Wenn Träume reisen ….

Foto: Bernd Oei, Eingang oder Untergang zu einem Restaurant in der Medina von Marrakesch.

Das trunkene Schiff

Mit dem Aufbruch des um die Jahrhundertwende geborenen Eugène Delacroix (dessen wichtigster malerischer Konkurrent ausgerechnet Victor Hugo war) begann die französische Romantik. Sie ist damit, zu einem nicht unwesentlichen Teil, vom Maghreb beeinflusst. Der Orientalismus mit seinem Rausch der Farben war geboren. Er glich, um die berühmte Metapher Rimbauds zu gebrauchen, einem trunkenen Schiff.

Als Schlüssel für die zunehmende Orient – Sehnsucht wirken vor allem Delacroix´ Gemälde, namentlich „Der Tod des Sardanapal“ (1827), das jedoch noch vor seiner Marokkokreise entsteht. Nach der siebenmonatigen Reise 1832, in denen Delcaroix Skizzen anlegt, prägen u. a. „Die Frauen von Algier“ (1834, zweite Version 1849) und „Die Fanatischen von Tanger“ (1838) eine neue Rezeptionsästhetik in Frankreich. Dem Maler gelang es als ersten, den unverfälschten Orient einzufangen, sowohl atmosphärisch als auch in seiner Leidenschaft für das Detail. Seine Bilder grenzen an dreidimensionale Farbfotografien. Sein Portrait der Königsstadt Meknès (https://fr.wikipedia.org/wiki/Voyage_en_Afrique_du_Nord_d%27Eug%C3%A8ne_Delacroix) verändert den Meister selbst: er kehrt als Farbvirtuose zurück von seiner Reise. (https://www.youtube.com/watch?v=rvi6Fhw3xno). Er erlebt die Kolonialisierung des Maghrebs.

Foto Bernd Oei: Marrakesch, Pferdedroschkenkolonne nahe dem Gauklermarkt Djemaa el Fna und dem heutigen kleinen Park, der an die Stelle des einstigen Friedhofs trat, was den Namen „Platz „Versammlung der Toten“ erklärt. Auf dem Gauklermarkt fanden einst die Hinrichtungen statt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Djemaa_el_Fna), heute bildet er einen umstrittenen Publikumsmagnet und allnächtliches Spektakel.

Blick durchs Schlüsselloch ins Paradies

Während der Dichter Chalres Baudelaire ein Leben lang nur bei einer Houka vom Orient träumte, folgte eine Generation von Künstlern den Spuren des Malers. So bildet die Reise mit seinem Freund Maxime Du Camp (dem zeitlebens bekannteren Autor) 1849 die Grundlage für Gustave Flauberts Wandel vom Romantiker zum kritischen Naturalisten, der jedes Detail für das Auge festzuhalten versteht und Bücher wie Gemälde angeht. Er suchte den Blick durch das Schlüsselloch ins Paradies, das sich im Inneren der von außen oft unscheinbaren Häuser verbarg.

Foto Bernd Oei Gang durch das unscheinbare Gassenlabyrinth der Medina von Marrakesch. Hinter den Häusern (riad) liegen grundsätzlich Innenhöfe (https://de.wikipedia.org/wiki/Marokkanischer_Riad). Die Stadt zählt heute annähernd eine Million Einwohner, vergleichbar Köln bei etwasmehr als der Hälfte der Fläche. Der Name Marrakesch bedeutet die „rote Stadt“, was auf den Boden Ocker zurückzuführen ist.

Flauberts Ambitionen sind zudem erotischer Natur: fasziniert von den Tänzen der Haremsfrauen und feurigen Pferde, begibt er sich auf die Suche der legendären Kuchuk Hanem. Dabei hatte er immer Delcacroix´ Bilder in Kopf (https://kulturshaker.de/orientalismus-das-morgenland-als-projektion/) Es gilt als das Symbol für den Bruch mit dem von Rationalismus geprägten Klassizismus. Nicht nur die Idee zum Roman „Salambô“ kommt Flaubert in Nordafrika, sondern auch das in der Wüste spielende Lesedrama „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ und die schonungslos offenen „Briefe aus dem Orient“ (https://www.projekt-gutenberg.org/flaubert/orient/chap001.html)

Sie heben sich von Victor Hugos Balladen „Die Orientalier“ zweifach ab: zum einen bereiste Hugo zu dieser Zeit nicht den Maghreb, sondern Griechenland und bezieht sich in seinen Gedichten auf deren Freiheitskampf, zum anderen wählt er lediglich die Landschaft als Kolorit und Farbtupfer, setzt sich aber nicht mit dem Land selbst auseinander. Beispiel liefert das bekannteste Poem aus dem Zyklus, Les Djinns: „Stadt, Hafen und Meer / Sie schlafen. Fernher Der Wellen / Zerschellen und Schwellen / Nichts mehr. Horch! / Im Düster Lärm erwacht / Wie Geflüster / Klingt’s in der Nacht.“ (https://pdf.live/edit?url=https%3A%2F%2Fedoc.ku.de%2Fid%2Feprint%2F3927%2F1%2FdunkleLichtderPhantasie.pdf&source=f&installDate=031223)

Foto Bernd Oei: Blick auf Marrakesch, rechts das nach dem Erdbeben restaurierte und gestützte Minarett der Koutoubia-Moschee, Wahrzeichen des Landes. Im Hintergrund das Atlasgebirge. Marrakesch liegt an seinen Ausläufern etwa 450 m hoch, etwa ein Zehntel der höchsten Erhebung des Atlas, der sich durch die drei Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Marokko zieht.

Wüste als Nährboden der Religion

Zweifellos steht Flaubert unter dem Eindruck der goldenen Meere, wie er die Wüsten heißt: der Wellen aus Wanderdünen, der verführerischen Düfte, flimmernden Farben und glänzender Kleidung, die es im Okzident nicht gibt. Er, der Normanne, bereist die vier Königsstädte Marokkos Fès, Marrakesch und Rabat und Meknès; irgendwo begegnet er seinen Figuren von „Salambô“, dem historischen Roman über einen Sölderaufstand in Karthago (Tunesien).

Zeitlich näher als „Salambô“ liegt die Gedichtsammlung „Le Désert, ou l’Immatérialité de Dieu“ (1856), in der Aphonse de Lamartine (neben Hugo Hauptvertreter der französischen Romantik) von der Wüste oder der Unstofflichkeit Gottes schreibt; seine Lyrik bedeutet eine Wiederbelebung der bereits 1835 veröffentlichten Reiseberichte „Voyage en Orient“. Gegenteilig liest sich ein arabisches Sprichwort:Viele Reisen lassen einen unfertigen Menschen reifen.“ Die Kernfrage indes bleibt: wieso entstanden alle großen Religionen in der Wüste?

Flauberts Antwort: Das Licht, Metapher für Erkenntnis (Les Lumières, die Aufklärung) der Wüste ist die Geburtsstätte aller großen Weltreligionen: äußere Kargheit sieht sich häufig mit innerem, spirituellem Reichtum verbunden. Freiheit ist ein Produkt der Fantasie, des Nichts und bedarf Raum, um zu wachsen. In seinen Erinnerungen an Tunis schreibt er: „Wenn die Gesellschaft so fortfährt, wird in zweitausend Jahren nichts mehr sein, kein Grashalm, kein Baum; sie wird die Natur aufgefressen haben.“

Foto Bernd Oei: phoenix dactylifera. Dattelbaum im neu angelegten Cyber-Park (https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g293734-d656363-Reviews-Cyber_Parc_Arsat_Moulay_Abdeslam-Marrakech_Marrakech_Safi.html) auf ockerfarbenem Boden. Sie ist neben der Klassiker untern den marrokanischen Früchten und neben Oleander, Olive und Granatapfel am weitsten verbreitet. Sie bedarf jedoch großer Mengen Wassers (https://www.picturethisai.com/de/wiki/Phoenix_dactylifera.html).

Erst unter der Julimonarchie richtet Frankreich sein Interesse auf den Maghreb und kolonialisiert den arabischen Raum systematisch. Die Okkupation und vollständige Kontrolle (1830-1956) erlangte die Grand Nation erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so dass Flaubert weitgehend eine von europäischen Einfluss freie orientalische Kultur vorfindet. (https://marokko.de/land-leute/geschichte/). Der Name maroc entstand erst 1912 und beinhaltet primär geografische Dimension des Landes: im Nordwesten des Maghreb, des nordafrikanischen Westens, gelegen. Für Flaubert ist Kuchuk Hanem die Personifikation des Maghrebs und die eigentliche (von Menschen gelebte, leibliche) Religion.

Foto Bernd Oei: Seitenansicht auf die Koutoubia-Moschee, das beühmteste Minarett des Landes, das aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammt und als Blaupause für zahlreiche Bauten den maurischen Stil bestimmte. Es fällt in diue Dynastie der Almohaden und damit der Berber, der ursprünglichen Machthaber im arabischen Raum, mit eigener Sprache und Schrift. Etwa ein Drittel der marrokanischen Bevölkerung (38 Mio) sind Berber, v.a. Bergbewohner (https://www.planet-wissen.de/kultur/afrika/reiseland_marokko/pwiegeschichtemarokkos100.html). Das Minarett der Buchhändler-Moschee ragt 77 m empor.

„Wenn ich lebe, bin ich nur Narr, wenn ich schreibe, bin ich ein Gott.“

Die legendäre Wüstenhetäre Kuchuk Hanem ist Weltflucht und akribische Suche nach Realität zugleich. (https://de.wikibrief.org/wiki/Kuchuk_Hanem). Sie soll 1850-70 gelebt haben und als Ghawazi vornehmlich in Ägypten durch Bauchtanz aufgefallen sein; Flaubert spricht vom Bienentanz. (http://www.spairo.de/die-geschichte-des-bauchtanzes.html). Sowohl in „Herodias“ als auch in „Die Verführung des Heiligen Antonius“ und in „Salambô“ schlüpfen Salomé bzw. die Königin von Saba bzw. die erfundene karthagische Tochter des Vaters von Hannibal in ihre Rolle. In jedem Fall waren die Frauen des Orients weniger verschleiert und schüchtern als heute. Im Unterschied zu heute und zu Frankreich zu Flauberts Zeiten fand Erotik noch in der Öffentlichkeit statt.

Es ist die wahrhafte Reise ans Ende der Welt, die nubischen Frauen, schwarzen somnambule Mondgöttinnen, marmorfarbenes Matriarchat. Ihre Körper gleichen Melodien, das Haar frischen Segeln im Wind, duftend nach Musik, deren Noten schmecken zärtlich nach Er hat es, das Wort aus drei Silben: Salambô oder Salome, der erhabenste Laut der Welt bis ans Ende des roten Meeres, das schmal ist wie das Becken einer Frau.

Foto Bernd Oei: Punica granatum, Granatäpfel auf dem Suk vor der Medina unmittelbar an der Stadtmauer.Der lateinische Name bezieht sich auf die Erzfeinde der Römer, die Punier. Unmittelbar nach dem Ende des ersten punischen Krieges gegen Karthago brach der Sölderkrieg aus, den Flaubert zur historischen Vorlage seines Romans Salambô (die Tochter des Hamilkar Barkas, Vater des Hannibals). wählte. Granatäpfel dienten als Grabbeilagen für Pharaonen, in Marokko zudem als natürlicher Farbstoff der Teppiche und heilmittel gegen Durchfall. Im HJeelnismus repräsentiert er die Unterwelt (Orpheus). Im Koran jedoch ist der Granatapfel vor allem ein Symbol für den Glauben.

„Salombô“ ist Orient pur, aber kein Klischee, weil Flaubert die Erwartungshaltung seiner Zeitgenossen von Beginn an konterkariert. Der Leser erwartet Wüstenromantik und Sonnenglut. Im ersten Kapitel ist aber hauptsächlich vom Mond, „rot wie Blut“ die Rede. Und etwas später: „Der Mond hatte sie so bleich gemacht, und etwas Göttliches umhüllte sie wie ein leiser Duft.“

Foto Bernd Oei: Stadtmauer nahe Bab Agnaou, dem Staddtor (Tor der Schwarzen) unweit des Parc majorelle. (https://de.wikipedia.org/wiki/Bab_Agnaou)

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