Ein Kloster und kein Mönch … aber Dichter

Foto Bernd Oei: reetgedecktes Nachbarhaus von Gerhart Hauptmann in Kloster, Kirchstraße auf Hiddensee. Den schlesischen Hauptvertreter des Naturalismus verband ein inniges Band mit der nördlichsten der drei Inseldörfer und lässt sich mit seiner zweiten Frau hier nieder. https://www.hauptmannmuseum.de/gerhart-hauptmann

Fuhrmann Henschel

Auch wenn der Fünfakter, uraufgeführt 1898 im Deutschen Theater Berlin wie die meisten Stücke von Gerhart Hauptmann in seiner schlesischen Heimat angesiedelt bleibt, so könnte er sich ebensogut auf Rügen zutragen, wo Hauptmann an seiner Prosa feilte, zumindest an seinen Spätwerken. Die Entstehungsorte des zum Naturalismus zählenden Werks sind Dresden (Elbflorenz) und Tremezzo (Comer See). Der Erotomane pendelte seinerzeit zwischen seiner ersten Ehefrau und der Berliner Schauspielerin Margarete Marschalk, die seine zweite Ehefrau werden sollte und die tragende Rolle der Hanne Schäl verkörperte. Dass der naturverbundene Autor selbst sein Schlesien mit Rügen verglich, daran bestehen keine Zweifel.

Der frühe Hauptmann stand besonders Frank Wedekind nahe; beide gelten um die Jahrhundertwende zurecht als Hauptvertreter des deutschen Naturalismus. Wie in zahlreichen anderen Stücken, etwa „Vor Sonnenaufgang“ oder „Rose Bernds“ bilden das Motiv Sexualtrieb neben dem Einfluss des Milieus auf die eigenen Handlungen und der Anspruch, die Gesellschaft nicht verklärt, sondern wirklichkeitsgetreu abzubilden, das Hauptanliegen. In „Fuhrmann Henschel“ ist hier jedoch nicht die Frau das Opfer, vielmehr Täterin, sondern ein scheinbar geerdeter und erfolgreicher Mann, der am Ende Suizid begeht. In meinem älteren Blog bildet „Rose Bernds“ den roten Faden, um den im heutigen Polen gebürtigen Salzbrunner und Wahl-Rügener abzubilden.

Die Familie Mann war später zu Gast bei Gerhart Hauptmann auf Hideensee. Der Nobelpreisträger von 1912 hatte mit seiner Gattin Margarete Hauptmann 1930 das Häuschen in Kloster gekauft. Zu den geladenen trinkfreudigen Gästen gehörten u.a. Hans Fallada, Gustaf Gründgens, Helene Weigel, Berthold Brecht, Albert Einstein, Sigmund Freud, Mascha Kaléko, Heinrich George, Carl Zuckmayer und Joachim Ringelnatz. 1924 pflegten Hauptmann und Mann noch ein distanziertes Verhältnis auf Hiddensee. Mann vertrug es nicht, im Schatten eines anderen zu stehen und schuf in seinem „Der Zauberberg“ mit der Figur Mynheer Peeperkorn ein wenig schmeichelhaftes, weil egozentrisches, Porträt des literarischen Rivalen. https://www.ostsee-zeitung.de/lokales/vorpommern-greifswald/greifswald/konkurrenz-der-dichterfuersten-hiddenseer-gaestebuecher-aufgetaucht-I7NLADFT7H6ZYQPWZOJLZ2CS6U.html

Foto Bernd Oei. Hauptmanns Anwesen Seedorn in Kloster, Hiddensee, Kirchweg 13. Der Schriftsteller erwarb es 1930, er kehrte alljährlich zur Sommersaison bis 1943 hierher zurück. Das Haus selbst ist zehn Jahre älter und heute noch ein Museum für den Literaten, der die Insel erstmals 1885 betrat und nie wieder von ihr loskam. https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhart-Hauptmann-Museum_(Hiddensee

Der Untergang des Patriarchats

Zu hören ist „Fuhrmann Henschel“ auf https://www.youtube.com/watch?v=8Sk5ANIC_80. Zu lesen (nachfolgende Zitate sind daraus entnommen) auf https://www.projekt-gutenberg.org/hauptmag/henschho/chap004.html. Eine Gliederung der Handlung gemäß der fünf Akte liefert https://de.wikipedia.org/wiki/Fuhrmann_Henschel. In eigenen Worten zusammengefasst: Der erfolgreiche Fuhrunternehmer (Pferdekutschen) Hentschel, zudem Eigentümer des Lokals „Zum Grauen Schwan“ verspricht seiner Frau auf dem Totenbett, sich nicht mit seiner Magd Hanne einzulassen. Er wird wortbrüchig und verstrickt sich in sexuelle Obsession, die ihn zunehmend blind werden lässt für deren Intrigen nach der Hochzeit. Im selben Maß, wie die Mutter eines unehelichen, von ihr verleugneten Kindes die Geschäfte führt, lässt sich der einst so geerdete und besonnene Mann gehen, bis ihm am Ende, als Schuldgefühle ihn einholen und er die Realität des Ehebruchs nicht länger verdrängen kann, nur der Ausweg des Suizids bleibt.

Bereits in der Erzählung „Bahnwärter Thiel“ wird der männliche Protagonist nach dem Tod der ersten „guten“ Ehefrau Opfer sexueller Obsession und verfällt einer schamlosen zweiten Ehefrau, was ihn, gleichfalls ausgelöst durch Kindstod, in den Wahnsinn treibt. Hauptmann wechselt kaum den Ort; Wirtshaus und Privatwohnung bilden die einzigen Schauplätze. Das Drama spielt sich im Inneren, in der Seele des Fuhrmanns ab, wobei die Zeichen der Zeit, die Industrialisierung dazu beitragen, dass er sich immer weniger in der äußeren Welt zurechtfindet. Seine Flucht in den Geschlechtstrieb ist auch eine Folge zunehmender Orientierungslosigkeit und Identitätsprobleme. Hauptmann war alles andere als aufgeklärt; er blieb ein Patriarch der alten Schule. Von daher lesen sich „Fuhrmann Henschel“ wie „Bahnwärter Thiel“ (da beide Anti-Helden an stärkeren Frauenfiguren scheitern) wie der Untergang des Patriarchats.

Foto Bernd Oei: Inselfriedhof Kloster, Hiddensee, Grab (Findling) Gerhart Hauptmann (1862-1946), der in seiner schleßischen Heimat verstarb und seiner Frau Margarete (1875-1957). Die Verhältnisse sind buchstäblich in Stein gemeißelt. https://www.kirche-hiddensee.de/der-inselfriedhof-in-kloster/

Foto Bernd Oei: Rehe auf dem Friedhof Kloster, einer von vier Ortsteilen der Insel Hiddensee, die Teil Rügens bildet. Den Namen verdankt der Ort einem im 13. Jahrhundert gegründeten Zisterzienserkloster.1962, ein Jahr nach dem Mauerbau wurden auch Rehe auf der Insel ausgesetzt.

Grau ist die Farbe von Asche und Blei

Selbstverständlich wurde auch dieses Drama von Nobelpreisträger Hauptmann verfilmt. In einer Variante von 1956 spielt Nadja Tiller, damals ein Sexsymbol, die Hauptrolle der skrupellosen Magd, die um jeden Preis sozial aufsteigen will. Ob sie ihre Herrin vergiftet bleibt unklar; die Tochter und deren Vater (er krepiert am Alkohol) vernachlässigt sie in jedem Fall, selbst als sie Henschel adoptiert. Gleichfalls offen bleiben die Umstände des Todes der ersten und einzigen Tochter des Fuhrmanns, dessen Charakter zwischen bodenständig und naiv angesiedelt ist. Wie es in der Filmkritik treffend heißt: „Für den Kapitalismus, der auch in der Abgeschiedenheit der Berge Einzug hält, ist Henschel nicht gemacht.“ https://www.critic.de/film/fuhrmann-henschel-10453/

Der Name des Lokals grauer Schwan ist von Hauptmann-typischer symbolischer Aussagekraft: gut und böse, schwarz und weiß, verschwimmen zu grau. Grau ist der Alltag der Bauern, die Trost in Alkohol oder erotischen Abenteuern suchen. Grau ist die Zone zwischen bewussten und unbessten Untergang, dem Henschel zusteuert, denn der vitale und pragmatisch veranlagte Mann wird nicht nur Opfer von häuslichen Intrigen oder Ehebruch; auch sein Aberglaube (oder Gottesfurcht, weil er einen Eid gebrochen hat), der Toten nicht den letzten Wunsch erfüllt zu haben, bildet nur den Teil eines Mosaiks. Hauptmann will ein Exempel für den Niedergang (die Dekadenz) der Gesellschaft statuieren. Das Wilhelminische Kaiserreich und die damit verbundene Industrialisierung zerstört erst die Tradition, dann die Natur und zuletzt sich selbst.

Grau ist die Farbe von Asche: am Anfang und am Ende steht der Tod, aus Staub ist der Mensch gemacht, zu Asche muss er wieder werden. Grau ist die Farbe von Industrieprodukten, Blei oder Stahl, Beton, Zement. Aber auch von herbstlich nebulösen Wetter, das die vitalen Farben des Lebens verschluckt.

Foto Bernd Oei: Kapelle auf Kloster, Hiddensee. Der Neubau erfolgte Anfang, der aktuelle Umbau Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Freund von mir wurde hier getauft. Die Ausmalung der Tonnendecke mit Rosen erfolgte 1921/1922 durch den Berliner Maler Nikolaus Niemeier. In „Fuhrmann Henschel“ spielt auch der Gottesglaube bzw. Schicksalsmacht (Deismus als Form des Determinismus) eine tragende Rolle: der Witwer bricht seinen, der Sterbenden geleisteten, Eid.

Foto Bernd Oei. Votivschiff im Innenraum der Inselkirche Kloster auf Hiddensee. Sie wurdenvornehmlich für Fischerfamilien, die Gottesdienste besuchten und um Trost und Beistand beteten, angebracht. https://www.nordkurier.de/kultur/schiffe-schweben-unterm-kirchendach-2718732

Der Mensch als Mängelwesen

Einer Interpretation nach behandelt Hauptmann im Drama milieubedingter Familienkonflikte, da der Anti-Held passiv sich seinem angeblich selbst verschuldeten Schicksal fügt und als Repräsentant einer nicht mehr überlebensfähigen Ökonomie steht. Auch der Sozialdarwinismus erscheint inkludiert: die gute, aber schwache und zuletzt kranke Frau Henschel reibt sich auf und stirbt. Die jüngere, wesentlich an der modernen Wirtschaft geschulte Magd, überlebt. Der Mann, anfangs stark, am Ende hilflos, stirbt ebenfalls. Das Unterdrückende, das Böse, die rücksichtslose Geldgier triumphieren. Mit der Romantik (Pferdedroschken) ist es mit der Eisenbahn endgültig vorbei. https://www.abipur.de/hausaufgaben/neu/detail/info/154184785.html

Hauptmann, typischer Vertreter des Naturalismus, zeigt die Schwächen, den Makel Mensch. Hanne gelingt es, die dunkle Seite ihres Mannes zum Vorschein zu bringen: aus Gemütlichkeit wird Passivität, aus Moral Selbstanklage. Sie entfremdet den Gatten seiner Mitwelt. Indem sie die Zweifel des einer anderen Wirtschaftsform nachtrauernden Witwers nährt, forciert sie dessen Untergang: Henschel, zunächst unsicher geworden, mutiert zu einem völlig in sich gespaltenen Menschen, der sich aufgibt. Seine Vitalität schlägt um in Lethargie. Das Gewissen fordert unerbittlich seinen Preis.

Neben dem schwachen Henschel und der bösen Magd (sofern diese schematische Typologisierung zulässig ist) steht der scheinbar gute und rational mit Rat und Tat beistehende Siebenhaar, ein Freund und Schuldner des Fuhrmanns, da er seinen Kredit an diesen nicht zurückzahlen kann. Vordergründig repräsentiert er das auf Prestige bedachte Bürgertum mit seiner Schulweisheit, genauer betrachtet führen seine gedankenlosen und oberflächlichen Ratschläge, zu der auch die Heirat mit der fleißigen und klugen Hanne gehören, in den Untergang. Seine bourgeoise Intelligenz bleibt ohne Seelentiefe.

Foto Bernd Oei: Hotel Hittim am Hafen von Kloster, Hiddensee. Das 1997 liebevoll restaurierte, historische Fachwerkhaus auf dem Grundstück des alten Zisterzienserklosters wurde 1907 erbaut. Hier residierten zahlreiche Künstler, u. a. Thomas Mann samt Familie. Juli 1924 logierten die beiden Nobelpreisträger gleichzeitig im Haus am Meer. https://www.nordkurier.de/regional/ruegen/prominente-gaste-waren-vor-100-jahren-auf-hiddensee-1194414

Foto Bernd Oei: Hiddensee, Kloster, Seitenansicht Hotel Hitthim. https://hitthim.de/wordp/ Im Juli 1924 residierte Hauptmanns Clan in der Bel Etage oben, Thomas Mann samt Familie im weniger komfortableren Stockwerk über ihn. Während die Manns im Speisesaal essen mussten, wurde den Hauptmanns das deutlich bessere Essen in deren Zimmern serviert.

Folgende Zitate sind dem Stück „Fuhrmann Henschel“ entlehnt und widerspiegeln Haltung bzw. Maxime von Philosophen bzw. Literaten.

Ich soll woll mei Fell verkoofen, wegen deiner.“ (1. Akt): Der Mensch ist des Menschen Wolf (Thomas Hobbes)

Und wenn ich tot bin, nimmt er se doch!“ (1. Akt): What do I care about my chitchat from yesterday? (Oscar Wilde)

Gedanken sind zollfrei.“ (2. Akt): Die Gedanken sind frei (Volkslied und Protestlied gegen die Zensur im Vormärz nach dem Text von A.E. Hoffmann)

„Sind Sie aber mit sich erst einig, dann vorwärts, Preußen! was ist dann zu zögern!?“ (2. Akt): „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ (Marsch von Carl Latann während des deutsch-französischen Krieges bei Sedan)

Ich denk‘ immer, ’s werd amal andersch wem, aber’s wird bloß immer schlimmer.“ (3. Akt) : Es kommt, wie es kommen muss ist die Ausrede aller Faulpelze (Wilhelm Raabe)

Ich könnte mich mausetot tanzen“ (3. Akt) : Die Gesellschaft amüsiert sich zu Tode (Neil Postman)

Der eene weeß das, und der andre weeß jenes. Damit wissen se beede an’n Dreck.“ (4. Akt): Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich. Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten. (Goethe)

Jagen Sie diese Gespenster fort. Das sind Hirngespinste, sind Phantasien. Sie müssen doch wieder der alte werden.“ (5. Akt): Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts. (Kierkegaard)

Gespenster erscheint die symbolträchigste Metapher, eine Metonymie, das pars pro toto von allem. Grundsätzlich handelt das Drama um den Untergang eines unzeitgemäßen Menschen, der an der Kluft zwischen Selbst- und Fremdbild zerbricht und von der Einsamkeit, weil keiner der vorkommenden Personen zu einer tiefergehenden Beziehung fähig ist. Die gute Seele des Hauses, die erste Frau Henschel, stirbt mit 36 Jahren. Gesellschaftlich betrachtet verdankt der Mensch als einziges Tier mit einer Moral seinen evolutionären Vorsprung Gedankendingen. Negativ gewendet ist Fuhrmann Henschel ein Opfer seines zur Selbstbestrafung ausufernden Gewissens.

Foto Bernd Oei. Bootsanleger am Ufer bei Vitte, Hiddensee mit Blick auf die Ostsee. Wer Einsamkeit such, wird hier fündig. Der Name des größten Ortsteils auf der Insel stammt von Vitten, womit im Mittelalter Heringsfang- und Fischhandelsplätze bezeichnet wurden.

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