
Foto Belinda Helmert: Sonnenuhr, Herrenhäuser Gärten, Hannover. Laut Bergson erleben wir nicht Zeit, sondern nur Dauer, die von der Messbarkeit und der Wissenschaft eliminiert wird. Diese gefühlte Zeit die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist, erscheint ihm als die wirkliche.
Die Sache mit den Plätzchen ….
Ohne den Einfluss und die Lektüre seinew Verwandten Henri Bergson wäre Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kaum denkbar. Bergsons Promotion „Die Zeit und die Freiheit“ (frz. 1889; dt. erst 1910), erregte auch großes Interesse unter seinen Kollegen an der Pariser Eliteuniversität der Sorbonne. Seine Theorien basierend auf der Freiheit des Verstandes unterscheidet durée (Dauer), worunter die qualitative (psychischen) Aspekte der Zeit subsumiert werden von temps , der physikalischen Zeit. Reihenfolge, Trennung und Neuordnung der bewussten Zustände sorgen für eine Kreation, eine Schöpfung der Wirklichkeit analog Husserls Begriff der wirklichen Wirklichkeit. Nur, dass die Version des Franzosen auf das Gefühl, auf Erinnerung und nicht auf Logik und Rekonstruktion des Gedächtnisses abzielt.
Die Begriffe Erlebniszeit und Bewusstseinsstrom sind ohne Bergson kaum vorstellbar und dadurch auch nicht die berühmten Madelaines in Prousts „An der Seite von Swann“. «Ich führte einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten Stück Madeleine an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glückgefühl …»“
Zudem widerlegt Bergson darin sowohl den Kantischen transzendentale Idealismus, der von der Freiheit als regulative Idee (für die Einbildungskraft) ausgeht, als auch den Cartesinaischen Materialismus, der von dem strikten Kausalzusammenhang von faktischer physischer Ursache und psychischer Wirkung überzeugt ist.
In „Materie und Gedächtnis“ ( frz.1896; dt. 1911) akzentzuiert Bergson die Selektivität des menschlichen Gehirns; sie ist bis heute seine populärste Schrift, u.a. mit Einfluss auf Edmund Husserl. Matière et Mémoire ist das zweite von insgesamt vier Hauptwerken, in denen Bergson die zentralen Theorien seiner Philosophie darstellt. inkludierend seine Gedächtnistheorie. Kernsthese ist, dass die Vergangenheit nicht ohne weiteres aufgehört hat zu existieren, sondern in der Dauer fortbesteht. Dauer organisiert das Gedächtnis, das sich in zwei unterschiedlichen Formen als mémoire souvenir Erinnerung) und mémoire habitude (Gewohnheitsmuster) organisiert.

Foto Bernd Oe: Uhr im heimischen Liebenau, Schaufensterflohmarkt. Es ist Fünf vor Zwölf – optimistisch gedeutet.
Swing und Schwingung
Unsere Erfahrung nimmt reales Leben nicht als Reihenfolge abgegrenzter bewusster Zustände wahr und bildet eine chronologische eingebildete Linie, sondern schöpft Zeit aus einem „ununterbrochenen Fluss“ der Gehirnaktivität, aus der die eigentliche erlebte Zeit, die „Dauer“ entsteht. Bergson argumentiert, dass die Realzeit nur als Dauer erfahren wird und allein durch Intuition entsteht (élan vital). In: „Die schöpferische Evolution“ (1907; dt. 1911), untersucht Bergson das Entwicklungspotenzial menschlicher Rationalität und prüft und begreift den Verstand als reine Energie (élan vital), d.h. als lebenswichtige Kraft, die verantwortlich für alle organische Entwicklung ist.
Im Gegensatz zu Kant ist weder Rau,m (Materie) noch Zeit ein autonomes Gebilde, das unseren Anschauungen wie ein fester Rahmen a priori vorausgeht und folglich nur einen beschränkten Handlungsspielraum ermöglicht bzw. der Einbildungskraft Grenzen setzt. Auf der anderen Seite bevorzugte Bergson eine klare, mit vielen Alltagsbeispielen einhergehende Sprache. Seine Überzeugung: „Es gibt nichts in der Philosophie, das nicht auch in der täglichenSprache gesagt werden könnte“.
„Die Materie ist Energie und der Geist im Gedächtnis behaltene Schwingung“.
Unsere Wahrnehmung beruht auf Gedächtnisarbeit, dem „Fortschreiten eines Gedankens, der sich im Maß seiner Formwerdung verändert.“
Die Stabilität der Wahrnehmung beruht auf Gewohnheiten. Diese „macht“, dass unser Raster im Gedächtnis immer gröber wahrnimmt, immer schneller und unhinterfragter Bild und Abbild gleichsetzt. So wird z.B. die Farbe Blau mit dem Gegenstand, der Blausein in sich hat, gleichgesetzt und ermöglicht Assoziationsketten von der Wahrnehmung Blau ausgehend, die für das Subjekt absolut real sind. Blau wird gleichzeitig ein Gefühl.
„Reine Wahrnehmung“ der Materie (Zeit in seiner physischen Extension) dagegen ist gar nicht möglich, da unser Gehirn jedes Wahrgenommene über den Reiz (Stimulus) selektiert und einem Gesamtbild zuordnet. Die Totalität des Raumes oder der Zeit wird aufgrund der Trägheit des Nervensystems gar nicht rezipiert. Die wirkliche Zeit (durée), zumeist als Dauer übersetzt, prägt das Gedächtnis, aber sie determiniert es keineswegs (und damit auch keine Handlungen), sonst wären alle Assoziationen determiniert.

Foto Bernd Oei: Eiche in Liebenau, Lange Straße vor dem Schaufenster-Flohmarkt. 1883 gepflanzt zu Ehren Lutherss 400. Geburtstag. Henri Bergson (1859-1941) weilte zu dieser Zeit in Clermont-Ferrand (Auvergne Rhône-Aple) und verfasste eine Arbeit über Lukrez, ein römischer Vertreter des Epikurismus zu Zeiten Caesars, der den Verfall der Eliten und den Krieg beklagte. https://www.superprof.de/blog/lukrez-natur-leben-welt-seele/
Sprung aus der Tiefe
„Koextension“ beschreibt das Phänomen, daß Zeit und Dauer zugleich sind. Die Materie (konkret das wahrgenommene Bild) ist lediglich eine Form von transformierender Energie – Transformation, später Lebensdauer genannt. Diese ist eine Folge von Metamorphosen der Dauer. Während die physische Zeit (temps) homogen und linear verläuft, wird Dauer in der Psyche als heterogen erlebt. Sie versetzt das Gedächtnis in Schwingung. Das Verhältnis von äußerer Zeit (Prinzip Expansion) und innerer Dauer (Prinzip der Kontraktion) zeitigt zwei Formen der Erinnerung. Vergleichbar mit einer Uhr und deren Pendelbewegung von Speichern der Bilder und Ablegen (bewusstes Löschen oder unbewusstes Verdrängen) der Erfahrungen.
„Jede Materie evoziert ein Bild, das im Gedächtnis abgelegt wird. Das Gedächtnis nimmt dieses auf und bestimmt, welche Bedeutung es erhält.„
Anstelle von bewusst und unbewusst spricht Bergson von Oberflächen- und Tiefen-Ich. Wirklich gelöscht sind die Bilder ebenso wenig wie man sagen kann, dass das Gedächtnis Dinge gar nicht wahrnimmt, nur weil es sich nicht daran erinnert. Diese (Zeit)Phänomene in einem „Tiefen-Ich“ und können nachträglich, geradezu sprunghaft auftauchen.
Mit dem instinktiven Sich Erinnern sind keine Kontrollmechanismen verbunden. Erinnerungen sind daher nicht zu steuern, sondern sie tauchen reflexartig auf, sie überkommen uns einfach und zeugen Zeit, gleich, ob ihr real logische (äußere Beobachtung, Spiegelung physischer Bilder) oder bloß psychologische Phänomene (Einbildung) zu Grunde liegen. Es koexistieren analytisches und intuitives Gedächtnis.
„Zeit ist Zeugung oder sie ist schlechthin nichts.“

Foto Belinda Helmert: Der Traum vom Paradies, Kermaik von Günter Helmert (Bernau), 2010 im Schaufensterflohmarkt Liebenau
Leuchten aus dem Inneren
Bergson begründet Verkettung von Reiz und Reizverarbeitung durch die Gleichzeitigkeit von äußere und innerer Wirklichkeit (Möglichkeit) „Die Materie wird von der Vorstellung ein radikal Verschiedenes, das folglich für uns nie Bild werden kann, man stellt ihr ein Bewußtsein gegenüber.“
Die reine Wahrnehmung der äußeren Welt, die unmittelbare objektive faktische Wahrnehmung, welche über die Sinne (Rezeptoren) läuft, ist „sehr klein im Vergleich zu all dem, was unser Gedächtnis hinzufügt….Wahrnehmung ist schließlich nur noch ein Anlaß zur Erinnerung“.
Ein Schlüsselwort für Erinnerung ist die coupage (Trennung) und recoupage (Zusammenfügen) der Materie. Erinnerung als aktives Vermögen überlagert das passiv speichernde Gedächtnis mit ihren Assoziationen und Dissoziationen. Um eine Reizüberflutung zu vermeiden, arbeitet das Gehirn mit Verdrängung bzw. selektiver Wahrnehmung.
In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Konzentration bzw. der „gerichteten Aufmerksamkeit“entscheidend, den Bergson auch den Moment der Qualität nennt. Quantitatives ist bloß motorisches willkürliches Wiedererkennen (Wiederholen von Bildern aus dem Gedächtnis) und verläuft ohne Konzentration.
Spontanes unwillkürliches Wiedererkennen jedoch ist stets an Aufmerksamkeit gebunden. Das Gedächtnis wählt „geeignete Bewegungen“ und Empfindungen aus der Möglichkeit bzw. Variation von Bewegungen. Selektion erzeugt Gerichtetheit. Er spricht auch von Seherinnerung.
Bergson führt den Begriffe der „Seelenblindheit“ ein, um Gedächtnisverlust zu beschreiben. Jedes Bild gleicht einer „Seherinnerung“, das einen Ordnungszusammenhang bedarf, weil es ansonsten, selbst bei motorischem Reproduzieren der Erinnerung ohne Bedeutung (Sinnzusammenhang) bleibt.
„Unser Nervensystem macht uns zu Wesen, bei denen sich gegenwärtige Eindrücke in geeignete Bewegungen fortsetzen…“

Foto Belinda Helmert: Kannenlampe, Design Maik Dräger, Schaufensterflohmarkt Liebenau
„Färbung der Zeit“
Die (aus meiner Sicht) wichtigsten Erkenntnisse über die Dauer lauten:
Dauer und Bewegung sind Synthesen des Geistes, keine Dinge.. Dauer ist ein Eindringen des Räumlichen ins reine Bewusstsein. Dauer ist ein In sich selber Zurückgehen bzw. Sinken in die Tiefe. Bergson selbst spricht von durée colorée . Die Dauer ist feminin und bunt, die Zeit männlich und schwarz weiß. Zudem findet nur in der Dauer Synthese statt aus beiden Erinnerungsformen inm Gedächtnis, der spontan intuitiven wie der analytisch rekonstruierenden und gewollten. Dauer konstituiert unser Gedächtnis, insofern es sich erinnert. Sammlung (Wiedererinnerung) und Selektion färbt gefärbte die verarbeiteten Eindrücke, Daher bildet das Gedächtnis nicht die Phänomene selbst ab, sondern die permanente Reflexion und Projektion der Datenverarbeitung. Jedes Bild, das scheinbar Wirklichkeit rekonstituiert, ist ein Nachbild. Dauer „realisiert Erinnerungen“.
Dauer synthetisiert Fort- und Zurückschreiten im Gedächtnis. Fortschreiten entsteht durch „Aneinanderreihen von Bewußtseinszuständen“. Es entsteht ein Oberflächen-Ich, das Bilder wahrnimmt und ein Tiefen-Ich, das sie ergänzt, emotional begleitet, kommentiert, bewertet. Nur durch die Dauer leben wir und unterscheiden uns von Tieren oder Maschinen, die sich lediglich Zeitrhythmen merken . „Fortschritt der persönlichen Bewußtseinszustände“ nennt Bergson die Wechselbeziehung aus intuitivem Tiefen – Ich(auch „fundamentales Ich“ oder „inneres Ich“ oder „persönliches Ich“ genannt ) und analysierendem Oberflächen-Ich (Schatten- Ich, reproduzierendes Ich, mit Verbindung zur physischen Objektwelt).
Progression und Regression arbeiten folglich zusammen: sie synthetisieren. Jede Wiederholung ist folglich zugleich eine Premiere, eine Neuschöpfung.

Foto Belinda Helmert: Violine meets Bügeleisen, Lampendesign Mike Dräger, Schaufensterflohmarkt bei Nacht.
Erinnerungsbilder
Aus allem folgt die Deutungshypothese: Wahrnehmung ist niemals nur Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand ist, da mit dem Phänomen zugleich eine Assoziation einhergeht. Reine Wahrnehmung erscheint bei Bergson als eine Position des Idealismus, die Vorstellung von Wahrnehmung trennt. Er dagegen postuliert, dass in jedem Gedächtnis-Bild ein Erinnerungs-Abbild eingelagert ist, bzw. unsere Wahrnehmung bleibt „immer mit Erinnerungsbildern durchsetzt“. Für Bergson besteht der Konflikt von Subjekt und Objekt in der Polarisierung von „reinem Gedächtnis“ (Zeit) und „reiner Wahrnehmung“ (Raum)
Anders formuliert: Reine Wahrnehmung besteht nur im Raum, dem ursprünglichen Wesen der Materie. Reines Gedächtnis besteht nur in der Zeit. Dauer vermittelt zwischen Zeit (Gedächtnis) und Raum (Materie). Bergson bezeichnet diese Geistestätigkeit als indeterminiert, Interpendenz oder Werkzeug der Tätigkeit. Dauer ermöglicht, Empfindungen nicht bloß passiv, sondern aktive und gestalterische zu erleben.
Äußere Wahrnehmung besteht darin, einzelne Anschauungen aufzureihen (dadurch erhalten sie eine Dauer), innerer Wahrnehmung. Erinnerungsbilder sind so etwas wie Musik, die im Grunde aus Tönen besteht, aber nie nur als Tonfolge wahrgenommen wird.
„So flüchtig wir unsere reine Wahrnehmung auch ansetzen, sie nimmt doch eine gewisse konkrete Dauer ein, so daß unsere aufeinander folgenden momentanen Wahrnehmungen niemals wirkliche Momente der Dinge, sondern immer Momente unseres Bewußtseins sind.“

Foto Belinda Helmert: Nofretete, Lampendesing Maik Träger, Schaufensterflohmarkt.
Ewige Wiederkehr des Neuen
Zukunft und Vergangenheit sind uns nur über Gegenwart mittelbar zugänglich. Die drei Zeiten werden von Empfindung über Vorstellung und Handlung in der unmittelbaren Gegenwart verknüpft. In einem internen fließenden Übergang (Transgression) partizipiert das Erinnerungsbild an ider Gegenwart (Präsens) und materialisiert sie zu einer Vorstellung (Präsenz). Damit wird ein begleitendes, ja überlagerndes Bild im Vorgriff antizipiert oder .im Rückgriff rekonstruiert, wobei die Rekonstruktion bereits eine Veränderung inkludiert. Die Vergangenheit ist daher ebenso wie die Zukunft eine Handlung, eine gemachte, konstruierte Zeit, nicht die tatsächliche in ihrem Verlauf.
Wie die Zeit immer wieder neu im Inneren entsteht, gilt auch für das Äußere: Das Universum ist nicht ein fertig Entstandenes, sondern ein ohne Unterlass Entstehendes. Ebenso geht daraus hervor, dass es ausschließlich Dynamik gibt. Es existieren keine starren Dinge, sondern allein werdende Dinge, keine Zustände, die bleiben, sondern nur Zustände, die sich verändern.
Die innere Erfahrung wird nirgends eine genau angepasste Sprache finden. Es gibt keinen Seelenzustand, er möge noch so einfach sein, der sich nicht jeden Augenblick verändert, weil es kein Bewusstsein ohne Gedächtnis gibt, keine Fortsetzung eines Zustandes in der Zeit, ohne dass zu dem gegenwärtigen Gefühl die Erneuerung der vergangenen Momente hinzukommt.

Foto Bernd Oei: Liebenauer Wehr an der Aue, ehm. Mühle gegenüber Schaufensterflohmarkt, Lange Str. 29
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