Anarchie als Durst nach Freiheit

Foto Belinda Helmert: Glissner Wald, Abzweigung Steinlage., die geschlagenes Holz aus dem Wald abtransportieren.

Verleumdung lenkt von Wahrheit ab

Der Marquis de Sade, aufgewachsen in der zerklüfteten Bergwelt rund um Aix en Provence erkannte keine Ordnung an außerhalb der Natur und deren zerstörerischen Kraft. Fasziniert von ihren mechanischen Gesetzen übertrug er dies auf das Räderwerk des Staates. Mit kaltem Rationalismus, der radikaler als Kant Emotionen ausblendete und für überflüssig erklärte, wurde er zu einem Anarchisten. Die Moral verbirgt demnach den wahren Kern der conditio humana. Da die Kirchenväter seiner Zeit (de Sade stammte aus hohem Klerus-Adel) ihre Macht stets zum eigenen Vorteil rücksichtslos anwendete, zog er die Schlussforderung, einzig die Triebe (wobei Schmerz und Lust die stärksten sind) gestalten die Zivilisation. Die Industrialisierung der Lüste war geboren.

„Gesetze sind wandelbar wie Leidenschaft. Laster und Tugend sind nicht Gegensätze, sondern bedingen sich wechselseitig. Wenn keine Religion mehr gelehrt wird, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea anschauen und der Kindermord uns ganz natürlich erscheinen.“

(zitiert aus Die Philosoophie im Boudoir, 1795)

Der Essay „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“ bildet einen integralen Teil des Boudoir (Frauensalons). Pikanterweise erwies sich De Sade, kaum des Bastille entronnen und mit Robespierre an die Macht über Leben und Tod zu entscheiden gelangt, als überaus milde und verschonte die verhasste Familie, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte.

De Sade erachtete die Gesellschaft entschieden als scheinheilig: Nicht die Tugend wird gefordert, sondern nur ihre Maske. Wer sich zu verstellen weiß, kommt unbeschadet davon. Täuschung ist als mimekry aus dem Tierreich wohl bekannt. Der Mensch vergisst gerne und leicht, dass er nur ein gezüchtetes Tier ist. Das Tier ist echt, es kennt keine Moral: „Unser Zustand der Natur ist der des Tieres.“

De Sade wollte ein Fuchs sein; sich nicht von der Moral fesseln lassen und damit ihr Sklave werden, sondern frei seine Triebe ausleben. Dazu gehörte keineswegs das, was er exzessiv und potenziert in der obszönen Dichtung tat, sondern das Leben eines libertin.

Ein Freigeist, dessen Philosophie De Sade vertrat, ist zugleich seinem Wesen nach Anarichist, der die Moral nur für Schwache gelten lässt, die sich selbst nicht zu beherrschen wissen. Die Kontrollsucht war bei dem Marquis sehr ausgeprägt. Seine sadistischen Neigungen hielt er so im Zaum, wie keine seiner literarischen Protagonisten. Eingesperrt wurde er auch nicht aufgrund seiner Orgien, die nahezu alltäglich waren im Ancien Régime, sondern weil sein politischer Freigeist gefährlich war für das autokratische System, dem er entstammte. Er glich einem verstimmten Instrument, das sich nicht in das Orchester einfügen lassen wollte.

Foto Belinda Helmert: Kulturscheune Liebenau, Instrumente der Band Mr. Fox Quintett aus Bremen, die sich 2020 zusammenfand. Die Stilrichtung schwankt zwischen jazzig, bluesig, swingend rockig – foxig.

Verbrecher werden immer von Verbrechern eingesperrt

Sei verbrecherisch in der Tugend, und tugendhaft im Verbrechen.“ Zweifellos war De Sade amoralisch und zudem reiner Materialist, der Ideen für Erklärungsversuche der Wirklichkeit hielt. Die Schrift „Die Philosophie im Boudoir“, deren Kern die Erziehung einer tugendhaften Frau zur Mätresse ist, enthält zahlreiche (philosophische) Dialoge über die Beschaffenheit der Welt, insbesondere der Gesetze, die wir heute als Psychologie bezeichnen. Darin kündigt sich Nietzsche an und dessen Lebensphilosophie (Ästhetik kennt keine Ethik, die Welt ist nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen):

Die Natur ist weder gut noch schlecht, sie wird nur als solche gerechtfertigt. Wenn es das Böse gibt, so erweist sich Gewalt als nützlich für die Entwicklung, denn sie zerstört das Schwache und damit fördert sie das Gute.

Aus diesem Naturgesetz formte er den Staat, in dem sich auch alles nach den Reichen und Mächtigen richten muss. De Sade erkannte jedoch bereits, dass die Zeit der Aristokraten vorbei war, weil sich die Kräfteverhältnisse gändert hatten und die Herrschaft der Bourgeoisie anstand. Fasziniert von der Mechanik und Technik sah er die Möglichkeiten von Industrie und dementsprechend des Kapitalismus. In ihm und der Naturwissenschaft, auf die er beruht, entsteht systemischer Sadismus: der Siegeszug der kalten beobachtenden und keine humanen Grenzen anerkennenden Profitgesellschaft.

Soziale Ordnung gegen den Preis der Gerechtigkeit ist wohl kaum gutes Geschäft.

Die Grand Terreur gab ihm Recht. Über das, was auf den in Blut getauchten Straßen vor sich ging, war er entgeistert. Der Tugendterror Robespierres, das Schlachten der Gegner, Denunziation und Intrigen überboten seine wüstesten Fantasien. Er selbst, dem nun durch das Revolutionstribunal die Möglichkeit gegeben war, Menschen nach Gutdünken zu zerquetschen, legte schützend seine Hände über sie, selbst die Verhassten unter ihnen.

Foto Belinda Helmert: Hand der Fotografin mit Eintrittsstempel, Mr. Fox Quintett in der Kulturscheune Liebenau.

Geforderte Libertinage

Philosophieren heißt bei Sade, den Gesetzen eines Atavismus höherer Ordnung zu gehorchen; die Gesetze (seinerzeit galten für die Stände verschiedene, das bürgerliche Gesetzbuch, code de Napoleon war ein Frucht der Revolution) verringert die Freiheit des Indivduums. Libertin bedeutet Freigeist, Libertinage die Forderung nach einem MAXIMUM subjektiver Freiheiten. Nur ein freier Mensch kann sich frei entwickeln, erziehen und gestalten.

De Sade begreift das Naturgesetz des Stärkeren nicht nur als legtitim, weil es natürlich ist. Er schreibt, dass der Mensch beim Erwachen der Welt nur noch „Schaum des bedenklichen Nichts war“ und somit vom Nullpunkt aus die Welt entdecken musste (point zéro ist eine Formulierung des Sturkturalisten Roland Barthes). So werden natürliche Triebe nachträglich zu Laster deklariert und stigmatisiert. Die Strafe soll nur der Abschreckung und der Kontrolle und damit der Herrschaft der Mächtigen dienen. Paradox dabei: Trotz seiner Aufklärung negierte de Sade vehement den Rationalismus.

Michel Foucault entwickelte diesen Grundgedanken de Sades weiter zu „Überwachen, Strafen und Herrschen“ in seiner Studie über die Gefängnisse, den Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Zivilisationsstufe. In „Die Geschichte des Wahnsinns“ forschte er über Systeme der Ausgrenzung und der Einweisung von vermeintlich psychisch Kranken in die Klinik. Auch hier griff er den Fall des Marquis aus dem Lubéron auf, der als persona non grata hauptsächlich aus politischen Gründen (der Staats kaltgestellt werden sollten. Die Gefangenschaft des Leibes ermöglicht staatliche Kontrolle.

Foltermethoden waren bereits vorhanden, und wurden, u.a. von Kirche und Militär, dem Staatsapparat systemisch wie systematisch eingesetzt. De Sade kann also nicht auf grausame Fantasien reduziert werden. Voyeurismus, Action- oder Horrorfilme, Vorliebe für Kriminologie und Kriegslust zeugen von der menschlichen Faszination an Gewalt. Ebenso die Tatsache, dass jene Begiereden, die unser Herz verheimlichen möchte, weil sie die Moral verdammt, nicht selten zu noch größeren Verbrechen führen, etwa die stigmatisierte Pädophilie und Homosexualität, Verbot und Tabu erzeugen Lust. Nur ein souveränes Subjekt anerkennt seine Triebe und anerkennt sie.

Folglich haben alle Menschen mindestens zwei Gesichter, in denen Selbst- und Fremdbild (Idealich und Ichideal) miteinander um die Vorherrschaft ringen wie im ethischen Fall um Gut und Böse. Was als gut und böse erachtet wird, bestimmt die Kultur, weil es kein an sich in diesem Fall gibt. Die vermeintlichen Wilden sind in vierlerlei Hinsicht den so genannten Zivilisationen überlegen: es gilt hier Kultur von der staatlich organisierten Gesellschaft zu unterscheiden. Wie sehr Ideologien Einfluss nehmen auf das persönliche Gewissen bleibt terra incognita.

Der Essay „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt„, “ animiert zum Aufstand gegen Napoleon und ihn daher auf die Liste der gefährlichen Schriftsteller brachte. Heute kaum nachzuvollziehen, wirkte das Werk als Staatsverrat. De Sade erkennt, dass die Revolution nur noch dem Besitzbürgertum (Großbürgern, Kapitalisten) nutzt – das Wahlsystem machte die Timokratie offenkundig. Per Staatsstreich setzte sich Buonaparte zum Konsul auf Lebenszeit an die Spitze eine neuen autokratischen Systems.

Foto Belinda Helmert: Saxophonistin Sabine Diepenbruck und ihr zweites Ich bei der Arbeit, Kulturscheune Liebenau. Akustische Eindrücke der Band Mr. Fox Quintett unter https://www.youtube.com/playlist?list=PLFPAZg35Age2Epy36MMoHj61IJbolNyHe

Promiskuität als gelebte Gleichheit

Der Bürger Sade lehrt, dass alle konventionellen Schranken durchbrochen werden müssen, wenn um zu einer freien Gesellschaft zu gelangen. Das Leben der Menschen erscheint ihm als Dialog zwischen Möglichen und Unmöglichen. Aber die Bewegung, die vom Möglichen der Fantasie zum Unmöglichen des sexuellen Tabus führt, gelingt nur wenigen. Sade erkennt das Mögliche im Trieb und seine Bedingungen vorurteilslos an. Zudem erkennt er, dass Sexualität durch Gewalt erweitert oder durch Herrschaft ersetzt werden kann.

Mit Sade endet die Klassik, die im Zeichen der Repräsentation des Ideals steht und das Wünschenswerte fördert. Die Anerkennung des Verbrechens, des Bösen und die Entstigmatisierung der Lust, die in der christlichen Kultur als Sünde galt, schafft die Voraussetzung für Freiheit. Den Grundgedanken des Nutzens der Laster entimmt er „Der Bienenfabel“ von Mandeville.

Daher fordert er in „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“ die Abschaffung des Christentums. Die Anlehnung an das römische Heidentum hat er nicht erfunden oder als Alleinstellungsmerkmal, es war gelebte Kultur der Revolutionäre; die Entchristianisierung hatte unter Robespierre längst begonnen. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/geschichte/franzoesische-revolution-endphase100.html

Die Abschaffung der Stände hing mit jenen des Christentums (Katholizismus) zusammen, welches ohnehin ein hierarchisches Gebilde ist. Sade erkannte, dass die Kirche den Staatsapparat stützte, er erkannte die Religion als Herrschaftsinstrument. Pikanterweise fordert seine Literatur den rigorosen Gebrauch der Macht und die Vertreter der Geistlichkeit sind ihm nicht unsymphatisch, weil sie moralische Monster sind. Die Wirklichkeit Sades unterschied sich hier diametral von seiner sexuellen Obsession, die durch die langen Jahre im Gefängnis unverhältnismäßig zur Monstrosität gesteigert wurde.

Philosophisch konsequent ist jedoch der Gedanke, dass Eigentum bzw. Besitz den Staat und seine Eliten fördern, somit aufgehoben werden müssen. Da auch die Ehe de jure ein solches Eigentum darstellt, muss auch sie aufgelöst werden. Zudem wurden zu Sades Zeiten die meisten Ehen aus ökonomischen Erwägungen und Vernunftgründen geschlossen. Auch hier ist sein Einwand, der Mensch mache sich zur Marionette, nicht völlig von der Hand zu weisen. Der Leibeigene kehrt als Arbeitissklave zurück; er arbeitet in seiner Pseudo-Freiheit unsichtbarer Fesseln sogar effizienter als der Galerensklave.

Andererseits gebärdete sich Robespierre wie ein Tugendwächter und gründete seine Schreckensherrschaft auf den culte de la raison. Dies erklärt, weshalb De Sade, radikaler Individualist und Anarchist, nie auf der Seite der Jakobiner stand und auch, weshalb er berechtigte Zweifel daran hegte, dass ein solcher Vernunftstaat wirklich für Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit sorgen konnte oder wollte. Der innere Widerspruch besteht in der Ablehnung von Emotionalität und Gleichsetzung von Moral und Schwäche einerseits und der Begierde nach absoluter Selbstkontrolle. Die im Leben aufrecht erhaltene Dominanz könnte daher literarische Hemmungslosigkeit nach sich gezogen haben.

Foto Belinda Helmert: Kulturscheune Liebenau, Die Welt der Füchse im Wein gespiegelt. Das Wortspiel fox Fuchs/Fox zwischen animalischen und musikalischem Phänomen erhält die fuchstypische Färbung.

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