Foto Bernd Oei: „Exilierter“ Schwan in Travermünde
Sprung aus dem dritten Stock
Das waren die letzten Worte Egon Friedells (1878-1938) des Wiener Literaten und Philosophen Egon Friedell. Er sagte es vor seinem Sprung aus dem Fenster (3.Stock) aus suizidaler Absicht heraus, um niemanden zu verletzen. Seinen honorigen Freitod kündigte er dem Kollegen von Horvath mit „Ich bin immer in jedem Sinne reisefertig“ an. Horvath starb im selben Jahr (im Pariser Exil); auch er befand sich auf der Flucht vor SA und SS. Intelligenz, Anstand und Feinsinn waren wider den Geschmack der Herrschenden von damals; sie sind es auch heute, wenngleich die gegen den Strom Denken mit weniger barbarischen Mitteln verfolgt werden.
Der feinsinige Aphorist schrieb: Es liegt nicht in unserer Macht, Irrtümer wie Kleider abzulegen, weil wir lieber andere tragen möchten; wir finden erst die Kraft, Irrtümer loszuwerden, wenn wir sie nicht mehr verwerten können, weil sie wirklich völlig abgenutzt sind. (Zitat aus „Kleine Philosophie“)
Friedell, Student des Hegelianers Kuno Fisscher in Heidelberg, erkannte die Macht der Industrie, symbolisiert durch die Maschine und die Ohnmacht des Menschen. Was das Fließband in seiner Zeit war, wurde der Computer in der Epoche der Digitalisierung heute. Die Maschine ist die souveräne Beherrscherin unseres gegenwärtigen Lebens. So heißt es in „Kleine Philosophie. Vermischte Meinungen und Sprüche.“
Foto Bernd Oei, Hoya, Skulptur Paartanz vor der Martinskirche, Norbert Thoss, 2006, Bronze.
Sturz der Wirklichkeit
Friedell verstand sich als demokratischer und liberaler Aufklärer. Sein Vorbild Voltaire hatte indes ein eingeschränkte aristorkatische Meinung von der Freiheit. Der Franzose meinte, Aufklärung könne nur von oben kommen, weil das Volk dafür zu dumm sein. Freiheit blieb Friedells elementares Thema, genauer die unbeschränkte Selbstbestimmung des Individuums, das den Freitod einschließt. https://lesedusche.de/autoren/egon-friedell.html
Der vielseitige und humorige Wiener schätzte die Parodie und war sich nicht zu schade, den Narren zu mimen, etwa in Wedekinds „Die Büchse der Pandora“, in der er in die Rolle des alternden Gauners Schigolch, potentiell auch der Vater der Nymphomanin Lulu, gab. Frei nach seiner Maxime Alle gute Philosophie ist im tiefsten Sinne Parodie, Selbstparodie. Schigolch wird aus Leidenschaft zur Lulu zum Mörder – diese eine Passion genügt, um sein sonst stets kalkuliertes Risiko in unüberlegte Raserei umschlagen zu lassen. Passend dazu lautet Sturz der Wirklichkeit das abschließende Kapitel aus der fünfbändigen „Kulturgeschichte der Neuzeit.“ (1500 Seiten), in dem Friedell Essays aneinanderreiht.
Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg, so lautet der Untertitel, der Neuzeit-Kulturgeschichte. Die Intention seiner, der politischen Aufklärung dienenden Schriften, fasst er 1911 so zusammen: Und infolgedessen glaube ich, daß es die Aufgabe jedes Gebildeten wäre, auf möglichst vielen Gebieten bis zu dem Punkt vorzudringen, auf dem er seine positiven Kenntnisse fast ausnahmslos preisgeben muß.
Das Quintett seiner Analyse beleuchtet den Gang der Weltgeschichte (in den ersten Weltkrieg) wie die unvermeidbare Katastrophe des Dramas. Dabei äußert Fridell originelle Gedanken, z.B. nennt er den Zirkus die Basis von aller Kunst. Die archaische Paraderolle, auch des Literaten, sei die des Narren. Eine vielsagende Phrase lautet: Die Welt ist immer von gestern. Ein Satz aus dem Kapitel „Der schwarze Freitag“, den Stefan Zweig gekannt haben dürfte, wenn er seinen Rükblick Die Welt von gestern nennt. Der Verfall der Kunst setzt ein, wenn sie sich selbst reflektiert und durchschaut, wenn sie mehr will, als sie kann.
Das gesamte, im Faschismus verbotene, Werk “ ist zu hören unter https://de.cba.media/261970 und zu lesen unter https://www.projekt-gutenberg.org/friedell/kulturg5/chap01.html
Foto Bernd Oei, Hoya, Innenstadt
Industrie als schwarze Wolke
Die Schlussworte des an „Der schwarze Freitag“ anschließenden zweiten Kapitels „Vom Teufel geholt“ lauten: „Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa; und wenn sie sich wieder teilt, wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen sein: weggeweht in die Nacht des Gewesenen, in die Tiefe der Ewigkeit; eine dunkle Sage, ein dumpfes Gerücht, eine bleiche Erinnerung. Eine der zahllosen Spielarten des menschlichen Geschlechts hat ihr Ziel erreicht und ist unsterblich zum Bilde geworden.“ Das diesbezügliche Kapitel handelt von der Büchse der Pandora im Sinn der industriellen Errungenschaften, dem Wettlauf mit der Zeit, der Atomkernspaltung, die letztlich im ersten Weltkrieg enden mussten.
Mit einem Satz ist oft mehr gesagt als in manchem Buch. So beschreibt Fridell den Übergang von der alten in die neue, von Technik beseelte Zeit so:
Ebenfalls originell und ganz im Gegensatz mit dem sonst so häufig mit ihm verglichenen Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes) ist Friedells Sicht auf die vermeintliche Unvereinbarkeit amerikanischen und russischen Politikverständnisses. Beide sind von Technik fasziniert und imperialistisch auf permanentes Wachstum taxiert; beide vermeintlich Unvereinbaren vereint der Hang zur Menshenverachtung: Kapitalismus zeigen sich menschenverachtend; sie dienen keiner Idee, bestenfalls einer Ideologie.
Der selbsternannte Dilettant weiß: Nichts ist im Menschen, auch im scheinbar »aufgeklärtesten«, fester verwurzelt als der Glaube an irgendwelche Autoritäten. Der begnadete Essayist will keine geschichtswissenschaftliche Abhandlung schreiben, sondern eine „seelische Kostümgeschichte“. Er persifliert Hegel auf höchstem Niveau. Vielleicht mehr als eine Mariginalie: Er promoviert mit dem Thema Novalis als Philosoph. Weil er die Romantik als Haltung versus der Wirklichkeit begreift. Alle Bewegung ist relativ, schreibt Friedell. Der Kontext: es gibt weder ein absolutes Objekt noch ein Subjekt. Dieter Leisegangs Promotion über „Die drei Potenzen der Relation“ gelangt zum selben Ergebnis.
Foto Bernd Oei, Weserbrücke Hoya. An historischer Stelle verbindet die im Jahr 2000 in Betrieb genommene Fußgängerbrücke die Innenstadt mit dem Stadtteil am Westufer. An diesem alten Weserübergang stand schon 1512 zur Zeit der Grafen von Hoya die erste hölzerne Sommerbrücke. Sie musste im Winter wegen Eisgangs abgebaut werden.
Selbstmord der Kunst
Kunst hat einen Instinkt zur Selbstauslöschung. Ein Bild ist nur schön, wenn es nicht an ein Bild erinnert, weil es sonst nur eine Abbildung ist. Es muss einen Standpunkt haben. Grundstürzende Erkenntnisse lautet ein Schlüsselbegriff von Friedell; Mobilität des Sehens, Statik und Dynamik, Industrie prägen die Kunst. Der Expressionismus entspricht der Atomtheorie, der Auflösung der klassischen Malerei per se. Dabei erkennt Friedell im Expressionismus nur eine Spielart, eine Erweiterung zum Impressionismus, keinesfalls eine Gegenbewegung.
Kalte Distanz stillose Fraternität – zwischen diesen Polen pendelt sich das Leben ein. Die Welt gleicht einer Kaserne mit Uniformierungstendenz.Friedell war kriegseuphorisiert, er meldete sich freiwillig zur Front, wurde aber aufgrund seines Alkoholproblems nicht für taugloich befunden. Hitler empfand er wie Roth als Antichrist, die ihm huldigende Masse als Rotte. Was aber meint der Begriff, die Etikette Kulturphilosoph? Ein Beitrag zu seinen Aphorismen zur Geschichte von „in die Kunst geretteteten Menschrenfressern“ liefert https://www.youtube.com/watch?v=–3ZETkG4s8. Dabei greift der Aphoristiker auf den Meister des Genres zurück und bringt das Leiden an Gott (einem menschlichens Missverständnis) mit dem Leiden an der Geschichte in Verbindung:
Das negativ konnotierte Wort Dilettant bezeichnet bei Fridell nur die die bewusst vollzogene Abgrenzung von den Experten, die auf ihrer Briefmarke Bescheid wissen, z. B. der Historiker über den Indochinakrieg, aber selten über den Tellerand zu blicken vermögen oder wenn sie es tun, automatisch in Halbwissen dilettieren. Diese Kluft ist durch anwachsende Spezialisierung und Differenzierung inzwischen um ein Vielfaches angewachsen. Das Kernproblem bestand jedoch schon um die Jahrhundertwende, genau genommen vollzog es sich zeitgleich mit der Industrialisierung.
Foto Bernd Oei: Hoya, Weserbrücke. Die 1362 erstmals erwähnte Brücke war lange die einzige Verbindung zwischen Bremen und Verden im Norden und Nienburg im Süden. Am Ende des zweiten Weltkrieges, am Morgen des 07. April 1945 wurde die Weserbrücke zusammen mit der Eisenbahnbrücke von deutschen Soldaten gesprengt, um das Vorankommen der alliierten Truppen zu verhindern.
Geschichte wird erfunden für das Bedürfnis der Weltkonstruktion
Die Neuzeit endet mit dem Ersten Weltkrieg. Der Mensch hat, so Friedell bereits in seinem vierten Band „Romantik und Liberalismus“, die Geschichte erfunden, denn er biegt sie sich zurecht. „Geschichte wird erfunden: täglich neuentdeckt, wiederbelebt, uminterpretiert nach dem jeweiligen Bedürfnis der Weltkonstruktion. Wir stoßen hier wiederum auf jenes Gesetz, das wir schon mehr als einmal hervorgehoben haben; daß nämlich der Geist das Primäre ist und die Wirklichkeit nur seine Projektion und Materialisation.“
Diese Einsicht konstituiert sich als Anlehnung an Novalis: die Welt will, ja muss romantisiert werden. Eine Objektivität oder Neutralität kann es nicht geben. Schon gar niht in einer Zeit, spätestens nach der Aufklärung, in welcher der Mensch zu Gottes Stellvertreter auf Erden wird und die Welt besser machen will, als er sie vorfindet. Naturalismus bzw. Impressionismus als Kulminationspunkt von Atheismus und Nihilismus.Die Anekdote als „einzig wahre Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung“ https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/kulturgeschichte-der-neuzeit/25815
Die Ideen liefern Philosopohen, doch konkrete Bilder dafür schaffen nur Künstler; so sind beide aufeinander angewiesen – in seltenen Fällen wie bei Friedell vereinigt sich beides mit dem Preis eines gewissen genialen Dilettantismus (Max Reinhard nannte den Schauspieler Friedell einen göttlichen Dilettanten). Die Analysen zu den Repräsentanten ihrer Zeit, sei es Shakespeare oder Kant können nichts anderes sein als originelle Gedankensplitter, ein bewusst geschaffener Torso oder eine Minerva ohne Flügel.
Hegel hielt die Begriffe und damit die präzisen Formulierungen für überlegen, die größere Kunst. In seiner Rechtsphilosophie schreibt er: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821).
Foto Bernd Oei: Braunschweig, Skulptur beim Gasthof Grünen Jäger, dem Ausflugsort im ehemals selbständigen Riddagshausen https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCner_J%C3%A4ger_(Riddagshausen). Laut Friedell bringt der Konkurrenzdruck bzw. – Kampf die Evolution voran. Daher war er anfänglich auf kein Pazifist oder Opportunist zum Weltkrieg.
Minervas Untergang
Der deutsche Idealismus, Kind der Aufklärung und der Industrialisierung, glaubte an Progression des Geistes und hielt einen Rückfall in Barbarei für unwahrscheinlich. 100 Jahre später erwidert Friedell, Hegel betone mit dieser Allegorie, den Zeitgeist zu erkennen, hieße ihn zu entthronen: wenn das Rätsel der Sphinx gelöst sei, so stürze sich die Sphinx vom Felsen. Er meint, man müsse die Historie und den Staat (denn die Geschichte entwickelt aus Stämmen und Völkern Nationen) nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Minerva entspricht Athene. Eulen nach Athen tragen hieße Venedig mit einer Taube bereichern zu wollen. Der erste Weltkrieg war die schwarze Wolke, die jeder kommen hätte sehen müssen und die niemand verhindern wollte. Der Faschismus die Konsequenz aller Inkonsequenten, die das Verlieren und Versagen nicht ertragen konnten.
Nur so ist es zu erklären, wenn Friedell in seinem Epilog schreibt „Es gibt keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate„. An- und abschließend bietet er fünf Möglichkeiten an, wie sich die politishe Welt entwickeln wird – die erste wie die letzere ist eingetreten:
Kein Zufall, da Friedell Novalis als den Philosophen der Romantik, als einzigen ehten Gegenspieler zum Klassizismus begreift, dass er im Epilog ein Zitat des verehrten Denkers voranstellt: Wir sind im Begriff, zu erwachen, wenn wir träumen, daß wir träumen.
Foto Bernd Oei, Hoya, Weserbrücke, „Grafschaft „Blaues Wunder“ in Anblehnunbg an die Dresdner Elbbrücke
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