
Foto Belinda Helmert: Magdeburg , Olvenstedter Straße 25, Stadtteil Alt-Olivenstedt, Oli Kino, Nostalgie-Kino. Im Gebäude, das 1936 von Carl Krayl im Bauhaus-Stil geplant wurde, stehen der „kleine, feine“ Film, die Filmbildung und der Filmnachwuchs im Vordergrund. Grau in Grau gehörte der Vergangenheit an. Bunt sollte alles sein und werden. Bunt stand für das sinnliche Entwicklungspotential des Menschen, homo aestheicus.
Gottes noch nicht erwachte Absichten
„Wenn es einen Wirklichkeitssinn, so muss es auch einen Möglichkeitssinn geben.“ Sagt Ulrich, der Protagonist in Robert Musil (1880-1942) räsoniert über Gottes noch nicht erwachte Absichten. Obschon sein Hauptwerk über 1500 Seiten umfasst, ist es Fragment geblieben, auch weil die Möglichkeiten nie zu Ende gehen. Der Autor meint, die Handlung seines 1930 erschienenen Romans sind nicht „auserzählt“. Worum handelt es sich? Um Bewusstseinsbrüche der Moderne und wie sich der geistige, also reflektiere Mensch, zu dem Angebot an Wirklichkeiten verhalten soll. Um sie darzulegen, integriert Musil mehrere Essays in Form von Gedanken-Monologen in sein opus magnum und da ein Essay immer nur eine Annäherung ohne Anspruch auf Vollständigkeit sein kann, wie das Experiment immer unabgeschlossener Versuch, würfelt Gott ein wenig weiter bis in alle Ewigkeit.
Sektionschef Tuzzi, so in Musils ersten Entwurf, der noch den Arbeitstitel „Der Erlöser“ trug (1921/22), „liest nur Homer und die Bibel“ liest nur Homer und die Bibel“. Die Dialoge der „Zwillingsgeschwister “ tragen in der den Namen „Heilige Gespräche.“ Darin gibt Agathe gibt ihrem Bruder Ulrich im Grundentwurf des Endfassung des Kapitels Wandel unter Menschen (1933/34) lächelnd den Rat „Lies die Bibel!“ Jede menschliche Gesellschaft ist uns durch die Literatur vermittelt und besitzt daher eine geerbte Mythologie. Musils Gedanke über die Dummheit: „Viel von sich selbst zu reden gilt als dumm. Dieses Verbot wird von der Menschheit auf eigentümliche Weise umgangen: durch den Dichter!“ könnte umgeschrieben werden: Viel über Gott zu sprechen, gilt als gläubig. Dieses Vorurteil wird von der Menschheit auf eigentümliche Weise umgangen: durch den Geistlichen.
Auf die Frage ob er religiös sei, antwortet Musil ironisch vielsagend durch Im Untertitel seines Romans: „Dieses Buch ist religiös unter der Voraussetzung der Ungläubigen.“ Er exemplifizier mit ironischer Präzision die Kontingenz aller Überzeugungen und Ideale politischer, moralischer oder metaphysischer Natur.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Straße. Als alte Industriehochburg widmete das Wewerka Archiv dem Schriftsteller Musil 2017 eine Ausstellung. Stefan Wewerka war ein Magdeburger Architekt und Designer. 2014 entstand im Gebäudekomplex der ehemaligen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule das besagte Archiv in der Brandenburger Straße 9.
Eingenschaftslos nicht ohne Eigenschaft
Gerade weil Ulrich, „extremer Individualist ohne feste Bindung an Ja und Nein“, glaubt, alles sei möglich, ist sein Wille nicht festzulegen. Daher spielt der Konjunktiv für den Möglichkeitssinn eine zentrale Rolle im Narrativ; auch Nietzsche kokettiert in seinen Texten mit der Grammatik. So ist Ulrich beileibe nicht eigenschaftslos, sondern ohne festgeschriebenen, endgültigen Charakter und „wäre Theoretiker“. Wie Nietzsches Untertitel zum Zarathustra „Ein Buch für alle und keinen“ ist der Titel des Romans paradox: Eigenschaftslos zu sein ist die eine Seite, unvergleichbar zu sein, die andere. Ohne festgelegte Eigenschaften zu sein beinhaltet die reine Wandlungs-fähigkeit und permanente Bewusstseinsveränderung. „Ein Mann ohne Eigenschaften sagt nicht „Nein zum Leben, er sagt Noch nicht! und spart sich auf; das hatte sie mit dem ganzen Körper verstanden.“
Ohne Eigenschaften bedeutet Musil, ohne Fixierung auf die Außenwirkung inkarnierter „Möglichkeitssinn“ zu sein. Musik, Eigenschaft und Möglichkeit sind die häufigsten Nomen seines Opus. Die zu erzählende und im Verlauf der langen Entstehungszeit immer wieder veränderte Geschichte wird gar nicht auserzählt, sondern nur in ihrer Möglichkeit angedeutet gleichsam einer Melodie.
Als Schüler Ernst Machs ist Musil von der Substanzlosigkeit des cogito überzeugt. So bleibt Ulrichs Ich kontur- und subjektlos, ohne Identität, reine Möglichkeit. Er gleicht einem Denkexperiment oder, wie Musil (selbst Ingenieur) es in seinem Aufsatz: „Der mathematische Mensch“ 1913 vorwegnimmt, ein „identitätsloses Wesen“, ein Jedermann. Der Mensch unendlicher Versuch und wiederkehrende Versuchung. Er besitzt Eigenschaften, mitunter auch Charakter, aber wenn er von Charakter ist, hat er keine festgelegten Eigenschaften. Kapitel 39 trägt daher die ironische Überschrift „Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann“.
Ist Ulrich nun ein Jedermann oder ein Nichts? Seine Freundin Clarissa äußert das Paradox, ein Mann ohne Eigenschaften, könne nicht musikalisch sein, da dies eine Eigenschaft sei, doch zugleich könne Ulrich auch nicht unmusikalisch sein, weil dies auch einer Eigenschaft gleichkomme. Ulrich ist durchaus musikalisch, aber kein Musiker und er philosophiert ohne jemals Philosophie studiert zu haben. Das Paradox scheint auf die gesamte Epoche der Moderne zuzutreffen: sie verläuft seltsam ohne konkrete Eigenschaften in der Massengesellschaft und dennoch ist sie nicht eigeschaftslos, sondern vage, instabil und zutiefst widersprüchlich. Am Ende ist es dies: Möglichkeit besteht mit Widersprüchen konsistent zu leben und vielseitig ohne beliebig zu sein.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Straße nach dem Vorbild des bei Stuttgart geborenen Carl Krayl (1890-1947) In den Zwanziger Jahren formte er mit Walter Gropius und Bruno Taut den Bauhausstil, expressionistischer Ausdruck der Architektur. Musil zählt zum poetischen Expressionismus.
Der Fall Mossbrugger
Musil wohnte 1911 dem Prozess gegen den mehrfachen Frauenmörder Christian Voigt in Wien bei. Dieser wurde wegen brutaler Morde (Blutrausch) an Prostituierten auf Zurechnungsfähigkeit untersucht. Im Roman heißt er Christian Moosbrugger. Mit dem Frauenmörder stellt er die Frage nach Zurechnungsfähigkeit und pathologischem Wahnsinn. Er entwickelt daraus ein konvergierendes Modell zweier unterschiedlicher Denk-Formen: ratoides (logisches) und nicht – ratoides (intuitives, sentimentales) Denken. Letzteres herrscht u.a. beim Musik- und Kunstgenuss vor.
Moosbrugger verkörpert das Stottern auf der Suche nach Sprachermächtigung im Roman, dem Ulrich (wie Musil Christian Voigt) Wahnsinn unterstellt, weil dieser Möglichkeit und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden weiß. Das Gericht verurteilte stattdessen den Täter als voll zurechnungs- und damit schuldfähig zum Tode. Im Roman versucht der Angeklagte immer wieder vergeblich, Gedanken und Wörter aus seinen Wirrnissen herauszufiltern und sinnvolle Sätze zu bilden. Er verkrampft und stottert. Im Gefängnis wirkt er „als die wilde eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab.“
Im Gespräch mit Agathe räumt Ulrich ein, dass er eher einen Mörder als einen Dieb zutraue, ein wertvoller Mensch zu sein „…vielleicht sind das nur Menschen von guter Anlage, wertvolle Menschen. Das bleibt ihnen auch später als Verbrecher. Aber gut bleiben sie nicht! … Der Mensch gibt der Tat den Charakter, und nicht umgekehrt geschieht es! Wir trennen Gut und Bös, aber in uns wissen wir, daß sie ein Ganzes sind!“ Clarissa hingegen, auf dem Weg wahnsinnig zu werden, sieht in Moosbrugger das Genie, von dem sie ein Kind haben will, um ihn von seinem Leid zu erlösen und plant seine Befreiung. Sie wähnt Schwangerschaft als eine Erlösung und setzt diese mit Möglichkeitssinn gleich. Wie der Wahnsinn mitunter sich einer rationale Methode bedient (so jedenfalls deutet Musil den Faschismus), so kann sich die Rationalität bisweilen im Irrsinn verirren (so die Logik des Verbrechers).
Dass einem Mörder Eigenschaften instinktiv und unwillkürlich Eigenschaften angedichtet werden, ergibt sich von selbst. Ulrichs Möglichkeitssinn besteht in der Hinterfragung des Ungesagten als das vielleicht Unsagbare: „So will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus.“ Die objektiv – realistische Außenwelt der Fakten kontrastiert mit subjektiv – mystischer Innenwelt der Bedeutung . Gegen das veräußerlichte Reden-Können steht der verinnerlichte Wille zum Schweigen, die Verweigerung. Sprache beherrscht das Bewusstsein mehr als invers. Ulrich rebelliert gegen die „Trunksucht des Tatsächlichen“, die Verschränkung von Ver- und Erklärung. Er ordnet seine Erfahrungen nicht sich selbst zu, sondern verallgemeinert sie . Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute.“ Moosbrugger verkörpert das schlechte Gewissen seiner Zeit, der tut, was viele tun wollten, wenn sie nur könnten. Er ist der Dämon, den jeder von den Durchschnittsmenschen in sich trägt.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, bunte Otto Richter Straße. Der Begriff „bunt“ könnte sich auf die Vielfalt der Themen, Charaktere und sprachlichen Mittel in Musils Werk beziehen, die nicht immer leicht zu kategorisieren sind. Carl Krayl und Bruno Taut wollten aus der Uniformität des sich abzeichnenden Faschismus ausbrechen. https://www.sylviapudel.de/home/bunte-stadt/
Der Hermaphrodit
In seinen Tagebüchern legt Musil auch Gedanken zur Genealogie seines Romans nieder. „Und alles, was Ulrich im Laufe der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten!“
Zum nicht ratodien Denken zählt auch der Mythos. Er kommt bereits in Platons Erklärung der Liebe durch den Kugelmensch zum Tragen: Mann und Frau entstammen einem zweigeschlechtlichen Urmenschen, der durch den Zorn der Götter in zwei Hälften geteilt wurde, die sich unablässig suchen, um wieder vollständig zu sein. In Anlehnung an den Hermaphrodit – Mythos finden auch die seit ihrer Kindheit getrennten Geschwister Ulrich und seine Schwester Agathe zueinander. Beide sind von Sehnsucht erfüllt und finden im Gegenüber die gesuchte kongeniale Hälfte, ihr anderes, verlorenes Ich. Ursprünglich hieß Ulrich im Roman „Anders“. Musil verwarf diesen symbolischen Namen, weil er die Eigenschaft der Andersartigkeit und des Außenseiters betont.
Der ursprüngliche Romantitel Musils lautete „Die Zwillingsschwester“; dies ist einmal bezogen auf die Geschwisterliebe, dann auf die Parallel-Jubiläen Preußens und der k. u. k. Monarchie und zuletzt metaphysisch auf das beständige Wechselspiel aus Wirklichkeit und Möglichkeit. „Hier könnte, sollte oder müsste etwas geschehen; und wenn man ihm irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“
Laut Musil wird Liebe entweder egozentrisch oder allozentrisch erlebt.Der Egozentriker erhebt sich und sein Fühlen zum Mittelpunkt der Welt, der Allozentriker hat keine Mitte und umkreist das Sein des Anderen, um selbige zu finden. Wo Egozentriker sich in die Welt hinein wendet, windet sich der Allozentriker aus ihr hinaus. Gewöhnlich tragen gesunde Menschen beides in sich; dies gilt auch für ratoids Denken (Wirklichkeitssinn) und nicht ratoides Denken (Möglichkeitssin), Selbstsucht und Selbstlosigkeit. Auf der Suche nach dem verlorenen Gleichgewicht – Ulrich neigt zur Egozentrik, Agathe zur Allozentrik – verlieben sich die Geschwister ineinander und ziehen sich erotisch an. Die mythische Vorlage liefern hierfür Isis und Osiris.
Agathe ist griechischen Ursprungs, vom griechisch Wort agathós, das „gut“ bedeutet und kennt eine männliche Form Agatho, die im Italienischen noch üblich ist.Ulrich bedeutet im Aötgermanischen Herrscher, Ermächtigter. Auch im angedeuteten Inzestmotiv, dem nicht vollzogenen, aber erwünschten Beischlaf, erweist sich Musils Credo, dass die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.
Ulrich heißt Agathe „Fragmentmensch„. Musil erzeugt Ulrich in seiner Verbindung mit Agathe den mystische n Urzustand der Mystik der Verschmelzung, eben jenen Hermaphroditismus der Urphantasie, in dem Gefühl und Verstand, „männliches und weibliches Prinzip vereinigt werden und Möglichkeit mit Wirklichkeit koinzidiert.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Straße, benannt nach nach dem Magdedburger Stadtbaurat, der maßgeblich am Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt war. https://www.mdr.de/tv/programm/sendung-852616.html
Ein zurecht gebogenes Goldstück
„Gott hat der Breite und Länge der Zeit nach nicht nur dieses eine Leben geschaffen, das wir gerade führen, es ist in keiner Weise das wahre, es ist einer von seinen vielen hoffentlich planvollen Versuchen“ (Kapitel Agahe bei Lindner) Die Moderne zeitigt den in seiner Unentschlossenheit schwankenden, auf Kork tanzenden Menschen. So fragt Agathe Lindner, der ihr vordem den Freitod ausgeredet hat, auf welche Weise Gott ihm antwortet, wenn er ihn in einer schweren Stunde um Rat fragt. Wenn der Mensch einem verbogenen Goldstück gleicht, das man nur wieder zurechtbiegen muss, damit das Gute zum Vorschein kommt und das Schlechte in ihm unterliegt, so bedarf es eines göttlichen Urteils, einer Sehkraft, die tief in die Seele des Menschen hineinzublicken verstünde und sie versteht. Lindner vermag es nicht: er will anderen helfen, vermag aber nicht einmal seine eigene Wirrnis zu durchschauen und ist von Lebensangst gezeichnet.
Für Ulrich gilt: „Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie.„
Er hat Angst, sich auf etwas festzulegen. Ein modernes Phänomen, gewiss. Für Ulrich besteht die Welt aus der Katastrophe in Permanenz, der Notlage, einem „Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen“ und Frauen, die er lieben könnte, hält er auf Distanz, damit sein Liebestrieb einer unter vielen bleibt. „Wir können die eine Seite unserer Natur gar nicht entwickeln, ohne die andere im Wachstum zurückzuhalten. Und was soll denn ausgelebt werden? Der Geist oder die Triebe?“
Er und seine Schwester müssen sich zu einem bedingungslosen Ja zum Leben erst überwinden. Fast alle Personen des Romans gelangen zur Erkenntnis, dass sie ihr Leben ändern müssen, um glücklich und selbstbestimmt zu leben. Doch für die meisten erweist sich das Anders-Sein-Können als Utopie. Sie finden gemeinsam zu dem, was Nietzsche Pessimismus der Stärke heißt, u. a. in Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, alles in allem und großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein!“ („Die fröhliche Wissenschaft“ IV, Aphorismus 176)

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Str. nach den Plänen von Carl Krayl, der den Pragmatismus ökonomisch Wohnfläche zu schaffen mit Ästhetik verband, um der „Grimimgkeit“ der Zeit zu entfliehen. der Architektur. Von 1921 bis 1938 hatte er eine Stelle im Verwaltungsausschuss in Magdeburg inne und entwarf das Krankenversicherungsgebäude in Magdeburg, ein Gewerkschaftsbüro und Mehrfamilienhäuser.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Straße. In Musils Anfangskapitel heißt es: „Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls.“
Es verlangen doch alle nach starker Führung!
Im Kapitel „Parallelaktion“, die von den Vorbereitungen der preußischen als auch der österreichischen Jubiläen handelt, äußert der Leiter des Kriegsministerium, General Stumm (eine äußerst mediokrer Geist) obigen Satz und fügt an: „Und außerdem aus dem Nietzsche natürlich und seinen Auslegern« Da wird doch bereits eine doppelte Philosophie und Moral verlangt: für Führer und für Geführte! Aber wenn wir schon einmal beim Militär sind, muß ich überhaupt sagen, daß sich das Militär nicht nur an und für sich als ein Element der Ordnung auszeichnet, sondern daß es sich immer auch dann noch bewährt, wenn alle andere Ordnung versagt!“
Ulrich unternimmt drei Versuche, ein bedeutender Mann zu werden: Zunächst wird er Soldat, dann Techniker, schließlich Mathematiker.
Militär, Technik und Wissenschaft – damit werden Wirklichkeitsordnungen benannt, die sein Jahrhundert in außerordentlicher Weise bestimmt haben und wohl immer noch bestimmen. Einzig die Liebe zur Literatur und dem nicht ratoiden Denken verhindert, dass Ulrich (alter Ego Musil) diesen Weg konsequent beschreitet. Warum bricht Ulrich (Musil) aus der vorgezeichneten Karriere aus?
Der Soldat Ulrich nimmt seinen Abschied in dem Augenblick, in dem er merkt, dass es andere, mächtigere Gruppen gibt, z.B. Finanziers, von denen das Militär abhängig ist. Diese Abhängigkeit ist Ulrich unerträglich, denn sein erster Berufswunsch entstammte kindlichen Allmachtsphantasien. Er ging einst zum Militär, um nichts weniger als Tyrann zu werden – Napoleon ist sein Vorbild. Er ist durchaus ein Kind seiner Zeit: eine mit Gewaltanteilen durchsetzte
Figur, das Produkt einer soldatisch – kriegerischen Gesellschafts- und Sozialisationsordnung. Da das Pferd von dem Motor zunehmend ersetzt wird, bildet sein Wechsel ins Fach des Ingenieurwesens keine Überraschung.
Wie das Genie seiner Zeit voraus ist, so bleibt der Durchschnittsmensch stets hinter ihm zurück und realisiert im Nachhinein, was vorher bei gescheiter Überlegung zu verhindern gewesen wäre. Diese Weisheit gilt ohne Verfallsdatum. Das gilt auch für ein weiteres Bonmot: „Es gibt Wahrheiten, aber keine Wahrheit.“

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Georg Richter Straße. Der vielseiteige Künstler Stefan Wewerka drehte bis zu seinem Tod 2013 auch Filme und half beim kriegsbedingten Wiederaufbau der Stadt, z.B. durch Möbel-Design für die Tecta, welche die Innenausstattung der G. R. Straße ausführte.
Leben als mathematische Gleichung
Wenn der Techniker Ulrich jedoch bald seinen Beruf an den Nagel hängt, da er begreift, daß dieser Berufsschlag nicht bereit ist, die Kühnheit ihrer technischen Entwürfe und Gedanken auch auf sich selbst anzuwenden, da die Techniker Gefühl und Verstand voneinander abspalten und ihr Gefühlunterentwickelt lassen, dann taucht hier schemen- und schattenhaft, im Umriß der Ausgrenzung nur, ein völlig neuer Kontinent auf: die unendliche Welt der Gefühle. Aus Langeweile beginnt Musil seinen „Törless“, bezeichnenderweise mit „Verwirrungen“ im Titel und damit verbunden, seinen Angriff auf ein System der Repression und der Regression.
Der rigiden Unterdrückung und Hierarchie der Werte entgegenstehend orientiert er sich an Mach und Nietzsche. Musil istr überzeugt von der Veränderbarkeit sowohl der Gedanken als auch der Gefühle, damit verbunden auch der Werte. Er hält die physische Welt als von der psychischen nicht grundsätzlich verschieden. Da sich die physikalische Entwicklung dynamisch permanent veränderte, befindet er auch den psychischen Bereich für wandlungsfähig und glaubt an die Möglichkeit einer neuen Gefühlsordnung.
Mit der Einsicht, die Probleme der Zeit seien eher technisch begründet als lösbar, wendet er sich seinem dritten Beruf zu: der Mathematik. Ulrich ist mit einsetzender Handlung 32 und bezeichnenderweise führt Musil mit dem Barometerstand ein, das eine messbare Temperatur-Funktion und eine die Naturwissenschaften verkörpern für Ulrich das neue, die Emotionen einschließende Denken, eine Wirklichkeit, die in Möglichkeiten aufgeht.
So wird die Frage des Denkens zugleich zu jener nach der richtigen Form des Lebens. Wie so häufig heißt es im Konjunktiv: Auf die Frage, „welches Ziel ihm
vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten
Lebens.“ Und dies ist schlussendlidch gleichbedeutend mit Führungsstärke eines autonomen Ich, das laut Mach kern- und substanzlos geworden ist.

Foto Belinda Helmert: Magdeburg, Otto Richter Straße. Der kolportierte Bauhaus-Slogan form follws function stammt von Horatio Greenough. einem amerikanischen Bildhauer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Straße liegt in Olivenstedt im Nordwesten.https://ottopix.de/die-bunte-otto-richter-strasse/
Die entscheidenden Dinge
„Die entscheidenden Dinge vollziehen sich eben über den Verstand hinweg, und die Größe des Lebens wurzelt im Irrationalen!“ sagt Ulrich im Kapitel „Parallelaktion“ quasi als Antwort auf Stumms Bekenntnis zur militärischen Lösung. Er widerspricht dem Dogma, dass es an einem Glauben die Hauptsache ist, daß man immer dasselbe glaubt.

Die Elbe hat derzeit einen historischen Wasser-Niedrigstand, im Durchschnitt liegt er im Innenstadtbereich bei nur 70 cm. an der Brücke sogar nur 44 cm. Im Hintergrund der alte Dom, erste gotisch konzipierte Kathedrale auf deutschem Boden, einer der größten Kirchenbauten Deutschlands überhaupt.
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