
Foto Belinda Helmert: Kunstschule Stolzenau, 1994 gegründet nach dem Motto von Georges Sand (bürgerlich: Amantine Aurore Lucile): Die Berufung des Künstlers ist es, Licht in die Herzen der Menschen zu schicken.
Holde Weinseligkeit
Denkt man an einen Dichter, der sein Leben komplett der Kunst verschrieb und ihr alles unterordnete, so führt kein Weg an Stefan George, geboren am Rhein unweit Bingen, vorbei. In seinem Geburtsjahr 1868 verlieh man nominell den „Schwarzen“ Afroamerikanern die amerikanischen Bürgerrechte. Erst hundert Jahre später erfolgte die Aufhebung der Rassentrennung. In Deutschland befand man sich durch den Sieg gegen Österreich auf dem kleindeutschen Weg zur kleindeutschen Reichsgründung. und Friedrich Nietzsche zählte mit seinen 24 Jahren zum jüngsten Professor des Landes.
George entwickelte sich polyglott und kosmopolitisch, lebte an verschiedenen Wohnorten und sprach sechs Fremdsprachen fließend, übersetzte u. a. Dante und Baudelaire. Mit „Blätter für die Kunst“ gründete er auch einen eigenen Verlag (Privatdruck mit zuletzt maximal 2000 Ausgaben). Wenn vom Georgekreis (Auflösung mit dem Tod des Dichters 1933) die Rede ist, so besaß der niemals einen festen Sitz, sondern bezieht sich auf den engsten Kreis seiner „Jünger“. Darunter befanden sich spätere Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich, Antisemiten, Kosmiker und Realpolitiker: sie huldigten der Schönheit.
George, Sohn eines katholischen Weinhändlers und wuchs zwischen den Reben auf. So verwundert es wenig, dass der Asket am späten Vormittag ein Glas Rebensaft zu sich nahm. Da George abends beim Gespräch oder zum Essen wahrscheinlich eine weitere Flasche öffnen ließ, dürfte er an guten Tagen auf zwei Flaschen Wein gekommen sein. Von seinem deutschen Vorbild Goethe weiß man, dass er nicht selten etwa zwei Liter Wein pro Tag trank, gerne schon zum zweiten Frühstück ein Glas Süßwein und mittags eine Flasche alleine leerte. Von seinem italienischen Idol Dante berichtet man Ähnliches. Da der Alkoholgehalt damals wesentlich geringer war, muss man nicht das Schlimmste befürchten. In Bündesheim dominieren Gewürztraminer und Chardonnay.
In seinen Gedichten kommt so manches Wort auf die Rebe. So sind es im Gedichtzyklus der Siebente Ring 1907 (nach dem Bruch mit Hugo von Hofmannsthal ) sieben Poeme, die die bacchantischen Freuden erwähnen. So auch in „Pence Pigadia“ (Pigadia heißt Brunnen, nach dem vier Orte in Griechenland benannt sind). Die vierte und letzte Strophe lautet: „Wir preisen ihn froh dass des gottes volle / Die für das wort und die gestalt verscheiden / Die Kalte erde immer noch gebiert / Und dass es rollt bei ihrer namen tone In unsren adern wie ein edler wein / Und tage noch verheisst wo wir erwachen / Wie neu: wo uns gelöst von jedem band Fern-dunKel locken und fahr-freude winkt.“
Quelle: Der Siebente Ring https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/24/mode/2up?q=Wein
Grundsätzlich schreibt George alle Worte bis auf den Anfangsbuchstaben des Verses klein und prinzipiell bestehen alle Gedichte des „Siebenten Rings „aus vier Achtzeilern. Bei ihm herrscht strenger Formalismus vor. Ein Rädchen muss ins andere greifen und alle Gedichte beziehen sich auf eine Mitte.

Foto Belinda Helmert: Kunstschule Stolzenau in der Schulstraße, Eingangstor, Detail. Die Kunsthochschule ging aus einer holländischen Schule für Kinder der Luftwaffeneinheit hervor. Bei der Gründung im Kaiserreich diente das Gebäude als Grund- und Hauptschule und die Gemeinde gehörte zum Preußischen Königsreich. Als Erfinder des Fahrrads gilt Baron von Drais 1817.
Der Vers ist alles
Bei Stefan George wird lange Zeit alles zum Symbol und Poesie zur Geheimsprache. Im „Siebtenten“ Ring gibt er erstmals etwas von der Verrätselung preis. So widmet er Dante den ersten, Goethe den zweiten und Nietzsche den Einige Schlüsselbegriffe Nietzsches variiert George; so nennt er die Wiedergeburt des Gleichen „Vorgeburten des Ewigen Ring“, die dionysischen Archaik wird zum esoterischen „Stern des Bundes“. Kein Künstler nimmt das Kultische so genau und wichtig wie der George und sein Kreis. Auf „Gott ist tot“ folgt das Elysium als „weltliches Kloster der Offenbarung“. Diese besteht aus dem reinen Schönheitskult, da nur das Makellose und Reine, der Formalismus, wahrhaftig wirkt.
George legt den „Wille zur Macht“ als Wille zur Lust am Schönen aus einem inneren Machtgefühl heraus und die „Umwertung aller Werte“ als Hinwendung zum „Wert der Schönheit“ aus. Der Poet ist folglich Prophet, Erlöser und Überwinder des Nihilismus in personifizierter Form; aus dem abstrakten Gottesmenschen wird ein „Menschengott“ und dies ist der asketisch nur für die Kunst lebende Dichter.
In seinen elitären „Blätter für die Kunst“ setzt George Nietzsches „großen Stil“ mit Ästhetizismus und Metaphysik mit Ästhetik, gleich. Der höchste Form ist der Kunsttrieb, die größte Macht die Schönheit, ein ätherischer Rausch. Der „Übermensch“ ist das Ziel der Poesie; darunter wird der rein ästhetisch empfindende, nur für den Kunstgenuss lebende Mensch, der Auserwählte verstanden. Da George viele Anhänger aus politisch unterschiedlichen Richtungen besitzt (manche werden aktive NSDAP Funktionäre, andere Widerstandskämpfer) muss der Zeitgeist den idealen Nährboden für ein so hohes Maß an ätherischer Empfindlichkeit vorgelegen haben und der Kreis frei von politischer Diskussion bleiben. Georges Kunst ist absolut: „der vers ist alles.“
Das Poem besteht aus vier Strophen zu acht reimlosen Zeilen, im Dithyrambus, Nietzsches bevorzugten Versmaß.„Gott ist tot“ („doch ich fürchte, wir werden ihn nicht los, so lange wir noch an die Grammatik glauben“) bedeutet für George, dass eine neue folgen Dichtung und eine nie da gewesene Form der Kunst die alten Formen überwinden muss, damit das Absolute, eine Kunstreligion daraus entsteht. Paradox: die objektive Wahrheit liegt nun in der radikalen Subjektivität, die äußere erfährt ihre Bedeutung im Inneren und geht darin auf. Das dritte Oktett aus „Nietzsche“ lautet:
„Erlöser du! selbst der unseligste -/ Beladen mit der Wucht von welchen losen / Hast du der Sehnsucht land nie lächeln sehn? /Erschufst du götter nur um sie zu stürzen /Nie einer rast und eines baues froh? / Du hast das nächste in dir selbst getötet / Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern / Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit.“
Quelle: Der Siebente Ring, https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/12/mode/2up?q=get%C3%B6tet

Foto Belinda Helmert: Kunsthochschule Stolzenau, Seitenwand. Die Kleinstadt im Landkreis Nienburg zählt heute etwa 7000 Einwohner
Trümmer-Rausch
Neben den Zeitgedichten, dem die ersten beiden Textbeispiele entnommen sind, fügt George sechs weitere ein: Gestalten, Gezeiten, Maximin, Traumdunkel ,Lieder und Tafeln. Der Titel „Der „Siebente Ring“ spielt auf das Kapitel „Die sieben Siegel“ in „Also sprach Zarathustra“ III an. Sieben Jahre vor dem Ring hat George „Algabal“ veröffentlicht und sieben Jahre nach dem Ring publiziert er „Der Stern des Bundes“. Allein dies veranschaulicht den Wert von Symbolik und exakter Planung. Formal und inhaltlich rückt die Ewige Wiederkehr des gleichen in den Mittelpunkt. Georges Gedichtzyklus lässt zahlreiche Metaphern wiederkehren und variiert ihre symbolische Bedeutung: Schatten, Donner und Lachen an. Auch der Herbst, die Zeit der Ernte und der Reife, seine liebste Jahreszeit, findet Erwähnung
Aus dem vermeintlich Toten entsteht Neues: „Da waren trümmer nicht noch scherben“ lautet die Anfangszeile aus einem Poem des Zyklus „Gezeiten“. Nietzsches „Trümmer“ sind nicht nur materielle Ruinen, sondern auch geistige und kulturelle Hinterlassenschaften. Sie stehen für die Überreste einer alten Ordnung, die durch den „Tod Gottes“ und die Dekonstruktion der traditionellen Moralkonzepte ins Wanken geraten ist. Rausch und Sinnlichkeit
„Trümmer“ besteht aus drei Quartetten im Kreuzreim:
Da waren trümmer nicht noch scherben / Da war kein abgrund war kein grab /Da war kein sehnen war kein werben: /Wo eine stunde alles gab.
Von tausend blüten war ein quillen / Im purpurlicht der zauberei. / Des vogelsangs unbändig schrillen / Durchbrach des frühlings erster schrei.
Das war ein stürzen ohne zäume /Ein rasen das kein arm beengt – / Ein öffnen neuer duftiger räume /Ein rausch der alle sinne mengt.
Quelle: Der Siebente Ring:
https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/84/mode/2up?q=scherben
Zu hören unter https://www.youtube.com/watch?v=fTFLEYOGGDY

Foto Belinda Helmert: Kunsthochschule Stolzenau. Der Ortsname leitet sich von Stolze Aue ab und wurde zeitweise Residenz(burg) des Grafen von Hoya.
Der Worte Durst und singende Brunnen
Der Georgemythos wuchs steil und Nietzsche hatte eine dienende Funktion in diesem kultischen Zeremoniell. Kultus als Religionsersatz, Dichtung als Lebensaufgabe, Rausch der Worte. Das Priesterliche und Pastorale zieht sich als elegischer Grundton durch die Lyrik des Siebenten Rings. Ein solches Erleben kann Poesie heute kaum noch sein, auch eine solche Ergebenheit einem Dichter gegenüber, wie ihn der Georgekreis in seiner Heiligen-Verehrung aufbot, dürfte schwerlich mit rein sprachlichen Mitteln nachvollzogen werden, gleicht es doch mehr der Faszination an einem Popstar. Doch die Zeit, in der George und die seinen lebten, war durstig nach Worten
Zweifellos hat George den Weg in die moderne an Klängen orientierte musikalische Dichtung geebnet nach seinen Vorbildern der l’art pour l’art und des Symbolismus Baudelaire und Mallarmé. Bei seinem Aufbruch, der untrennbar mit Nietzsche verbunden ist, schien noch so vieles, vielleicht alles möglich und die Würfel noch nicht gefallen, die Brunnen nicht sämtlich versiegt. So schreibt Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ I, Das Nachtlied: “ Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.“
George antwortet in „Nacht“ aus dem Zyklus „Traumdunkel“ in der vierten Strophe im Paarreim:
„Horch eine stimme wird wach! / Blüten-umsponnenem fach / Heiliger brunnen entsprang · /Sendet den einfachen sang“
Quelle: „Nacht“, Der Siebente Ring, https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/136/mode/2up?q=Brunnen

Foto Belinda Helmert: Brunnen, Stolzenau im Stadtzentrum
Protest gegen das graue Mittelmaß
Purpur ist seine Farbe, Kunst ist seine Religion, ist heiliges Gebet und der Dichter Prophet. „Der Widerchrist“ aus dem Zyklus „Gestalten““ ist eine Anspielung auf Nietzsches „Der Antichrist“. Es besteht aus neun Terzetten, teilweise im Paarreim und teilweise reimlos und die sechst Strophe lautet: „Und was sich der große Prophet nicht getraut / Die Kunst ohne roden und säen und baun / Zu saugen gespeicherte Kräfte.„
Die Priorität liegt auf der ästhetischen Wirkung, dem Rausch. Sie allein führt aus der Bedeutungslosigkeit, der Leere oder der kalkulierenden Geschäftstätigkeit des rationalen Denkens heraus. Das Motto, dem George alles unterordnet,lautet: „Nur was aus dem Leben kommt, ist Kunst, die wieder aufs Leben wirkt.“ Sie besteht auch aus inszenierten und einstudierten Rollenspielen.
Mit der Erscheinung 1907 von „Der siebente Ring “ wendet sich George vom puren Ästhetizismus gleichsam ab, denn die kritischen Töne am Zeitgeist, der Tristesse des Wilhelminismus, sind nicht zu überhören. Damit übernimmt George in seinem umfangreichsten Gedichtzyklus. die Ablehnung Nietzsches gegenüber dem jungen Kaiserreich umfangreichsten Gedichtzyklus. Auch deshalb lautet der Titel des ersten Zyklus „Zeitgedichte“. Darüber hinaus wird aus dem Spracherneuerer ein Dichter-Seher in finsteren Zeit, ein Menetekel der Dekadenz und eine Kassandra vor der drohenden Apokalypse. George wendet sich von der Antike ab und der Gegenwart in ihrer Mediokrität zu und inszeniert sich als Künder einer hehren Zukunft.
Gleich das erste Poem lautet „Zeitgedicht“, bestehend wie alle anderen zu diesem Zyklus gehörigen Gedichte, aus vier achtversigen reimlosen Strophen.“
Nur niedre herrschen noch · die edlen starben: / Verschwemmt ist glaube und verdorrt ist liebe. / Wie flüchten wir aus dem verwesten ball?“
Lasst euch die fackel halten wo verderben / Der zeit uns zehrt · wo ihr es schafft durch eigne / Erhizte sinne und zersplissnes herz. Ihr wandelt so das Haupt bis ihr die Schönen / Die Großen nicht mehr seht ….
Quelle: https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/32/mode/2up?q=herrschen

Foto Belinda Helmert: Kunstschule Stolzenau. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das Puppenmuseum.
Entrückung
Der Erde entrückt will er sein, nicht verrückt werden in ihrem Tollhaus. Mit Nietzsche teilt George den Vorwurf mancher, die es nicht besser wissen wollen und noch mehr, die beides nicht unterscheiden können, des Faschismus. Fakt ist, George wehrt sich gegen alle Versuche der NSDAP, ihn für den deutschen Dichterbund zu gewinnen. Fakt ist, dass George wie Nietzsche Massen verachtet, den Pöbel gering schätzt und sein ästhetisches Naturell Lärm und Gewalt verabscheut. Fakt ist auch, dass er für Nationen nichts übrig hat, weil seine Währung die Dichter und die Poesie bilden, ein Oscar Wells, ein Dante, ein Rimbaud, ein Unamuno. Sein elitäres Denken kennt weder Rassismus noch Anti-Semitismus, was sogar zum Bruch vor dem „Ring“ mit manchen Georgejüngern in München führt. George wirkt auf die beiden Brüder Stauffenberg, spätere Mitglieder des Widerstands und auf die Weiße Rose.
Daher ist der Film https://www.youtube.com/watch?v=FTS_cbTY204 mit Vorsicht zu genießen und nicht jedes Rätsel mit Unverständlichkeit gleichzusetzen. Das Paradox oder das Oxymoron bilden keinen Dualismus oder Antagonismus, sondern Perspektiven der Totalität allen Seins, das in Zahlen und Maßen nie aufgeht. Alles fließt. Vier Gedichte handeln im „Siebenten Ring“ vom Wasser, dem Quell alles Lebens.
Im besagten und bereits zitierten „Der Widerchrist“ lautet das erste Terzett: mit Anspielung an den von den Bergen wiederkehrenden Zarathustra, zugleich dem Weingott Dionysos und dem Wundertäter Christus: „Dort kommt er vom berge · dort steht er im hain! / Wir sahen es selber · er wandelt in wein / Das wasser und spricht mit den toten.“
Im Zyklus „Traumdunkel“, der nur Quartette erlaubt, heißt es in „Landschaft III“ (5. Strophe) : „In einer enge von verbliebnem eise / /Vorüber an verschneiten felsenstöcken / Gelang ich zu den drohenden riesenblöcken / Wo starre wasser stehn im öden gleise.“
Quelle: Landschaft III https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/134/mode/2up?q=Wasser
Im letzten Zyklus „Tafeln“, angelehnt an „Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ III „Von alten und neuen Tafeln“ und an dessen Versprechen „wie man mit dem Hammer philosophiert“, bestehen zahlreiche Gedichte nur aus einem Quartett wie „Rhein II“ : „Einer steht auf und schlägt mit mächtiger gabel / Und sprizt die wasser güldenrot vom horte . / Aus ödem tag erwachen fels und borte / Und pracht die lebt wird aus der toten fabel.“
Quelle: Rhein II https://archive.org/details/dersiebentering01geor/page/198/mode/2up?q=Wasser

Foto Belinda Helmert: Weser(hafen) Stolzenau am linken Flussufer Weserkilometer 243,5 mit fünf Liegeplätze für Sportboote.
Das Gedicht „Entrückung stammt aus dem Gedichtzyklus Maximin“, den George dem im Alter von 16 Jahren verstorbenen Lieblingsschüler und Nachfolger von Hofmannsthals, Maximilian Kronberger widmet und bildet seinen Abschluss. Das Poem besteht aus acht Terzetten. Vorgelesen entweder in der Fassung https://www.deutschelyrik.de/entrueckung.html oder https://www.youtube.com/watch?v=hvRYppveDEs
Hervorzuheben ist die vorletzte Zeile „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer“
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