von Aktoion enfälllt. Dennoch:einen roten Faden gab es nicht,auch keine klar erkennbare Gesellschaftsanalyse oder Kritik,die über Ansätze hinauskommt. Die vielfach genannte Vermögensunterlassungsverfügung,mit der der reiche Papa erzwingen will, ,dass beide Schwestern wieder versöhnt unter einem Dach am Bodensee leben, gleicht der aktuell monetären Inflation.Viel mehr als die Differenz in der Identität zweierLebensentwürfen wird nicht spürbar.
Vieles bleibt in derSchwebe: War die Haushälterin, welche die Erziehung der früh halbverwaisten Schwestern übernahm,,die heimliche und tabusierte Geliebte des Vaters? Haben sich die manisch-depressiverscheinende Mutter,später der besorgt und beschwichtigende Vater umgebracht? Trotz allerlebenslust,die beide in Briefen versprühen? Kommen sich diekontroversen Schwestern nun nach vielen gemeinsamen Gläsern Vodka näher? Bleibt also das Glas halb voll oder halbleer? Sind Gedanken von Heimat und Tugend wirklich rechts und national engstirnig? Revers:IstderHyper-Nationalismus nur vorgekaugelt? `Verhöhnt der Vater mit seinem Respekt vor dem Islam sein eigenes Christentum oder den Atheismus? Ist erVaterfürsorglich oder grenzüberschreitend autokratisch? In diesem Sinn regt das Stücksicherlich dieGedankenfreiheit an.
Andererseits: drängt sich bei weniger wohlwollender Auslegung, derVerdacht auf,mit vielschönenWortren nichtso rechtvielgesagtzu haben auf. Banalität auf hohem Niveau oder elaborierte Trivialität. Bekannte Schauspieler, Regisseure, Autoren bedienen Schubladen der PR-Industrie. Prominenz genügt,zumdiePresseehrfurchtsvoll undvorderAufführung inLobeshymnenverfallen zu lassen. Wem´s gefällt, der hatdenAbend nichtbereut undsich vielleicht im eigenen Meinungsstatus bestätigt. Wer hinterfragt,was eigentlich war,dem bleibt nur der Vodka und das Gespräch.
Foto Belinda Helmert: zwei Schwestern, Freya, die Freiheitsliebende und Edda,die Häusliche,beim Versuch der Annäherung. Gemeinsam Vodkatrinken hilft.
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