Balzac: Jeder Dichter ist Autor seiner selbst

Pont Wilson, heute die älteste Brücke von Tours. Balzac, 1799 in der ehemaligen Königsresidenz geboren, kannte sie: Die Fertigstellung der ca. 430 m langen Steinbogenbrücke über die Loire erfolgte 1778 im Ancien Régime. https://de.wikipedia.org/wiki/Pont_Wilson_(Tours). Das Original stürzte 1978 ein. Seitlich zu erkennen ist das aus dem 11. Jahrhundert stammende, mehrfach wieder aufgebaute château de Tours. an den Ufern der Loire.

Etudes philosophiques

Erzeugt der Dichter die Realität selbst und ist er damit auch der Schöpfer seiner eigenen Biografie oder verhält es sich invers? Das ist eine übergeordnete Frage, die Balzac (1799-1850), der sich schreibend erzog und mehr als jeder andere in seinen erschaffenen Figuren lebte, sich und seinen Lesern stellt. Weit über hundert Werke bilden die „Göttliche Komödie“ ab, in denen der Autor die Welt gänzlich romanesk erforschte und abzubilden versuchte. 20 Bände davon umfassen die Abteilung „Philosophische Studien“, die der umtriebige Schriftsteller als elementaren Teil seiner „Comédie Humaine“ in etwa zwanzig Jahren Schreibmanie anlegte.

Wenngleich seine Romane und Novellen weder chronologisch sukzessiv entstanden bzw. nach der Fertigstellung der Reihe nach veröffentlicht und zudem noch oft nachträglich umgeschrieben wurden, so datiert die relativ kurze Novelle „Das unbekannte Meisterwerk“, Le Chef-d’Oeuvre inconnu, aus dem Jahr 1831, den Anfängen seiner poetischen Karriere. Darin beschäftigt sich der Autor und leidenschaftliche Bilder-Sammler dezidiert mit Kunstgenuss, mehr noch mit Obsession und Perfektion .Die Frage nach dem Entstehen und dem Geheimnis künstlerischen Schaffens, zog Stefan Zweig magnetisch an.

Geld, Macht, Leidenschaft

Balzac ist 32 Jahre alt und steht am Anfang seiner Schriftsteller-Karriere, nachdem er als Anwalt, Verleger, Druckereibesitzer Jorunalist und Importeur diverser Speisen bereits erfolgreich dilettiert bzw. Bankrott erlitten hat. Man sagt von ihm, er sei eine Maschine, einer, der den neuen Gott des Bürgertums, das Geld, romantisch verewigt hat. Ein Apolget des Materialismus, einer, der Geschichte über die Kunst zu transportieren und nicht nur zu erfassen suchte.

Alle Romane und Novellen bewegen sich im magischen (zugleich realistischen) Dreieck Geld, Macht und Leidenschaft (negativ betrachtet Gier), denen alle Protagonisten unterworfen bleiben. Im Fall der Künstler, die Balzac in Typen unterscheidet, speziell der Maler, ist die Gier nach Perfektion die entscheidende Triebfeder. Der Maler will stets das Vollkommene erschaffen, der Künstler tritt an die Stelle Gottes.

Balzac lancierte den Roman zu dem vorherrschenden Kunstwerk des 19. Jahrhunderts , teilweise gekoppelt an den Feuilleton, denn zu seiner Zeit erscheinen alle Werke vorab als Fortsetzungen, bevor sie als Buch gedruckt wurden. Deshalb galt es Spannung aufzubauen und in überschaubare Kapitel einzuteilen,. Vordem fristete die Prosa nur ein Schattendasein hinter Tragödie und Lyrik. Sein ganzer Ehrgeiz galt der Gier, der größte Schriftsteller des Jahrhunderts zu sein. Zudem verfolgt der mit 13 Jahren in Paris lebende Anhänger Napoleons in seiner „Menschlichen Komödie“ das ambitionierte Projekt, anhand der Typenlehre in der Natur ein Kaleidoskop der Gesellschaft und menschlicher Verhaltensweisen nach gesetzmäßigen Ablauf darzustellen. In vielem blieb der Autor intransigent – unversöhnlich konsequent.

Die conditia hunmana erscheint bei ihm berechenbar und wie Saint Simon, der Begründer der Sozialwissenschaft, postuliert auch er, sie gehe in Zahlen und Materie auf. Wichtigste Triebfedern des Menschen sind seine Geltungssucht, das Streben nach Geld bzw. Macht und sein sexueller Trieb bis hin zur Hörigkeit. In Balzacs Werk bleibt die Kunst mit Geld, Macht und Sex verflochten, weshalb ihn Zweig zu den dämonischen Naturen zählt.

Realismus

Der mit Balzacs Stil verbundene Begriff Realismus ist noch nicht erfunden, analog der Renaissance eine Nachgeburt. Darunter fallen seiner exakten Studien bzw. Wiedergabe von Details, seiner Hingabe an alles, was die Epoche des Materialismus /Kapitalismus und die zur Macht kommende Bourgeoisie ebenso wie seine Milieuschilderungen. Ansatzweise führt die Gesellschaftskritik sogar in die Industrie und damit das Paris überflutende Proletariat ein.

Mit Recht gilt Balzac als Vertreter Saint Simons und als berühmtester Vertreter des Realismus, jener Epoche, welche die Romantik ablöst, obgleich sie doch in ihr wurzelt. In seinen „Philosophischen Studien“ verbindet Balzac drei Genres narrative Erzählkunst der Romantik, Schauergeschichte (angelehnt an Walter Scott) und Essay. Obgleich seine Geschichten an der Handlung und dem Drama orientiert bleiben, weiß er Kunstgespräche wie in der Romantik einzubinden.

Stilistisch verdeutlicht Le Chef-d’Oeuvre inconnu den Übergang der romantischen zur realistische Epoche mit ihrem zunehmenden Interesse an Technik, aber auch der Frage nach Epigonen oder dem Eklektizismus also dem Wiederholungs- und Kopierzwang unter Künstlern, die zunehmend ein Teil der Reproduktionsmaschine werden. Auch Kunst muss sich profanieren und prostituieren.

Hoffmann

Der bibliophile Balzac bewundert u. a. E. T. A. Hoffmann und er kennt natürlich die Seraponisbrüder Erzählungen (1820). Seiner Novelle „Das unsichtbare Gemälde“ steht “ Der Baron von B.“. Pate. In einer anderen Übersetzung steht wortgetreu für „Das unsichtbare bzw. „Das unbekannte Meisterwerk“ https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Baron_von_B. Ebenso lautet auch der Titel Balzacs „L´oeuvre inconnu“

In Hoffmanns fantastischer Erzählung geht es um einen euphorisierten fanatischen Geigenliebhaber, der auserwählten Schülern Unterricht gewährt, obgleich er selbst das Instrument selbst gar nicht zu spielen vermag. Die hohe Kunst verführerischer Melodien und orchestrierter Wohlklänge existiert daher nur in seinem Kopf. Darin angelegt ist nicht nur der Wahnsinn, welcher Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit häufig begleitet, sondern auch die zentrale Frage, ob Kunst auf technische Handhabung (techné) oder Genie beruht. Diese Frage betrifft auch der auf die Malerei angelegte Kunsstreit, den Balzac aufgreift.

IIn seinem Werk legt der Autor das Gewicht auf künstlerische Genialität der Einbildungskraft und das Geheimnis außergewöhnlicher Schaffenskraft. Für die Künstler seiner Epoche wurde es immer schwieriger, etwas Neues zu erfinden oder gegen sich von den Großen der Antike, der Renaissance und der Klassik abzuheben. Man sprach von Zwergen auf den Schultern der Riesen.

Hoffmann, der als Romantiker das Elemente des Fantastischen und Unbewussten betonte, suchte nach dem ideellen Wert der Erschaffung, dem subjektiven Geheimnis der Entstehung wahrer Kunst; Balzac legten den Fokus auf und die materielle, gesellschaftliche Ebene. Fakten wie Geld und Herkunft gewannen an Bedeutung gegenüber der unerklärlichen Liebe. Das Mysterium wich der Wissenschaft und messbaren Werten wie Geld, Ruhm, Erfolg.

Kant

Schein und Sein auf der einen Seite, Geschmack und Überwindung des subjektiven Eindrucks auf der anderen Seite, darum geht es in der Philosophie seit Kant. Der Transzendentalist sucht es noch im Ansinnen von Einbildungskraft, woraus Grazie und Anmut entstehen, welche die bloße sinnliche Erfahrung hinter sich lassen und Kunst zu einem Zweck der sittlichen Erbauung, Läuterung, Anschauung stilisieren. Sie dient der Bildung der Urteilskraft.

V

Schein und Sein auf der einen Seite, Geschmack und Überwindung des subjektiven Eindrucks auf der anderen Seite, darum geht es in der Philosophie seit Kant. Transzendentalphilosophie sucht es im Ansinnen von Einbildungskraft, woraus Grazie und Anmut entstehen, welche die bloße sinnliche Erfahrung hinter sich lassen und Kunst zu einem Zweck der sittlichen Erbauung, Läuterung und zweckgebundenen Anschauung stilisieren. Bei Kant dient Kunst der Bildung der Urteilskraft. Kunst wird zu einem als ob Zwecksystem, welches die Natur erklärt.

Vom reinen Selbstzweck, dem Gedanken der Autonomie, redet erstmals Hegel in der Theorie der absoluten Kunst. Aber auch er sucht den substantiellen Wert der Kunst noch im Bindeglied zu Philosophie und Religion, folglich der Fortbildung des Geistes und Erziehung des Geschmacks. Balzac kannte beide und baute auf deren Theorie, die der Verwissenschaftlichung der Kunst diente, seine menschliche Komödie auf. Der Zufall diente dem Großen und Ganzen wie die Farbe der Sichtbarmachung der eigentlichen und wirklichen Realität, die hinter den Dingen selbst lag.

Foto Bernd Oei: Radtour (700 km Strecke) entlang der Loire 2018 zwischen Amboise und Tours https://www.chateaux-de-la-loire.fr/karte-loire-schloesser.htm. Der mit 1006 km Länge längste Fluss Frankreich, vergleichbar dem Rhein, entspringt der Region Ardèche und teilt sich mitunter in drei Flussarme. Für die Schifffahrt hat man den Loire-Kanal gebaut; der Wasserpegel ist im Sommer äußerst niedrig, kann aber bei starken Regenfällen aufgrund der vielen einspeisenden Nebenflüsse stark ansteigen und historische Flutkatastrophen auslösen.hen auslösen.

Foto Bernd Oei: Loire, kurz vor Tours https://de.wikipedia.org/wiki/Tours#/media/Datei:Loiretal.png. Das Loiretal mit seinen rund 300 Schlössern zählt zu den ältesten Unesco-Weltkultureben und weist einige grand cru Weinregionen auf. Auf kleine oder goße Inseln (Werder (île fluviale) trifft man auch bei Tours, die zudem von der Cher durchflossen wird, die nach 365 km links in die Loire mündet.

Kunststreit in „Das unsichtbare Meisterwerk“

Suche nach dem Absoluten

Bezogen auf das lange Zeit vom Künstler verborgen gehaltene Meisterwerk erscheint unsichtbar als die trefflichere Übersetzung, trotz der klaren Bedeutung von inconnu(e) als unbekannt. Pointiert: der Maler Frenhofer ist besessen davon, das perfekte Gemälde, Inbegriff aller Schönheit, nach zehn Jahren Hingabe und unzähligen „Irrtümern“ erschaffen zu haben; am Ende stellt sich heraus, dass der Meister lediglich den Fuß einer Dame gelungen ist. Das restliche und eigentliche Kunstwerk hingegen nur in seiner Einbildungskraft besteht. In Sehnsucht nach vollendeter Harmonie hat der Maler nur Schicht umd Schicht aufgetragen und seine künstlerische Idee in Materie erstickt. Zu erkennen sind nur bunte Flecken. Ergo gilt: die Materie hat reüssiert,die Wirklichkeit geht in ihr auf bzw. unter. Der Wahn äußert sich im puristischen Subjektivismus.

Eine detaillierte Zusammenfassung samt Analyse ist unter https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/das-unbekannte-meisterwerk/17211 nachzulesen. Hier nur die eigene verkürzte Darstellung mit ihren Konflikten. Es gibt vier Protagonisten – angesichts der 6000, davon häufig wiederkehrenden Romanfiguren Balzacs, eine untypisch geringe Zahl. Zwei davon sind historisch belegt: der wohl berühmteste Barockmaler (Nicolas) Poussin https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Poussin und der flämische Renaissance – Hofportraitist Franz I. Porbus der Ältere https://de.wikipedia.org/wiki/Frans_Pourbus_der_%C3%84ltere. Erfunden sind die Geliebte Poussins, sein Modell Gilette und der Meister, eine erfundene Figur namens Frenhofer. Die Zeit der Handlung, ungewöhnlich für Balzac, wird zurückversetzt auf das Jahr 1612. Auch der beschriebene Zeitraum ist mit drei Monaten nichts balzac-typisch, da er zumeist längere Erzählte Zeiten bevorzugt. In dieser Erzählung ist alles äußerst komprimiert.

Eine füntfte Person tritt hinzu: Frenhofer nennt das Portrait und Modell seines Meisterwerks seine Frau Cathérine. Die Anlehnung ist historisch und erklärt den gewählten Zeitraum für die Novelle, das frühe 17. Jahrhundert. Cathérine Lescaut war derzeit die erfolgreichste Mätresse am Hof Ludwigs und Schönheits-Ideal. Andererseits erinnert es an das verschleierte Bild zu Saïs und damit jene Wahrheit, die nie zu (be)greifen ist und den Erkennenden in den Wahnsinn führt. (https://www.friedrich-schiller-archiv.de/inhaltsangaben/verschleierte-bild-zu-sais-text-zusammenfassung-interpretation/)

Zeuxis und Parrhasius

Frenhofer verkörpert das bewunderte Genie, das im Bestreben, das perfekte Gemälde und die perfekte Frau malerisch zu erzeugen und aus der Plastizität in die Realität zu überführen, wie es in der Antike Zeuxis und Parrhasius widerspiegeln. https://www.projekte.kunstgeschichte.uni-muenchen.de/Paragone/zeuxis_zundp.html. Er endet im sterilen Wahnsinn; ddie Pointe Balzacs besteht darin, dass er für sein Meisterwerk , die Frucht all seiner Schaffenskraft nimmt, was de facto ein Grab aus Farben ist. Der Meister täuscht nicht anderen die Wirklichkeit vor, sondern sich selbst.

Die verunstaltete Leinbwand noch nicht ahnend, buhlen Porbus, der Meister der Striche und exakten Zeichnungen, wie sie in der Renaissance das Maß der Dinge bildeten einerseits und der, Delacroix antizipierende Meister der Farben, Poussin andererseits, um die Gunst des Genies.

Der junge Poussin ist in seiner Sehnsucht, das vermeintliche Meisterwerk sehen zu dürfen, bereit, seine Verlobte für die Kunst zu opfern. Balzac thematisiert dadurch das Fleisch und den Sex als Inspirationsquelle; der Sinnzusammenhang zwischen Eros und Kunst zu der weiblichen Anmut (Sujet der lorettes) wird zum Motor der bildenden Künste.https://fr.wikipedia.org/wiki/Honor%C3%A9_de_Balzac

Zwerge und Riesen

Die Theorie des Künstlerstreits enthält zwei zentrale Thesen bzw. Antithesen; beide waren durch Victor Hugos sensationellen Dramenerfolg „Hernani “ nach dessen Premiere am 25. Februar 1830 wieder belebt worden. In seinem Vorwort rechtfertigt er die Priorität des Gefühls (Äquivalent zur Farbe) gegenüber der Form (Äquivalent zur Zeichnung)

Bereits Diderot äußert im zweiten Kapitel seines auch als Essay bekannten „Meine kleinen Ideen über die Farbe“ das Pro und Contra von Farblastigkeit bzw. bloßer Präzision der Symmetrie. Die für Balzacs elementare Frage, ob die aktuellen Künstler Zwerge auf den Schultern von Riesen seien, ist indes viel älter. „Zwerge,die auf den Schultern von Riesen sitzen“ ist ein Versuch, das Verhältnis der jeweils aktuellen Wissenschaft und Kultur zu Tradition und den Leistungen früherer Generationen zu bestimmen. Zugeschrieben wird das Gleichnis Bernhard von Chartres, der im 12. Jahrhundert lebte und darin die Kunstleistungen des Mittelalter mit der Antike verglich.

Im Fall der Tragödie Hugos, der mit den Konventionen des Theaters à la Corneille und Racine brach, übertrug sich die Debatte auf die Dramenkunst; laut Aristoteles und dem vorherrschenden Zeitgeist (übrigens auch Hegels Ansicht nach) bildet sie die höchste und sublimierte Poesie. Diderot plädiert für die Farbe, da große Gefühle (passions et emotions) zu erwecken die eigentliche Aufgabe der Kunst sind und diese primär von Farben evoziert werden:

Foto Bernd Oei: 25 rue de l’Armée d’Italie, ehem. Straße, in der Balzac geboren wurde. http://www.lysdanslavallee.fr/fr/contenu/la-maison-natale-tours. ehem. Straße, in der Balzac geboren wurde. Die Gründung im Zentraltal erfolgte unter den Kelten; Tour erlebte seine Blütezeit nach der Vertreibung der Franken im Mittelalter, als sie Königsresidenz wurde. Heute zählt die Geburtsstadt des Romanciers und Hauptstadt des Departments Indre et Loire (kulturelle Bezeichnung Touraine) annähernd 140 000 Einwohner. Zwei der schönsten Wasserschlösser Frankreichs liegen nicht weit entfernt: Château Azay de Rideau an der Indre https://www.loiretal-frankreich.de/kulturstatte/chateau-dazay-le-rideau/und Château de Chenonceau an der Cher. https://www.chenonceau.com/

Balzacs Besessenheit

Ausgang des Künstler-Streits zwischen Malern liefert Plinius, in seiner Analogie der Täuschung: Kann ein Gemälde wirklicher sein als die Wirklichkeit selbst? Vermag sie tiefer zu berühren als lebendige Realität. Die Theorie, Kunst als höhere Form der Wirklichkeit zu verordnen, ist seit der Antike bekannt.

Ausgang des Künstler-Streits zwischen Malern liefert Plinius, in seiner Analogie der Täuschung: Kann ein Gemälde wirklicher sein als die Wirklichkeit selbst? Vermag sie tiefer zu berühren als lebendige Realität. Die Theorie, Kunst als höhere Form der Wirklichkeit zu verordnen, ist seit der Antike bekannt.

In „Das unsichtbare Meisterwerk“ steigert sich der greisenhafte Frenius in eine Kaskade der Leidenschaft. Sein kompromissloses Bild soll mehr sein als ein Abbild der mutmaßlich schönsten Frau ihrer Zeit, Cathérine Lescault, einer der berühmtesten Mätressen am Hofe Ludwigs XIV. Es soll eigenes Leben haben, der Quell alles Lebendigen sein.

Balzacs Schlüsselsatz der Novelle aus dem Mund von Frenius lautet: „Cette femme n´est pas une peinture, c´est une créature“. Folglich empfindet der Maler sich als Gott. Nicht nur das Geld, sondern für Künstler im Besonderen ist die Kunst, die Perfektion der Ästhetik, der schönste Schein, bereits an die Stelle von Wahrheit und Gott getreten.

Passion nach Größe

Das nachhaltig bekannteste Werk des erfindungsreichen Romanciers aus der Reihe „Etudes philosophiques“ stammt aus dem selben Jahr: „Das Chagrinleder“ (La Peau de chagrin). Auch darin geht es um Besessenheit und den Preis für diese Leidenschaft und Liebe wird geopfert. Alles erscheint in Balzacs Zeitalter möglich und Mephistopheles hält reiche Ernte. Nichts ist für den Menschen der beginnenden Moderne schlimmer als Langeweile oder als das Mediokre. Gut zu sein genügtder Kunst nicht, da sie vom Können und nicht vom Wollen kommt. Die post-napoleonische Epoche misst mit Unendlichkeit; ihre Währung ist das Vollkommene.

Ein Beispiel aus späterer Zeit für die dämonische Kraft der Schönheit und ewige Jugend liefert Oscar Wildes „Picture of Dorian Gray“ (1890), ein anderes stammt von Balzacs Zeitgenossen Nicolai Gogol: „Das Portrait“ (1833). In beiden geht es um die zwei Welten, dämonische Schönheit als Ideal einerseits und moralischer Abgrund andererseits. Der schöne Schein, der Hang zur Perfektion und Größe triumphiert stets über die Tugend. Kunst duldet keine Moral.

Naheliegend ist auch der Vergleich zu Théophile Gautiers „Spirita“ (1865) und noch mehr zu Emile Zolas „L´Oeuvre“ (1885) – vierzehnter Band aus dem Zyklus Rougon-Macquart, das ich in meiner Monografie „Die Stundes des Fleisches“ Balzacs Maler-Novelle gegenüberstelle. Zwischen beiden Autoren liegt Gustave Flaubert; dieser entlarvt in „Bouvard und Pécuchet“ Kunst allgemein und Malerei im Besonderen als Dystopie und Illusion.

Zola

Claude, in „Das Werk“ Zolas Pendant zu Frenius, ist ein Gefangener seiner Bilderwelt; sein Meisterwerk bleibt unvollendet und wirkt grässlich entstellt, eine Anhäufung von Farbklumpen. Bekanntlich ist Zola ein Schüler Taines, Naturalist und Vollender von Balzacs Synthese aus Prosa, Poesie und Wissenschaft. Während Balzac noch fasziniert ist von den Möglichkeiten der Technik und selten das Elend der Arbeiter berücksichtigt, bestenfalls die Korruption der Finanzwelt betont, tritt in Zolas sozial begründetem Determinismus das Elend der Massen, bedingt durch die Urbanisierung, in den Fokus

Im Fall von Zola und Balzac (der dem Individuum noch mehr Handlungsspielraum einräumt als sein Nachfolger) rivalisieren die leibhaftigen Frauen mit Bilder-Ikonen, die Objektivierung auf ihren Körper bzw. die Reduktion auf ihr Modell-Dasein. Dies führt zur Frage, ob Künstler eine andere oder gar keine Moral haben dürfen, um ihr Werk voranzubringen. Einige große Genies waren menschliche Kretins, skrupellos und mitunter sogar Verbrecher. Darf dies der Preis für erhabene Kunst sein? Kann Eifersucht auf eine virtuelle Konkurrentin ein Seelenleben zerstören? (Im Fall Zolas in „Das Werk“ gschieht das mit Christine, deren Leiden exzessiver beschrieben werden als deren Gilettes). Balzacs Frauen sind meistens stark, zumindest präsent und eigenständig: er nimmt die Emanzipation vorweg; im Guten wie im Schlechten können Frauen, was seinerzeit nur Männern zugebilligt wurde.

Foto: Wladyslaw [Disk.] auf https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3106983, Place Plumereau. Als Film: youtube.com/watch?v=P1dbu1dTMas (Sequenz bis 0:54) Der Platz ist der wichtigste in Tours und in der Nähe des Rathauses; den Stil der Fachwerkhäuser nennt man maison à pans de bois,

Foto Bernd Oei: Tours, Altstadt Saint Martin. Das östlich gelegene Stadtviertel (quartier) ist benannt nach dem dritten Bischof der Stadt im 4. Jahrhundert. Es enthält noch Häuser aus dem 16. Jahrhundert, d.h. der Renaissance, als Tours in den Hugenottenkriegen umkämpft war (mit finalem Sieg der Katholiken).

Der Mensch als Tier

Saint Hilaire und die Zoologie

Balzacs Novelle enthält vier Meilensteine seiner Arbeit, die an den Ökonomen Saint Simon und noch mehr an den Zoologen Étienne Geoffroy Saint-Hilaire orientiert ist. Demzufolge beherrschen ökonomische und der sexuelle Grundtrieb beherrscht das Bewusstsein; Balzacs Protagonisten handeln folglich hormongesteuert und berechenbar. Der Einbezug von Wirtschaft und Patriarchat in die Handlung als Movens ist ein Verdienst Balzacs, der sich nicht mit der Geschichte begnügt, sondern eine Facette dahinter eröffnet, ein Blick hinter den Spiegel und hinter Masken. Damit zusammen hängt analog zu Darwin die Beobachtung, dass menschliche Verhaltensweisen denen von Tieren gleichen und diese physikalischen Gesetzen unterworfen bleiben.

Aus der Zoologie – schon Aristoteles nannte den Menschen ein zoon politicon, ein vergesellschaftetes Tier – leitet Balzac noch vor Taine eine Typenlehre ab. Phänomenologie, Kindheit, Berufsbild (Metier) fördern einen bestimmten Charakter; die Umwelt prägt und formt die conditia humana. Balzac stellt Provinz und Paris gegenüber; Stadt bzw. das Landleben fördern oder hemmen angelegte Tendenzen, die am Ende sich durchsetzen müssen.

Im Vorwort seiner „Göttlichen Komödie“ geht klar der Bezug zur Zoologie hervor.

Foto Bernd Oei: Tours, Place Plumerau im quartier Saint Martin, der besonders am Abend illuminiert einladend wirkt. https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g187130-d8399452-Reviews-Place_Plumereau-Tours_Indre_et_Loire_Centre_Val_de_Loire.html Gelegen im Herzen des mittelalterlichen Viertels und der Fußgängerzone.

Foto Bernd Oei: Tours, Fachwerkhäuser am Place de Plumereau, mittelalterliches Gewerbeviertel https://www.komoot.com/de-de/highlight/5721995. plumer bedeutet rupfen (Gefieder) aber auch ausnehmen (Menschen); plumeau heißt Feder bzw. Federbett.

Kunst als neue Religion

Kunst und Wissenschaft treten wie das Geld, das mit beiden Themen verstrickt ist wie ein Treibstoff, der den Motor voranbringt, an die Stelle der Religion. Diese erscheint selbst käuflich und agiert genauso wie das Geld mit Drohung, Einschüchterung und Vernichtung.

Kunst und Wissenschaft treten wie das Geld, das mit beiden Themen verbunden ist als Treibstoff, der den Motor voranbringt, an die Stelle der Religion. Diese erscheint selbst käuflich und agiert genauso wie das Geld mit Drohung, Einschüchterung und Vernichtung.

Kunst und Wissenschaft treten wie das Geld, das mit beiden Themen verstrickt ist wie ein Treibstoff, der den Motor voranbringt, an die Stelle der Religion. Diese erscheint selbst käuflich und agiert genauso wie das Geld mit Drohung, Einschüchterung und Vernichtung. Es liegt auf der Hand, dass das Problem des unsichtbaren Meisterwerks, der absoluten Kunst, erst auftrat, als die Kunst autonom wurde.

Solange das religiöse Sujet oder die Bedürfnisse eines Mäzens das Werk bestimmten, dachte niemand an „absolute Kunst“. Das Absolute, Vollkommene war das Göttliche. Höchstes Ziel der Künstler war das Erfüllen eines Regelwerks, das für jedes Bildthema feststand, besonders natürlich für die religiöse Ikonographie. https://www.deutschlandfunk.de/das-unsichtbare-meisterwerk-100.html. Dieser Gedanke mit all seiner Wucht, artifiziell eine eigene Welt erschaffen zu können, erscheint mir das zweite große Sujet von Balzac.

Es steht außer Frage, dass Balzac nur für sein Werk gelebt hat, ohne jedoch ein Theoretiker, Bücherwurm oder sonstig weltfremdes Wesen zu sein. Er hielt jedoch alles was er sah und beobachtete für ungeordnet und seine Romane für das Destillat der Wirklichkeit (Hegels wirkliche Wirklichkeit, die Vernunft). Er lässt dem Zufall keinen Raum. Das Dogma, die relisiöse Ekstase ist vom künstlerischen Exzess so wenig zu unterscheiden wie die innere Wahrheit, die der äußeren ihre Form verleiht. Derjenige triumphiert und reüssiert, der gottgleich das Gesetz schafft undmittels seines starken Willens durchsetzt. Darwins Prinzip lautete survival of the fittest. Balzac gebiert den Gottmenschen des aufgeklärten Zeitalters, den modernen (entfesselten) Prometheus.

Foto Bernd Oei: Cathédrale Saint-Gatien de Tours, Südturm 1570. https://de.wikipedia.org/wiki/Kathedrale_von_Tours. Länge des Hauptschiffs: 90 Meter. Der Pfarrer von Tours (1832) bildet in Balzacs Comédie humaine Gegenstand der Scènes de la vie de province.

Foto Bernd Oei: Kathedrale Saint-Gatien, Turmhöhe 70 m. Die Kirche und das nach ihr benannte Quartier wurden auf den Ruinen der alten, gallo-romanischen Stadt errichtet. Bekannt ist die Kirche für ihre 15 Glasfenster (vitrail, vitraux) aus dem 13. -15. Jahrhudert inkl. Rosette. https://loirelovers.fr/que-faire-tours-visiter/

Die Mutter aller Fragen

Der letzte Punkt, den Balzac umkreist und den man leicht mit Eros verwechselt, ist die Schönheit an sich. Kant und Platon wähnten sie als Idee, in der alles vereint ist – das Gute, das Vernünftige und die Harmonie. Bei Balzac scheint alles auf das Wilde, das nackte Selbst, das Unbewusste, den Willen in seiner Triebbhaftigkeit hinauszulaufen. Die Natur des Menschen entspricht dem Willen zur Macht, hier bereits Nietzsche antizipierend.

Der Teufelpakt zwischen Künstler und dem Dämon, dem er seine Seele verschreibt, damit er schaffen kann, liegt offen, besonders in „Das Chargrinleder“, wo der Mensch mit jedem Wunsch und jeder erfüllten Leidenschaft schrumpft. Auch hier herrschen zwei Frauenfiguren vor, die eine (Pauline) gibt nur und die andere (Feodora) nimmt ausschließlich: Engel und Teufel, aber auch Wirklichkeit und Fantasie werden im Weib allegorisiert. Etwas verborgener lässt sich dies im Künstlerportrait von Poussin und von Frenius bzw. den Frauen Gilette (die sich beinahe Opfernde) und Cathérine (die fordernde Ikone) erkennen.

Das junge Genie verliert sein fleischliches und natürliches Verlangen für Gilette, er ist nur noch von ihr als Modell fasziniert. Der alte Frenius indes vergleicht das verlockende Angebot zwischen der schönen leibhaftigen Muse und der eigenen Bildhaften und findet, dass nur der Maler die Frau ganz für sich hat. So wird die Ikone, die reine Kunst zum eigentlichen substantiellen Inhalt des Lebens und das Lebendige zum notwendigen Rahmen für das Bild, nicht mehr.

Foto Bernd Oei, Tours Altstadt, Quartier Saint Martin, Fußgängerzone. Das bekannteste Bild des Heiligen (Bischofs) Martin von Tours stammt von El Grecco https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_von_Tours#/media/Datei:El_Greco_-_San_Mart%C3%ADn_y_el_mendigo.jpg. Die Figur des Heiligen Martin befindet sich auch auf der Kuppel der nach ihm benannten Basilika. https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Martin_de_Tours

Foto Bernd Oei: Tours, selbiges Gebäude, Rückseite. In diesem Haus hielt sich der aus der Touraine stammende und führende Renaissance Poet Pierre de Ronsard auf (ein echtes de, kein ermogeltes wie bei Balzac) auf. In seinem Terzett 1578 mit dem Titel „Je suis pour votre amour“ aus seinem Band 130 Sonnets pour Hélène vergleicht er die Geliebte mit einer Form der Bitterkeit. So lautet die Schlusszeile der ersten Strophe: Comme il y a de grains dedans votre grenade (Weil es Kerne gibt in deinem Granatapfel) , gefolgt von der Metapher Kuss des Lichts. Mythischer Hintergrund: Als Hades Persephone raubt und ihr einen Granatapfel zu kosten gibt, wird sie durch das Symbol für Liebe und Fruchtbarkeit für immer an Hades gebunden und darf nur noch den Sommer bei ihrer Mutter im Reich der Lebenden verbringen.

„Es gibt für mich nichts Erstaunlicheres als mich selbst“

Diesen, besonders Zweig beindruckenden, Satz sagte Balzac, der früh von seinem Genie überzeugt war und es vor allem seiner Mutter zu beweisen suchte, dass er ihre Wertschätzung verdient gehabt hätte. Seine einzige Novelle, der in Tours selbst spielt, Le Curé de Tours, enthält alle charakteristischen Motive ihres erfindungsreichen Autors, der über 90 von geplanten 130 Werken vollenden konnte. Hass bzw. Neid nach Enttäuschung, Gier nach Ruhm und Geld.

Die Erzählung beginnt mit dem Einzug des naiven Pfarrers in eine bischöfliche Wohnung und endet mit dem Verlust des gesamten wertvollen Mobillars bzw. Inventars. Balzac liebte es, sich mit kostspieligen Prunk zu verschulden und Benjamin schreibt in seinem Passagenwerk über „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, dass nichts mehr als das Intérieur den Aufstieg des Bürgertums und die Herrschaft des Kapitals, visualisiere.

Die Kritik Balzacs am Klerus über die Scheinheiligkeit der Gesellschaft macht auch vor der Kirche bzw. ihren scheinheiligen Würdeträgern nicht Halt. Der einzige Ehrliche in der Erzählung, dessen Laster seine Einfältigkeit ist, der naive Pfarrer Birotteau. Da er das Arrangement der Etablierten stört, wird auf eine arme Pfarrei in einem Vorort abgeschoben. Die intriganten Mächtigen hingegen haben sich untereinander arrangiert. Eine Krähe hackt auch im Gotteshaus eben der anderen kein Auge aus.

Foto Bernd Oei: Fassadenschmuck aus Holzfiguren, typisch für die Altstadt (vieux quartier) von Tours. Manche von ihnen dürfte der Romancier gekannt haben, bevor er mit seinen Eltern fünfzehnjährig nach Paris zog. Ein Balzac-Museum in Tours gibt es erstaunlicherweise nicht, dafür im nahe gelegegenen Sache, wo er u.a. „Pére Goriot“ schrieb. (https://www.touraineloirevalley.co.uk/cultural-heritage/balzac-museum-sache/)

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