
Foto Belinda Helmert: Dangast, Skulpturengarten. Der Skulpturenpfad Kunst am Deich ist ein zweiteilig: sieben Objekte nehmen sich der Genesis an, 8wetlicher Pfad), weitere sieben der Sintflut (östlicher Pfad). Das Meer nimmt und gibt.
Schlaflos durch den Tag
Der Wiener Schriftsteller Hermann Broch (1886-1951) schrieb bevorzugt über das Ohnmachtsgefühl seiner Generation gegenüber der eigenen Epoche, die er in seinem Hauptwerk, der Trilogie „Die Schlafwandler“ (1930-32) festhält. Der Titel suggeriert bereits das somnambule Dahindämmern einer trägen Masse bis zum tragischen Erwachen. Der Titel spielt an ein Kapitel aus „Also sprach Zarathustra“ an; Broch rezipierte Nietzsche seit seiner Jugend (wenngleich sein Schwerpunkt der Wiener Kreis des Positivismus um Schlick und Carnap war) und er kannte daher die Stelle, an der Zarathustra den Weisen – er rät zur Wachsamkeit am Tage, damit man nachts gut schlafen kann – für unzeitgemäß erachtet und warnt: „Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstühle war Weisheit der Schlaf ohne Träume: sie kannten keinen bessern Sinn des Lebens. Auch noch heute wohl giebt es Einige, wie diesen Prediger der Tugend, und nicht immer so Ehrliche: aber ihre Zeit ist um.“ (Also sprach Zarathustra“ I, Von den Lehrstühlen der Tugend)
Broch spricht im Epilog vom „Zerfall der Wirklichkeit“ durch den Zerfall aller Werte, die gemeinhin Thema Nietzsches sind. Die einzelnen Episoden der drei Teile tragen sich 1888, 1903 und 1918 zu und sind in ihrem Anspruch, die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu analysieren mit Heinrich Manns Trilogie „Das Kaiserreich“ (Professor Unrat, Der Untertan, Der Kopf) vergleichbar, zumal sie in verschiedenen sozialen Milieus angesiedelt sind Brochs dreiteiliger Roman mit seinen zahlreichen Neben- und Parallelhandlungen verzahnt jedoch die Protagonisten untereinander und besteht somit aus den drei ineinander verflochtenen Werken: „Pasenow und die Romantik“ (Teil 1), „Esch und die Anarchie“ (Teil 2) und Huguenau oder die Sachlichkeit“ (Teil 3).
Einen sehr ausführlichen Überblick (Beitrag 51 Minuten) über die „mathematische Konstruktion“ der Schlafwandler Trilogie liefert ein an der Universität Freiburg gehaltener Vortrag https://video.uni-freiburg.de/category/audio/hermann-broch-die-schlafwandler-193132/37d66d787c00173c9abb62b4d9eb35b1/51

Foto Belinda Helmert: Dangast, Skulpturenpfad am Strand und im Sand. Dusche, kein Kunstobjekt ….
Romantik – Anarchie – Sachlichkeit
Im ersten Teil ist der ostelbische Offizier Joachim Pasenow die Hauptperson, ein anfangs verunsicherter Leutnant, am Ende General, zudem ein sich treibend lassender Einzelgänger, der im Militär Halt und seine Ersatzfamilie findet und dem die Uniform sein Panzer und zweite Haut wird. Er steht zwischen zwei Frauen, damit der Sinnlichkeit und der Pflichterfüllung bzw. Vernunftehe, für die er sich letztlich auch entscheidet. Halt und Identität sucht er bei der Armee.
Im zweiten Teil geht es schwerpunktmäßig um den Kleinbürger und Buchhalter August Esch, der sich nach einer ungerechtfertigten Entlassung mit diversen Arbeiten durchschlägt und mehrfach mit sozialen seinen Integrationsversuchen scheitert, zuletzt als Theaterbetreiber sein letztes Geld verliert. Sein Orientierungspunkt bildet die Arbeit und auch die Eroberung von Frauen, mit denen er seine Minderwertigkeitsgefühle kompensiert. Er wird am Ende von Hugueneau ermordet.
Der abschließende Teil wendet sich dem Deserteur, Kaufmann und Zeitungsaufkäufer Hugueneau zu, der mit kriminellen Methoden den Opportunisten des aufkommenden Nationalsozialismus verkörpert. Der skrupellose Mann versucht im Erfolg (Vorbild Krupp), zumeist finanzieller, bisweilen auch herrschaftlicher Art, seine Identität zu finden.
Romantik (Sehnsucht nach dem Großen Ganzen), Anarchie (soziale Gerechtigkeit der Gleichgestellten) und Sachlichkeit (rational pragmatisches Kalkül)erweisen sich als Dytsopie, als falsche Leuchtfeuer der Hoffnung, als Vorboten des Untergangs. Die Erzählzeit bewegt sich von 1888 bis 1918 und dient als Erklärungsmodell, wieso es zum Faschismus kommen konnte, denn dieser bildete eine Folge aus dem Niedergang des Kaiserreiches und dem Ersten Weltkrieg. Über allem steht bei Broch Wertezerfall, sowohl moralisch, kulturell als auch politisch, ökonomisch und sozial. Wenn alles möglich und gleichberechtigt nebeneinander steht, dann ist eben nichts wirklich und wertvoll.

Foto Belinda Helmert, Skulpturenpfad, Kaiserthron. Auch dieses Objekt hat nichts mit der Genesis gemein, sondern verweist auf den legendären Wikinger-Kaiser, der im 13. Jahrhundert die Küste und das Land Dangast eroberte. Der Kaiserstuhl Butjathas steht im Watt vor dem Kurhausstrand.
Orientierungslosigkeit und Scheitern
Broch stellt mithilfe dieser drei Protagonisten drei Stände (Der Soldat Pasenow, der Buchhalter Esch, der Kaufmann Hugueneau) und Gesellschaftssichten dar, die sich zwar begegnen (etwa bei Prostituierten), aber noch nicht durchlässig sind. Die drei Schlusssätze der jeweiligen Bände sind bezeichnend „Nichtsdestoweniger hatten sie nach etwa achtzehn Monaten ihr erstes Kind. Es geschah eben.“ (Teil 1. Bezogen auf Pasenow, der spät seine zweite Wahl Elisabeth eher aus Pflichtgefühl heiratet)
„Sie gingen Hand in Hand und liebten einander. Manchmal schlug er sie noch, aber immer weniger und schließlich gar nicht mehr.“ (Teil 2. Bezogen auf Eschs Gewalttätigkeit, da er in seiner Ohnmacht zur Gewalt neigt und seine Ehefrau schlägt.)
„Am nächsten Morgen behob er bei der Bank den Guthabenrest des »Kurtrierschen Boten« und tags darauf reiste er ab. Seine Kriegsodyssee, die schöne Ferienzeit war zu Ende. Man schrieb den 5. November.“ (Teil 3 Bezogen auf Huguenaeu, der mit dem Krieg spekuliert und mit ihm gute Geschäfte macht.)
In seinem Roman integriert Broch Essays in Form innerer Monologe über die Auflösung und Umwertung aller Werte im Zeitalter allgemeiner Verunsicherung, mit der die drei Protagonisten konträr umgehen: Anpassung, Revolte, Profitnahme. Am Ende weiß ausgerechnet der rationale Huguenau Lüge und Wahrheit nicht mehr zu unterschieden: „schließlich wußte er nicht mehr, ob er jenes Leben gelebt hatte oder ob es ihm erzählt worden war.“
Pasenow beklagt die fehlende Ordnung und die Trägheit des (eigenen) Gefühls: „Da war alles in Unordnung, ohne Hierarchie, ohne Disziplin.“ Jeder Einzelne steht am Beginn des Schlafwandelns am Abgrund. Das Ungeordnete greift über in Joachims Privatsphäre: „Joachim atmete den Duft der ungeordneten Intimität ihres Beisammenseins“.
Das Individuum ist im Kampf gegen das Allgemeine noch nicht untergegangen. Das Rationale wurzelt im Irrationalen: der berechnende Huguenau vermag Gut und Böse nicht zu unterscheiden und rechtfertigt dies zynisch: „In einer absolut rationalen Welt gibt es kein absolutes Wertsystem, gibt es keine Sünder, höchstens Schädlinge.“ Nietzsche spricht von der Entgöttlichung, die auf die Vergöttlichung des homo sapiens im Zeitalter der Selbstverachtung folgt.
Drei Schicksale, drei Charaktere und Lebensentwürfe, in denen die Macht des Irrationalen, der Verdrängung, das Schlafwandeln, stets triumphiert. Der konservative Romantiker, Pasenow besitzt zwar die naturhaften Werte des Christentums, aber ein privates Reich dieser unverbrüchlichen Werte, die Esch in seiner Anarchie verloren hat, doch erst im modernen nüchternen Huguneau vollendet sich der Zerfall der (christlichen) Werte und die vollständige Atomisierung der Gesellschaft. Die moralische Verlorenheit gipfelt in der Widerstandslosigkeit der Wissenschaftler im Nationalsozialismus, denn die „Gefahren des zivilistischen Lebens waren von fremder und dunkler, unfaßbarer Art.“

Foto Belinda Helmert: Dangast, Kurhaus-Strandbar außen. Dangast ist das südlichste Nordseebad. Es hat einen etwa zwei Kilometer langen Sandstrand, der aber durch abgezäunte Privatgrundstücke unterbrochen und nur abschnittsweise für die Öffentlichkeit zugänglich ist.
Heimatlosigkeit, Entwurzelung
Dass die Handlung an so vielen Orten spielt ist Ausdruck der Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Die Menschen haben keine Identität, kein richtiges zu Hause und schon gar keine Heimat mehr. Das Maschinenzeitalter ist angebrochen: „Gott thront in absoluter Kälte und seine Gebote sind erbarmungslos, sie greifen ineinander wie die Zahnräder der Maschinen bei Borsig“.
Die Menschen sehnen sich nach Wärme, doch die Kälte regiert. „So lange unter Kultur wesentlich Förderung der Wissenschaft verstanden wird, geht sie an dem grossen leidenden Menschen mit unbarmherziger Kälte vorüber“ schreibt Nietzsche in „Schopenhauer als Erzieher“ (6) In diesem Zusammenhang sagt er, Wissenschaft ist kalt und trocken, sie hat keine Liebe und weiß nichts von einem tiefen Gefühle des Ungenügens und der „Sehnsucht“, bestenfalls vom Träumen.
Sehnsucht ist die erste Form des Schlafwandelns. Der junge Hermann Broch steht wie fast die gesamte junge künstlerisch- intellektuelle Avantgarde vor 1914 im Banne Nietzsches. Seine Schlafwandler-Trilogie arbeitet die Zeit seiner Jugend auf. Der Roman befindet sich an einer Schnittstelle zwischen Fiktion und Wissenschaft, und das Modell, das Analyse mit Poesie und Psychologie mit Philosophie vermengt, ist Nietzsche. Selbst für Positivsten um Schlick, Carnap und Musil, mit denen Broch verkehrt, bleibt er unverzichtbar, da sie die Politik (Traum Europa) des Scheiterns analysiert.
Brochs Protagonisten kämpfen gegen die geistige und seelische Erstarrung, die mit dem Wegfall der Religion verbunden ist. Broch selbst konvertiert aus Überzeugung von der jüdischen zur katholischen Konfession; Mystik und Religion bleiben seine geistige Heimat; daher sensibilisiert er für den Verlust einer inneren Heimat durch die Glaubenskrise. Sowohl Pasenow aals auch Esch und Hugueneau haben jeweils ein persönliches Offenbarungserlebnis. Für Broch gilt: Gott ist nicht tot, nur seine Konturen sind verschwommen. So heißt es in Bezug auf Esch: „Er fühlte, daß er jemandem treue zu bleiben habe, wußte er auch nicht, wem.“ Alle Schlafwandler haben noch die Möglichkeit zu erwachen und ihre Träume sind noch nicht restlos verbraucht.

Foto Belinda Helmert: Strandbar Kulturhaus und Kurhaus Dangast, innen. ende des 18. Jahrhunderts legte Graf Gustav Bentinck aus dem niederländischen Adel ein Seebad nach englischem Vorbild an.
Der Tod Gottes an Menetekel
Der Tod Gottes allegorisiert den kollektiven Werteverfall. Blochs offensichtlichste Gemeinsamkeit mit Nietzsche besteht in der Übereinkunft, dass Werte nicht von sich aus da sind, sondern erst in einer Kultur geschaffen werden müssen. Diese Werte sind von Kitsch zu unterscheiden, die in der Kunst Verrat an allem Künstlerischen bedeuten, in der Politik Dilettantismus und in der Religion Götzendienst. Man muss seinen Glauben denken dürfen. Neben Wissenschaft und Technik spielt die Religion eine entscheidende Rolle in Brochs Trilogie.
So bildet im dritten Teil die „Geschichte des Heilsarmeemädchens“ (Abschnitt 86) den Abschluss. Im Dialog geht es um die Position Nietzsches: „Da wird die Religion abgeschafft“ die mit Hegel (Brochs Überzeugung) beantwortet wird: „es ist die unendliche Liebe, daß Gott sich mit dem ihm Fremden identisch gesetzt hat, um es zu töten. Das sagt Hegel … und dann wird die absolute Religion kommen.“
Blickt man auf Nietzsches zahlreiche Äußerungen zum Thema Revolution, so erwartet er die große Umwälzung, wenn der Mensch gelernt hat, mit dem Verlust Gottes umzugehen und sich ausgehend von der Aufklärung, die ihren Geburtswehen erlegen ist, einen freien Geist bildet. Mit der Zerstörung alter Werte ist es nicht getan. Die neuen müssen besser sein als die alten.
Der moderne Mensch ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er diesen mythischen Aspekt, bzw. die Frage nach seinem innersten Wesen nicht mehr zu beantworten versucht, sondern sie zugunsten einer positivistisch-pragmatischen Lebenseinstellung verleugnet. Es entsteht ein Pseudo – Individualismus ohne echte Individualität und eine Spaltung in Teilwelten. In Anlehnung an Nietzsches Aussage:
„Wenn es Götter gäbe: wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein! Aber es giebt keine Götter“ („Also sprach Zarathustra“ II, Von den glückseligen Inseln) handeln Brochs Protagonisten orientierungslos. In leichter Abwandlung bemerkt Hugueneau: „Wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein?“
So leben die drei Anti-Helden in Brochs Trilogie nur noch mit der Welt, aber nicht mehr in ihr; sie sind zerfallene, verwaiste Figuren. Formaler Ausdruck dafür ist die Zerfaserung der Handlung. In zunehmender Weise stehen Brochs konstruierte Parallelhandlungen gleichsam Lebensabschnitten und Figuren nebeneinander, der anfangs dominante ihr Dialog weicht dem inneren Monolog. Besonders Hugueneau verliert sich in einem Labyrinth der Aktionen, die weder zielführend noch erlösend sind. Das Ideal des Kaufmanns erblickt er im Großindustriellen Krupp, den er sich beim Kauf der Kleinstadt-Zeitung zum Vorbild nimmt; dabei imitiert er seine Gesten und seinen Tonfall.
Als Opportunist verkörpert er den Tiefpunkt der neuen Zeit ohne Wertesystem. In seiner Sachlichkeit wirkt er erstarrt, nahezu roboterhaft. Stetig anwachsende Inhumanität liefert den Nährboden für den aufkommenden Nationalsozialismus: „leichtgläubig dem Wunder gegenüber – im Grunde ihre menschlichste und immerhin freundlichste Eigenschaft – waren sie schwergläubig für die Wahrheit, und gerade das machte sie, die so überaus berechnend zu sein glaubten, völlig unberechenbar, machte ihre Angstversperrtheit schlechthin undurchschaubar.“

Foto Belinda Helmert: Dangast, Kurhaus, Eingang. Das Nordseebad Dangast ist ein Kurort und Stadtteil von Varel im Landkreis Friesland am südwestlichen Jadebusen und hat 533 Einwohner. Das Kurhaus wurde 1820 als Nachfolger des abgebrannten ersten „Conversationshauses“ von 1804 erbaut.
Identitätskrise und Massenpsychose
Die Thematik der Identitätskrise als elementare zeitgenössische Entwicklung verläuft parallel zur Massengesellschaft; Parteien versprechen Halt und Orientierung. Laut Broch bedarf es für eine Identität zunächst ein bewusstes Gefühl – ein Kind verfügt darüber noch nicht im dafür notwendigen Maß – auf dieses setzt die Haltung sowohl gegenüber anderer als auch sich selbst gegenüber ein. So muss der Mensch die Fähigkeit entwickeln, sich im anderen zu spiegeln und von außen betrachten zu können. Wo die Wahrnehmung und das Bewusstsein bzw. die Reflexion nur selektiv erfolgen, kann diese Haltung sich nur unvollkommen entwickeln. Je mehr Ablenkung, Reizüberflutung von außen auf das Individuum eindringt, desto geringer wird die Möglichkeit, sich in seinem Inneren frei zu entfalten; sein Innenleben wird deformiert. Die Folge ist Desintegration. Der Schlafwandler stellt den Prototyp des „verharrenden modernen Massenmenschen“ dar, der unreflektiert und unbewusst dahindämmert und sich treiben lässt bzw. der Getriebene ist.
An die Stelle des wahren authentischen Ich tritt das ideologische Bekenntnis. Dies kristallisiert sich in Bertrand, Journalist und intellektueller, lange dominierender Gegenpart zu Pasenow, später auch von Esch; am Ende nimmt er sich das Leben. Die Problematik des Ich-Verlustes hat eine psychologische Seite, die durch Freud vertieft wird und die in Nietzsches Aussage „Alle Lüge beginnt im Ich“ („Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“) wurzelt, aber auch eine metaphysische Kompo-nente, dem Gesetz der Identität im Sein im Gegensatz zum Werden. „Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Schein-barkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umge-kehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identi-tät, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist.“
In der Trilogie fördern Nationalstaaten den Nationalismus und damit auch Vorurteile gegen andere Nationen, die häufig klischeehaft und stereotyp sind. Ein Beispiel liefern die Zeitungsberichte über den letzten entdeckten Kontinent Südamerika; die Vorstellungen von Esch darüber sind grotesk und werden parodiert. Aus der Information, dass Bertrand seine Homosexualität in Italien auslebe, schließt Esch, dass die Existenz von Frauen in diesem Land an sich fragwürdig ist. In gewisser Weise ist er Idealist und Idealisten haben in seiner Zeit einen schweren, einen unrettbaren Stand.
was der Philosoph als Erzieher in unserer Zeit zu bedeuten habe, der muss auf jene sehr verbreitete und zumal an Universitäten sehr gepflegte Ansicht antworten, und zwar so: es ist eine Schande und Schmach, dass eine so ekelhafte, zeitgötzendienerische Schmeichelei von sogenannten denkenden und ehrenwerthen Menschen aus- und nachgesprochen werden kann — ein Beweis dafür, dass man gar nicht mehr ahnt, wie weit der Ernst der Philosophie von dem Ernst einer Zeitung entfernt ist. Solche Menschen haben den letzten Rest nicht nur einer philosophischen, sondern auch einer religiösen Gesinnung eingebüsst und statt alle dem nicht etwa den Optimismus, sondern den Journalismus eingehandelt, den Geist und Ungeist des Tages und der Tageblätter .“

Foto Belinda Helmert: Dangaster Hafen, Mole in der Nähe des Siels. Dieses wurde1956 gebaut für die Entwässerung des Binnenlandes bis nach Ostfriesland. Bei hohem Wasserstand durch starke Regenfälle werden die Sieltore geöffnet, um das Wasser in den Jadebusen zu leiten und damit die Überschwemmung des Binnenlandes zu vermeiden.
Zeitungswesen und Desinformationspolitik
Rundfunk und Zeitung bedeuten die Möglichkeit, Informationen und Kultur schnell und überallhin zu verbreiten. Doch entsteht mit der Kulturindustrie auch ein Mittel für Propaganda und gezielte Desinformation. Das Medium der Masse kann einem Individualisten nur missfallen. Das Thema der Zeitung steigt, nachdem es im „Pasenow“-Roman nur als Randnotiz auftaucht und im „Esch“-Teil bereits zur Nebenhandlung avanciert, zum Rückgrat des dritten Romans auf. Nicht nur die Darstellung der Wirklichkeit in Zeitungen erhält eine größere Bedeutung, sondern auch die Aktualität der verschiedenen historischen Informationen. Bereits im zweiten Roman wird der „Tatsachenhunger der neuzeitlichen Reportageästhetik kritisiert und so steht im Huguenau-Teil die Presse schließlich in vielerlei Hinsicht für die Veränderung der Wirklichkeit in Kriegszeiten, sei es zu Propagandazwecken oder zur Verschleierung von ungewollten Tatsachen.
Großindustrielle wie Krupp und die „Kohlenbarone“ profitieren vom Krieg, indem sie Zeitungen aufkaufen, um den Krieg und seine Dauer zu steuern. Darüber hinaus greift die Zensur in das tägliche Geschäft der Zeitungen ein und bestimmt somit, welche Wirklichkeit für die Menschen gelten soll: Auf diese Weise sind sie in ihrer eigenen patriotischen Wirklichkeit gefangen bzw. sie werden Opfer einer unbemerkten Wirklichkeitsverzerrung. Broch gebraucht dafür die martialische Metapher „Schlachtfeld der Diskurse.“
Ein Detail ist, dass Pasenows Abneigung gegen Zeitung und Zeitungsmenschen sich mit der Nietzsches deckt. Zeitungen und andere Medien tauchen im ersten Roman zwar nur am Rande auf, ihre Bedeutung in Hinblick auf die Darstellung der Zeit ist jedoch nicht zu unterschätzen: Das erste Mal, als das Wort Zeitung fällt, offenbart es Joachim Pasenows polemische Einstellung zur Zeitung in der erlebten Rede: „Er spricht ja wie ein Zeitungsschreiber.“ 3 Gemeint ist in diesem Fall Bertrand, der sich gegen das Ehrgefühl ausspricht und der somit Joachim als traditions-, kultur- und wertlos gilt. Diese Vorstellung über Journalisten teilt er mit vielen seiner realhistorischen Zeitgenossen, darunter zum Beispiel Nietzsche. Mit dieser Kritik an der Zeitung wird zugleich auf das parallel verlaufende Phänomen der Beeinflussung der Öffentlichkeit durch Sprache und überhaupt der Herstellung einer Öffentlichkeit, welche erst im zweiten Roman deutlicher wird, vorausgewiesen.
Ein Beispiel für den von Ideologien leicht zu beeinflussenden Menschen ist Esch, für den – aufgrund eines einzelnen Zeitungsartikels – Pasenow in seiner Weltanschauung „von der schwarzen auf die weiße Seite der Welt“ (Hugueneau, 476) rückt. Esch hingegen wohnt als Zeitungsredakteur in einem bäuerlich geprägten Anwesen mit modernen Elementen, was seine Zwischenstellung zwischen Vergangenheit und Moderne visualisiert. Der Kampf um den Leser entspricht dem Kampf um die Aktualität und Extreme einer Nachricht, hinter der nur der Wille nach Macht und Geld steht. Zugleich veranschaulicht Broch, die unbarmherzigen Gesetze des Marktes: die großen Verlage schlucken die kleinen. Die Masse giert nach Schlagzeilen, die ihre Vorurteile bestätigt.

Foto Belinda Helmert, Dangast, Skulptur im Wattmeer.Bei Hochwasser kann man baden, bei Ebbe im Schlick waten.
Perspektiven des Zerfalls
Laut Nietzsche ist die Wahrheit „perspectival“, weshalb die Pluralität der Perspektiven für eine Pluralität von Wahrheiten steht und so auf das Nebeneinander von verschiedenen Wirklichkeiten hindeutet. Die Parallelgeschichten mit ihren unterschiedlichen Realitäten. Broch streut insgesamt 88 Episoden in seinen Erzählstrang ein, die kunstvoll so miteinander verflochten sind, dass sie multidimensional nicht mehr einzeln voneinander wiederzugeben sind. Als Modelle für den Identitätsersatz spielt Broch Familie, Beruf und Erfolg durch.
Joachim steht stellvertretend für den Verfall des identitätsstiftenden Moments der Familie: Sein ganzes Leben und jede seiner Beziehungen sind zwar durch die Entscheidungen seiner Eltern bestimmt, Sicherheit und Geborgenheit findet er dort jedoch nicht mehr. Die Mutter übt ihre Rolle als Beschützerin der Kinder nicht aus, sondern zeigt offen ihre Gleichgültigkeit gegenüber Joachim. Der Vater übernimmt seine Rolle als Vorbild gleichfalls nicht und wird von Joachim zum Teufel hochstilisiert. Broch illustriert den von Marx beschworenen Verfall der Familie in einer Massengesellschaft. Kompensatorisch idealisiert er Moral und Ehre. Zu Frauen hat er ein gestörtes Verhältnis. Sein Werteverständnis wird an verschiedenen Stellen satirisch erläutert: Beispielsweise in der Szene, in der die Prostituierte Ruzena heimlich seine Hand ergreifen will und er sie „in panischer Wohlerzogenheit“ wegzieht. So tritt die Armee an die Stelle einer Familie; in seinem Bemühen, sich das fremde Wertesystem anzueignen, musste er die Zivilgesellschaft verteufeln, so dass eine Rückkehr in diese Welt – sei es nur in der Erinnerung – seine aktuelle Identität komplett in Frage stellen würde.
Nachdem im ersten Roman die Vorgeschichte des Zerfalls der Werte und die beginn-ende Krise beleuchtet worden sind, steht der zweite Roman im Zeichen der Steigerung des Verfalls: im Fall von Esch die berufliche Unsicherheit. Gleich zu Beginn des Romans gerät er in eine Identitätskrise, da er seine Arbeit und damit auch die Gemeinschaft der Firma verliert. Als „Waise“ kann er nicht auf eine Familie zurückgreifen und das Vaterland interessiert ihn als Luxemburger nicht. Als Vertreter des Kleinbürgertums verkörpert den Übergang vom Proletariat. Trotz der „soliden und rechtlichen Buchhaltung seiner Seele“ drückt sich seine Identität in der Anarchie aus. Er kennt ein schlechtes Gewissen, verteufelt jedoch : „die Pfaffen und die Moral“
Auch Nietzsche übt trotz oder gerade wegen seiner Herkunft Kritik an den Pfarrern: „ Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart: alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth.“ („Die fröhliche Wissenschaft“ IV, 326)

Foto Belinda Helmert, Dangast, Skulpturenwald.
Mörder sind unter uns
Am Ende erwägt Esch, sich komplett gegen die Ordnung zu richten und einen Mädchenhandel zu eröffnen, verleugnet die Unrechtmäßigkeit dieses Vorhabens jedoch vor sich selbst. Der Unordnung der Welt versucht er darüber hinaus ipetrsmmer wieder durch Flucht zu entkommen: „Man musste hinaus, je weiter desto besser“ doch erkennt er an den widersprüchlichen Handlungen seiner Mitmenschen, dass die „Welt einen Bruch“ hat. Er definiert sich über seine Kompetenz der Buchhaltung. Als ihm ein Buchungsfehler vorgeworfen wird, keimt in ihm der unverhältnismäßige Wunsch, „erschlagen zu werden“, Auch sprachlich verwendet er seine Fachsprache und nennt die Ungerechtigkeit einen „fürchterlichen Buchungsfehler“. Da in seinen Rechnungen alles säuberlich aufgeht, nimmt seine Rechnungsbücher zum Vorbild und möchte das, was in den Büchern steht, in der Wirklichkeit erfahren. Er ist ein Ordnungsfanatiker ohne feste Prinzipien, daher schlagen seine Meinungen von einem Extrem ins andere um, ja er verrennt sich in „die Angelegenheiten der Welt.“
Im dritten Teil der Trilogie begegnen sich die drei Protagonisten erstmalig und der Verfall kulminiert. Die Attribute Pasenows und Esch verlieren endgültig ihre Bedeutung, so dass weder Uniform noch Zahlen in der Lage sind, eine Gemeinschaft oder eine Einheit zu erzeugen. Alles versinkt im Chaos und der Mörder Hugueneau kommt ungeschoren davon.
Der Kaufmann und Spekulant identifiziert sich mit der Technik, genauer deren ökonomischen Nutzen; die Maschine nimmt einen dominanten Raum im Romangefüge ein. Als Technokrat stellt als Fähnchen im Wind die Technik und den Wind und verhält sich stets zu seinem Vorteil. Ursächlich für seine Subjektlosigkeit sind die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung aller Lebensbereiche bis hin zur erreichte Ambivalenz und das Aufgehen des einzelnen in der Masse. Nietzsche äußert sich mehrmals negativ über den Massen- und damit Durchschnittsmensch: „Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Grenze mehr gäbe.“
Aus diesem Gefühl heraus, dass Ordnung sein muss, hat 1914 eine ganz Generation von jungen Männern freiwillig zu den Waffen gegriffen.

Foto Belinda Helmert, Wellenbrecher bei Butjadingen und Wattmeer Eckwarderhörne, der Südwestspitze der Wesermarsch nahe Nordenham.
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