Das Tier in uns: De Sades Appell zum selbstbestimmten Leben

Foto: Gasse in Lacoste, Dorf und Geburtsort des Marquis de Sade

Die Kunst des Widerstands

Über de Sade kursieren wilde Gerüchte. Die meisten davon sind Halbwahrheiten. Unser Wissen besteht zum großen Teil aus solchen vagen Vorstellungen von dem, was wirklich ist. Der Marquis lebte in der zerklüfteten Bergwelt des Luberon im Südosten Frankreichs unweit der ehemaligen Stadt der Päpste Avignon. Er lebte in wilden Zeiten, die sich in der Französischen Revolution und ihren grausamen Folgen entluden. Er lebte vorwiegend auf Lacoste.

Lacoste (https://www.provence-tourismus.de/kulturerbe/luberon/chateau-de-lacoste/provence-862459-1.html) ist ein architektonisches Symbol für den Widerstand, für die Fronde, den Adel, der sich der absoluten Monarchie nicht beugen wollte. Auch Maurice Blanchot, ein versierter Literaturkenner, spricht über de Sade vom freiesten Geist, einem libertin und einem Werk, das einen mündigen, einen aufgeklärten Leser fordert. Skandal und Provokation sind hier Kalkül. Die Protagonisstinnen, die tugendhafte Justine und die lasterhafte Juliette erscheinen dem unvoreingenommenen Leser als archetypische Elemente unseres Selbst. Priorität hat das Individuum als Souverän.

De Sade führt, wenn er verführteil sich der Geist nur als verlängertes Geschlechtsteil bei ihm erweist. Heute bestätigen Neurowissenschaftler, dass unser Gehirn das größte und mächtigste Sexualorgan ist. und seine Gefangenschaft in der Bastille, zuletzt in der Irrenanstalt Charenton wirkt wie eine Vereinnamung unseres Körpers, eine Verstümmelung des eigenen Geistes. Zweifellos verkörpert der überzeugte Anarchist eine Form der Zensur durch den Überwachungsstaat. Deshalb widmen ihn Camus, Sartre, Bataille und Foucault Abschnitte, Kapitel, lange Passagen in ihren Büchern, wenn sie über die Idee der Freiheit schreiben. Aus der Kunst der Résistance ist de Sade nicht wegzudenken oder gar zu leugnen.

Die Kunst des Lebens

Alphonse, der Marquis de Sade war gewiss kein Kostverächter. Er lehrt uns die Kunst des amor fati, des bedingungslosen Ja und den Pathos des Genusses. Er war ein Ästhet aus Überzeugung, ein Feind der pervertierten Scheinmoral, der repressiven Unterdrückung und Kontrolle von Geist und Körper, die einen mündigen Bürger charakterisieren. Er war daher politisch in all seinen Schriften, zwischen den Zeilen. Nicht im Genuss selbst besteht das Glück, ebensowenig wie in der Tugend, wo Kant es vermutet. Genusssteigernd ist, auf Leidenschaft zeitweilig zu verzichten, nicht sie zu amputieren. Lebenskunst besteht im Entgrenzen, im Zerbrechen der Schranken, die unser natürliches Verlangen stigmatisieren. Ohne das Wagnis des Neins zum Verbot bestünde keine Entwicklung. De Sade war ein Feind des überzüchteten Verstandesmenschen, der Rationalität. Er sah die Grenzen und die Folgen einer solchen Reglementierung. Er sah die Spaltung der Gesellschaft in Gut- und in Wutbürger, in Angepasste und in Freidenker, voraus.

Eine Spaltung, welche er erlebte innerhalb der Revolutionäre, die sich gegenseitig masakrierten. Vordem in einer dekadenten Regierung despotischer Gewaltanwendung und Willkür, dem Ancien Régime. Er sah die Auswüchse von Gewalt- und Machtfantasien und führte sie auf unmündige, durch die Zivilisation verdorbene Bürger zurück. Das Instrument der Vernunft und der moralischen Züchtigung hatte versagt. Weder Askese noch srakonische Strafen gegen underwünschtes Verhalten zeitigte Erfolg. Fast zeitgleich forderte Schiller den Spieltrieb als ausgleichendes Momentum zwischen Bildungs- und leiblichen Triebleben, die um die Vorherrschaft im Leben ringen.

De Sade erhielt bald Schreibverbot. Er war den Mächtigen suspekt und eine drohende Gefahr gleich einer Fackel, denn der Kern seiner Botschaft lautete: lebe dein Leben, so gut du es vermagst. Kümmere dich nicht so sehr darum, was andere denken. Wage deinen eigenen Entwurf. Riskiere, brenne, werde du selbst. „Soziale Ordnung gegen den Preis der Gerechtigkeit und um den Lohn der Lust ist das wahre Verbrechen.“

Die Lauen und die Feiglinge waren seine Sache nicht. Blutleere Zombies, Mitläufer und Bücklinge verachtete er. Anarchismus und Atheismus waren seine Überzeugungen im Kampf um Freizügigkeit und Toleranz. De Sade war ein Querdenker der ersten Stunde. Er wusste, was Triebsublimierung bedeutet, als er schrieb, dass kein Verbrechen an Leidenschaft so viel Unglück hervorrufen kann wie der staatliche oder klerikale Terror. Das Gewaltmonopol über das Leben sollte immer dem Individuum vorbehalten bleiben. Krieg ist die Folge irregeleiteteten, pervertierter Lebenslust, er gleicht einem kollektiven Suizid. Wie viele Menschen im Namen einer Ideologie oder Moral töten, in der Überzeugung, Gutes zu tun und Leben zu schützen, darin liegt die wahre Tyrannei der Vernunft.

Die Kunst des Liebens

Vordergründig herrscht in de Sades Geschichten nur Gewalt vor. Es stimmt, dass der Autor Materialist und kein Romantiker war. Er glaubte nicht an die selbstlose Liebe und schenkte der platonischen keine Beachtung. In seinen Schriften trennt er das Fleisch nicht vom geistig-seelischen Verlangen. Darum begegnete er Trieben und Neigungen vorurteilslos. In der Sexualität und im Liebesleben erblickte er ein Abbild des natürlichen Verlangens nach Befehl und Gehrosam, der Lust an der Untwerwerfung und der Knechtung, wie sie überall in der Natur vorherrscht.

Wenn die Leidenschaft verboten oder unterdrückt wird, so de Sades Credo, leitet sie sich um. Lange vor Freud erkannte er die Macht des Unbewussten (siehe Foucault, Die Wahrheit der Sexualität) und die politische Instrumentalisierung der Kirche, um über Schuld und Scham den Menschen zu manipulieren. Wer seine Sexualität verdrängt, erzeugt Monster an Perversionen. Zahlreiche asexuelle Diktatoren belegen seine Theorie. Man muss folglich in den eigenen Keller hinabsteigen, um seinen wilden Tieren zu begegnen, sonst gewinnt der Wolf, den man ungewollt füttert.

Die wilden Sechziger, die Aufklärung über die Freiheit des Körpers und dem Recht auf Lust, mag sie nun in Promiskuität enden oder nicht, gehört heute zu den Grundrechten. Jeder Mensch hat ein Recht auf seinen Körper und damit auch seine Form des Hedonismus. Dieses Recht musste sich erktrotz werden gegen Widerstände des Staates und der Kirche. Die Stigmatisierung von Randgruppen wird bis heute über die Selbstschuld an Erkrankungen aufrecht erhalten. Oft erweisen sich die gut gemeinten Hygiene- und Gesundheitsratschläge als Drohkulisse und mythische Instanz der Iunterdrückung. Die Inquisition hat, schreibt und bestimmt die Geschichte aus Sicht der Sieger. Im Namen der Liebe wurden und werden die schrecklichsten Verbrechen begangen.

Die Orgie ist wie der Rausch ein uralter Begleiter, ein natürliches Aphrodisiakum des Menschen, der laut de Sade vornehmlich ein Tier ist. Ein Tier, das auch aus Lust und nicht aus Berechnung oder Fortpflanzung miteinander verkehrt. Ebenso natürlich sind der Rückzug, der Wille zur Initimität, sich abzugrenzen auf der einen und sich im Anderen und am Anderen zu verlieren, zu entäußern, auf der anderen Seite. Masochistische und sadistische Tendenzen wurzeln in unseren „Genen“, erst durch die Zucht des Kopfes werden sie zu übergroßen Schattenbildern, die Psychosen und Neurosen hervorrufen. Die Kunst des Liebens beruht auf die Fähigkeit und Bereitschaft zur Freiheit. „Toleranz ist die Tugend der Schwachen“. Daher regieren die Wölfe über die Lämmer.

Die Kunst des Genießens

Pointiert: Unser Umgang mit dem eigenen Körper, dem unmittelbaren Selbst, widerspiegelt den Reifegrad, Gesundheit und Krankheit einer Zivilisation. Die Naturvölker bvsitzen eine andere Moral als die unsrige, daher ist sie etwas Dazugekommenes, Erfundenes, ein Instrument, um zu herrschen und beherrscht zu werden. Moral kann dazu dienen, den eigenen illen zu negieren und zu kontrollieren. Sie fordert die Scheinheiligkeit, eine Maske. Sie liefert Alibis und Selbstverleugnung. Man muss diese Argumente gewiss nicht verabsolutieren, doch zur Kenntnis nehmen und einordnen in ein größeres Ganzes. Viele Verbrechen resultieren aus Triebverlagerung oder Triebunterdrückung. Der Umkehrschluss de Sades lautet nicht, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Wenn er in seinem paradoxalen Aphorismus dazu rät. „Sei verbrecherisch in der Tugend und tugendhaft im Verbrechen“ , so rät er zu einem eigenen Weg, einer sinnhaften und zugleich sinnlichen Authentizität. De Sade appelliert an Vitalität, die Anatomie des Leibes als der großen Vernunft. Er ist ein Feind des Kerkermeisters, sei es die Moral, sei es der ideologische Fundamentalismus, der Intoleranz als Grundmaxime des Lebens.

Der Kern seiner Philosophie besteht nicht darin, zuzustimmen oder abzulehnen, sondern der Überzeugung, das der Mensch sich selbst erzeugt. Sein Elend und sein Glück inklusive. De Sade ist Materialist in dem Sinne, dass er von der Empirie, den beobachtbaren Tatsachen wie Neigungen ausgeht und aus der Körperlichkeit, dem organischen System auf den Geist schlussfolgert, darin ein vorläufer Schopenhauers und dem Willen der Natur als Ding an sich. „Dein Körper ist der Tempel der Natur„. De Sade verortet die Natur jenseits von Gut und Böse und erkennt, dass die guten Menschen nie die Gutmenschen sind, die Wasser predigen und Wein trinken und deren Lust in der Geißelung der Lust anderer durch exzessives Verbot liegt.

Das Glück des Menschen liegt in seiner Fantasie, seiner Vorstellungskraft„. Der Satz hätte von Kant oder Schiller stammen können, doch er ist der Feder de Sades entsprungen. Zuletzt, so wörtlich in „Die Philosophie im Boudoir“, in der sich die Hypokrisie spiegelt, bezeichnet de Sade esl als die Hauptaufgabe der Philosophie, das Schicksal selbst zu bestimmen und nicht es einfach nur zu erdulden. Er spricht sich gegen die bizarren Launen der Willkür aus, gegen die Schwarzweißmalerei, die Polarität der abergläubischen Ehrfurcht vor unsinnigen Gebräuchen, die auf Gewohnheiten beruhen. Moral als Folge kultureller Traiditonen zu begreifen, das hat schon etwas von Nietzsche. Es gilt die Sonne anzugreifen (in Anlehnung an das Bonmot des Sonnenkönigs Ludwig XIV. L´Etat, c´est moi) und dem Meer aus Widersprüchen zu begegnen.

https://www.youtube.com/watch?v=jxql-6_qGf8

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