kann das schwankende Rohr wohl dem Sturmwinde widerstehen?

Foto Bernd Oei: Hameln, stillgelegtes Gleis samt Prellbock an der uferpromeande unter der Weserbrücke. Der gebürtige Hamelner Autor Karl Philipp Moritz kannte die Eisenbahn noch nicht – der greise Goethe erlebte ihre erste Schienenverlegung.

Der Unbekannte

An der Neuen Marktstraße wohnte der bedeutendste Sohn der Stadt: Karl Philipp Moritz (1756-93. )In einem Atemzug muss man von einem fast vergessenen Sohn der Stadt sprechen. eine Plakette sucht man vergebens. Von Anwohnern ist auch nicht das Geringste zu erfahren, die meisten haben nie vom Autoren des Anti-Bildungsromans „Anton Reiser“ gehört. terra incognita, wenn man so will.

Es gibt in Hameln den Moritzweg. Dieser geht vom Hammelstein ab und mündet bei der Niels-Stensen Schule in den Adalbert Stifter Weg. Er wurde 1959 nach Karl Philipp Moritz benannt. Freundschaften pflegte der jung an TBC verschiedene, Schriftsteller zu Goethe, der in ihm stets „einen jüngeren Bruder“ sah: die beiden, der eine weltberühmt, der andere nicht mal in der Stadt seiner Eltern bekannt, lernten sich in der ewigen Stadt kennen. Der „Anton Reiser“ soll Goethe derart beeindruckt haben, dass er seinen wesentlich bekannteren „Wilhelm Meister“ überarbeitete, um nicht dagegen abzufallen. Die beiden Schriftsteller verband zudem die Zugehörigkeit zur Freimaurerloge.

Rom war im 18. Jahrhundert das Maß aller Dinge für die Bildung des Geistes und den guten Geschmack. U. a. war er der (Englisch) Lehrer des Herzogs von Weimar; unter dessen Mäzenat erhielt er eine Professur in Berlin (wo Moritz verstarb). Summa summarum ist Moritz der Aufklärung zuzurechnen. Dabei war er mehr Pionier der Erfahrungsseelenkunde und Vertreter der auf Empirie beruhenden Psychologie als ein Mitstreiter der Weinmarer Klassik. U.a. war der Horfrat ein Vorbild für Peter Handke. Ein Fall der wiederkehrenden Wiederentdeckung, so das Fazit einer https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=hjsvai-gFjY

Foto Bernd Oei: Hameln, Weserbrücke, 1945 von den Amerikanern gesprengt https://de.wikipedia.org/wiki/Weserbr%C3%BCcke_(Hameln)

Seelennot

Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Handlungsspielraum des Individuums in einer von Zwängen geprägten Gesellschaft. Das obige Titel-Zitat stammt a dem Drama „Blunt oder der Gast“ (publiziert in der renommierten Göttinger „Litteratur- und Theater-Zeitung“ ). Moritz paraphrasiert das Schilfrohr-Gleichnis von Blaise Pascal. Der Erstveröffentlichung 1780 folgte eine zweite Version im Jahr darauf: als Lesedrama war es Zeitgenossen wohl bekannt, Aufführung erreichte es jedoch erstmals 1996. Moritz blickt in den Abgrund der Seele, wozu ein Mensch, der leidet und verbittert, ist fähig sein kann. Er beleuchtet das Schicksal eines an sich guten Mannes, der aus Armut und Über den Verlust seines einzigen Sohnes so verbittert ist, dass er zu töten bereit ist. Ungewöhnlich sind drei Elemente: der Bezug auf den Mittelstand (bürgerliches Trauerspiel à la Lessing), die inneren Monologe mit starker Anlehnung an die Bibel ohne Pathos und der Verweis auf die Vorlage des englischen Dramatikers George Lillo und dessen Stück Fatal Curiosity 1731. Es handelt um ein durch widrigste Umstände in Not geratenes Ehepaar, das unwissend ihren totgeglaubten Sohn aus Habgier tötet. Selbiges Thema greift auch Camus in „Das Missverständnis“ auf mit der Variante, dass Mutter und Tochter die treibenden Kräfte sind und ein Ehemann fehlt. Hintergrund ist nun nicht mehr der Abfall von Glaube und Rechtmäßigkeit, sondern die Verrohung des Menschen durch Armut, Perspektivlosigkeit und erlebte Gewalt. Gnade und Strafe.

Blunts Gattin spricht ihrem Mann mehrfach erfolglos ins Gewissen. Moritz greift das religiöse Motiv aus Schuld und Sühne bzw. Groll und Reue auf. Er bietet zudem zwei Varianten des Ausgangs an und lenkt die Aufmerksamkeit so auf die Frage, an welcher Stelle die innere Haltung noch aufgebrochen werden kann, um ein Abgleiten in Hass mit finalem Mord zu verhindern. Das biblische Szenario des verlorenen Sohns und seiner unentdeckten Identität, der Vorahnung bzw. der Versuchung durch Traum und Vision, schafft den psychologischen Rahmen für das Seelendrama. Moritz lässt uns, hier an Kleist erinnernd, in den Abgrund blicken. Einsichtig bekennt der Mörder seines Sohnes (Variante 1) Beinahe-Mörder (Variante 2), aus Stolz und Verzweiflung Gott herausgefordert zu haben. https://www.projekt-gutenberg.org/moritz/blunt/blunt.html

Eine Rezension über die Aufführung in Dortmund mit dem Titel „die gespenstische Kehrseite des Bürger“ liefert Bernd Berke https://www.revierpassagen.de/88589/die-gespenstische-kehrseite-des-buergers-buehnen-raritaet-blunt-oder-der-gast-von-karl-philipp-moritz/19990311_2059. Eine Variante, wie das Stück mit dauerhafter Präsenz des Gespenstes gespielt werden kann, dokumentiert die Chemiker-Theaterguppe aus Düsseldorf.

Zorn, Tränen, Klagen

Zweiundzwanzigjährig verfasste Moritz ein Werk, das heute noch, zumindest in Fachkreisen, hoch geschätzt wird: „Anton Reiser“. Ein Problem für die geringe Breitenwirkung dürfte die darin inkludierte, heute so gehypte, Interdisziplinarität sein. https://www.deutschlandfunk.de/karl-philipp-moritz-heute-100.html. Leitmotiv: Intellektuelle Bildung mit Herzensbildung zu synthestisieren. Eliten sollten auch ethische Vorbilder sein. Angesichts der heutigen Führungskräfte in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, die in der Regel nicht von Geburt an elitär sind, muss man sagen: keine Besserung in Sicht. Geschmack am Denken finden, so lautete eine seiner Maxime.

Bildungsreformer scheitern regelmäßig, v.a. in ihrer Gegenwart. Die meisten von ihnen (früher positiv Querdenker genannt) werden erst posthum in ihrer Größe und Weitsicht gewertschätzt und geadelt. Moritz spürte Chancen und Risiken der Großstadt hinsichtlich der sozialen als auch psychologischen Aspekte. Der klassische Satz: man wird Psychologe, um seine eigenen Traumata auzuarbeiten, trifft zu: Moritz hatte während seiner Hutmacherlehre in Hameln einen Selbstmordversuch verübt. Er kannte „mobbing“ aus eigener, leidvoller Erfahrung, die mit dem Elternhaus begann und durch eine herzlose, teilweise sadistische Mitwelt (der Hutmacher in Braunschweig) vertieft wurde. Todessehnsucht nach innen, nach außen. Manische Schübe, ausgelöst durch die Begeisterung für die Schauspielerei.

„Anton Reiser“ entstand in vier Bänden zwischen 1785 und 1790. Der titelgebende Protagonist widerspiegelt die beruflichen Erfahrungen des Quereinsteigers: Hutmacherlehrling, Schauspieler, Hofmeister, Lehrer, Redakteur, Schriftsteller, Spätaufklärer, Philosoph und Kunsttheoretiker (Ästhetiker). Vor allem war sein Schöpfer in allem bibilophiler Autodidakt. Sein Roman impliziert die Gefahr der Weltflucht durch einseitiges Lesen und die damit verbundene Verzerrung der Realität. Das erste Buch handelt von der trostlosen Kindheit Reisers, dem literarischen Ego von Moritz. http://www.zeno.org/Literatur/M/Moritz,+Karl+Philipp/Romane/Anton+Reiser/Erster+Teil

Bekannt machte den fast vergessenen Moritz der populäre Sänger „Rico Reiser“ (Macht kaputt, was euch kaputt macht), der sein Pseudonym dem Anti-Romanhelden entlehnte. Depressive Düsternis – „Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte“ – bemächtigt sich der Psyche, bedingt durch eine traumatisierte Kindheit, der Zerstörung des Selbstwertgefühls durch religiösen Fanatismus. Analogien zu Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ bestehen. Die Zeit atomisiert. Der Mensch zerfällt. Eine Zusammenfassung des Inhalts samt Deutung liefert https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/anton-reiser/7205

Foto Bernd Oei: Fuß/’Radgängerbrücke, Hameln, auch Rattenbrücke genannt, führt bei Kilometer 135 über die Werder in die Altstadt. Ca. 2,5 m beträgt der mittlere gewöhnliche Wasserstand. Die Tide der Oberweser hat hier etwa 1,30 m erreicht.

Das fremd gewordene Ich

Gefahr einer idealischen Welt, welche die reale verdrängt und nach anfänglicher Erleichterung mehr verstört. Hutmacherei wird zur Chiffre (gut behütet, unter dem Hut gebracht, den Hut nehmen, klein Hut, auf der Hut sein). Verkleidung, Maskierung, Masochismus als Revolte? Dies zumindest ist die Meinung der Macher des WDR Beitrags

Zu hören ist der psychologische Roman, der seinen Ausgang in Pyrmont unweit Hamelns nimmt, u.a. auf https://www.ndr.de/kultur/sendungen/am_abend_vorgelesen/Peter-Lieck-liest-Anton-Reiser-von-Karl-Philipp-Moritz,moritz202.html bzw. in einem Zug https://www.youtube.com/watch?v=tmQmfG_zo6Y. Im zweiten Buch wird Reiser Opfer eines tyrannischen Hutmachers, in dessen Obhut ihn der halsstarrige Vater gibt, weil er partout nicht will, dass sein begabter Sohn studiert. Auch in Hannover findet der junge Mann keinen Lebensmut. Das Ende des zweiten Buches ist bered: „Sein Lebensüberdruß aber wurde dabei aufs äußerste getrieben oft stand er bei diesen Spaziergängen am Ufer der Leine, lehnte sich in die reißende Flut hinüber, indes die wunderbare Begier zu atmen mit der Verzweiflung kämpfte und mit schrecklicher Gewalt seinen überhängenden Körper wieder zurückbog.“

Foto Bernd Oei: Stautstufe Hameln, einbziges Wehr der Oberweser, seit 1733 und damit zu Moritz´ Zeiten die alte Schleuse samt Pfortmühle in Betrieb.

Krankheit zum Tod

Kierkegaard bezeichnet die romantische, mit Selbstverlorenheit und Weltschmerz einghergehende Melancholie, als Krankheit zum Tod. Allerdings unterscheidet er (ethischen) Zweifel von (ästhetischer) Verzweiflung. „Die Verzweiflung geht die ganze Persönlichkeit an, der Zweifel nur den Gedanken.“ (Entwede-Oder, Teil II, Kapitel Das Gleichgewicht des Ästhetischen und Ethischen in der Entwickelung der Persönlichkeit).

Zweifel (zu dem Talent, also Esprit gehört) ist positiv, er macht den Reflexionsgrad aus und führt von einem orthodoxen zu einem wahren, tief empfundenen und geprüften Glauben. von diesem sind viele von Moritz´ Zeitgenossen, die Pietisten (überzogene Frömmigkeit) und Quietisten (überzogene Selbstabtötung aller Gefühle) entfernt. Bei Kierkegaard, gleichzeitig Kritiker und Fürsprecher der Religion, ist jede ästhetische Lebensanschauung Verzweiflung. Diese gehört als erstes Stadium jedoch unbedingt zur Menschwerdung. Die ästhetische befindet sich im Wechsel mit der ethischen Anschauung (dem zweiten, höherem Stadium,), die den Zweifel an Gut und Böse säht. Dieser Zweifel ist notwendig, kann und muss überwunden werden im religiösen Sprung, der Hinwendung zur absoluten Bejahung. Darin besteht die Selbstfindung und die existentielle Wahl aus, zu der es bei Anton Reiser nicht kommt. Verzweiflung führt zur Todessehnsucht, der Krankheit zum Tode. Diese ist paradoxerweise wertvoll, aber nicht als Selbstzweck, wenn sie sich dauerhaft manifestiert.

Foto Bernd Oei: Werder bei Hameln, Teilung der Weser (insgesamt 440 km lang) in zwei Flussarme. Auf der Werder befindet sich ein Biergarten.

Selbstgemachte Wahrheit

Gegen Ende des dritten Teiles heißt es „Es war ihm, als ob das Grab noch einmal hinter ihm seinen Schlund eröffnete.“ Neben der physischen Todessymbolik bezieht sich Moritz immer wieder auf die Metamorphose, das geistige Aufblühen und Absterben, die geistigen Stufen des „zu Ende kommen“ wollens, die mit dem religiösen Bild der Vollkommenheit einhergeht. Alles bleibt Stückwerk, ein Herumirren im Selbstgemachten, wie Moritz es heißt.

Zu jedem Buch schreibt der Autor eine Vorrede zur Klärung seiner pädagogischen Absicht, die Gründe scheinbar unerklärlicher Seelenstimmungen aufzudecken. Dabei wird das Problem der Moderne, das Aufgehen des Einzelnen in der Masse und die Zerstörung von Sinn bzw. Zusammenhang durch Zersplitterung in Elementarteilchen offensichtlich. Ebenso wird das Thema Schein und Sein der Bühne evident durch die Verwerfung aller bürgerlichen Aufstiegsmöglichkeiten für eine künstlerische Illusion: zweimal wird die Schauspieltruppe aufgelöst, weil sie durch Gewinnstreben des Direktors hintergangen wird. Noch häufiger erhält Reiser Chancen, die ungenutzt bleiben: vor allem scheitern sie am Lebensmut und der geglückten Balance zwischen Realismus und Idealismus des Protagonisten. Reisers Selbsttäuschung führt zu Lebensüberdruss, dieser zur Weltflucht, seinem Übermaß an Fantasie oder Übermut, der abermals im Fiasko enden muss. „Diese Art aber, sich in die Vorstellungen anderer Menschen hineinzudenken und sich selbst darüber zu vergessen, klebte ihm von Kindheit an.“ (Buch IV).

Foto: Hameln, Weser- und ehm. Eisenbahnbrückei (1887-1989), 370 m lang, 6 m hoch, im Hintergrund und „Flotte Lotte“ an der Uferpromenade https://www.flotte-weser.de/feste-feiern/schiff-hameln.html

Richtet sich der Hass über ein nicht verschuldetes Schicksal bei Blunt noch gegen Gott und die Welt, so wirkt er bei Reiser autodesktruktiv im Inneren. Seine Auflehnung bleibt passiv, seine Weltverneinung ohne Trotz. Der Schlüsselbegriff lautet Verachtung. Weder Blunt noch Reiser achten das Leben als solches, als Geschenk oder als unvorhersehbare Wendung zum Guten: sie versteifen sich auf die eigene Isolation von der Außenwelt.

Da der Roman einem Labyrinth der Seele und unabgeschlossen mit Reisers Existenz bleibt, geradezu abrupt endet – der Tod vereitelte eine (geplante) Fortsetzung – ist ungewolltes Fragment. Der Autor wechselt häufig den Schauplatz (Pyrmont, Braunschweig, Hannover, Gotha, Erfurt Leipzig) und nimmt Anleihen an Young, Shakespeare und Rousseau, aber auch Goethes Werther. Daher ist er zwischen Sturm und Drang, Romantik und Klassik angesiedelt, ein Vorreiter des Realismus aufgrund der Tiefenschärfe, was die Erforschung des Unbewussten anbelangt.

Foto Bernd Oei: Bugspitze der Pluto, ehmaliges Minensuchboot (meine Marinezeit verbrachte ich auf Tender Werra, gleichfalls ein Minensuchboot) https://www.marinekameradschaft-hameln.de/index.php/Pluto.html

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