Warum die Welt heute so elend ist – Franz Werfel meets Helmut Newton in Prag

Foto Belinda Helmert: Prag, Newton im Dialog, Moldauer Wehr

Kindheit und Jugend in Prag

„… warum die Welt heute so elend ist:: Die falschen Ideale allein sind die Unglückseligkeit des Menschen Leben“

Zitat, Werfel, Ges. Werke, Leben heißt sich mitteilen, Essay Realismus und Innerlichkeit. Betrachtung über den Krieg von morgen

Franz Werfel ist seinem Sternzeichen nach Jungfrau – er wird am 10. September 1890 in Prag geboren – Erwähnung verdient die Bemerkung, da sein letzter Roman „Stern eines Ungeborenen“ heißt. Sein Tod im kalifornischen Exil fällt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. 22 Jahre verbringt er in der goldenen Stadt, dem neben Wien wichtigsten Schmelztiegel dreier Kulturen und Mikrobiotop der k. u. k. Monarchie, denn bis zu deren Zerfall bildet Böhmen bzw. die heutige Tschechei integrativen Betandteil Österreich-Ungarns. Er teilt damit das Schicksal von Rilke und Kafka, um nur zwei literarische Berühmtheiten seiner Generation anzuführen.

Foto Belinda Helmert, Prag – Blick vom Hradschin (Bergstadt, Burg) auf die Talstadt (https://de.wikivoyage.org/wiki/Prag/Hradschin)

Nach dem Militärdienst verlässt Werfel im Oktober 1912 Prag endgültig, um eine Stelle als Lektor im Kurt-Wolff-Verlag in Leipzig anzutreten. Seine neue Heimat wird vorzugsweise Wien. In disem Jahr lernt er Rilke und Kafka kennen, die nur zum erweiterten (Bekannten) Prager Kreis gehören, die sich im Café Arcor trifft. Mit Joseph Roth teilt der Pazifist die traumatisierenden Kriegserlebnisse an der galizischen Front. Eng damit verbunden bleibt die Frage seiner Generation: Kollaps des Vielvölkerreiches und Triumph des militanten Nationalsozialismus. Viele deutsch-jüdische Autoren zerbrechen an äußerem Druck wie Verfolgung und Bücherverbrennung als auch innerer Verzweiflung. Ohne Glauben, so das Credo Werfels, kann der Mensch nicht leben.

Spießbürger und Dekadenz

Die moderne Zeit beinhaltet nicht nur die Überwindung des Nihilismus (Nietzsches Erbe), sondern auch die der Unterwürfigkeit:

Der Kleinbürger hat eine Minderwertigkeitsangst gegen alle Fremde, Neue, Unbekannte, er ist ein Götzenanbeter seines eigenen Stubengeruchs.

(zitiert aus der Erzählung „Der Tod eines Kleinbürgers“, 1927). In der Erzählung zögert der vierundsechzigjährige Todkranke Karl Fiala (Werfel bezieht sich mit den Manen auf Schnitzlers Bankrotteur in „Fräulein Else“) seine Agonie hinaus, um seine Familie mit den Pensionsansrpüchen abzusichern. Sein Kampf gegen die eigene ablaufende Zeit spiegelt zugleich den Widerstand gegen den Zeitgeist. Der Ausbruch von Fialas tödlicher Krankheit ist zugleich ein Allegorischie auf die Dekadenz seiner Zeit (dem überkommenen monarchischen Österreich-Ungarn, dessen Zeit abläuft) und dramatischer Wendepunkt der Handlung.

Foto Belinda Helmert, Prager Durchgangsspassage (Galerie) im Jugendstil (https://://www.tschechien-online.org/reise/prager-einkaufspassagen-die-passagen-u-styblu-alfa-svetozor-23112016-18037)

Der(deutsche) Spießbürger ist laut Werfel der „primitivste Träumer, rettungslos in vermeintliche Wirkichkeit verwickelt“. Fazit des Essays über den Krieg von morgen aus dem Jahr 1921: Der Staat bestraft zwar Verbrechen gegen ungeborenes Leben, aber nicht das Verbrechen, das sich gegen das erwachsene Leben richtet und welches im Leid zweier Weltkriege kulminierte. Der Mensch, will er in dieser Barbarei menschlich bleiben, muss glauben, lieben, verzeihen oder er wird von Hass aufgezehrt. Er daf sich nicht im Kollektiv verstecken, muss individuelle Haltung zeigen.

Werfel verstand sich primär als Grenzgänger und Mittler zwischen den Welten (https://www.hdbg.de/boehmen/downloads/schwarz-franz-werfel.pdf). Dies gilt sowohl stilistisch für seinen Spagat des Existentialismus, psychologischen Realismus und relgiösen Messianismus als auch hinsichtlich seiner Freiheit vor einer Ideologie. In diesem Sinn ist er Rilke und Kafka sowie dem Schmelztiegel Prag seelenverwandt.

Foto Belinda Helmert: Theater für Kleinkunst Divadlo ABC, unweit der Karlsbrücke, Detail Stuckarbeit im Portal. Eingeweiht 1958.

Leitmotive

Drei Themen finden sich in Werfels Werk: Erstens, die Frage der (Jugend)Schuld in ihrer individuellen Verantwortung (u.a. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig, 1920; Der Abituriententag, 1928, Eine blaßblaue Frauenhandschrift, 1941). Zweitens die religiöse Frage bzw. Problematik der Identitität eines katholischen Juden oder jüdischen Katholiken („Barbara oder die Fömmigkeit, 1929; Der veruntreute Himmel, 1939; Das Lied von der Bernadette, 1941). Drittens die historische Krisenbewältigung, in der Werfel aktuelle Problematik des National(sozial)ismus zurückversetzt in einen überlieferten Kontext (Juarez und Maximilian, 1925; Die vierzig Tage des Musa Dagh, 1933, Jeremias. Höret die Stimme, 1937). Das Drama handelt vom desaströsen Zusammenbruch des Habsburgerischen Kaisers in Mexiko, der zweibändige Roman handelt über den Genozid des osmanischen Reiches an den Armeniern, der posthum verlegte Roma hat den Exodus des jüdischen Volkes zum Gegenstand. Dabei setzt sich Werfel kritisch mit dem Opfer-Mythos auseinander, da sich das jüdische wie das germanische Volk das auserwählte hieß und demnentsprechend handelte. Der Musa Dagh gilt heute als das bedeutendste Werk und politischer Beitrag Werfels (https://://deutsch.radio.cz/andenken-schriftsteller-franz-werfel-wird-tschechien-hochgehalten-8247676)

Foto Belinda Helmert: Kleinkunst-Theater, Wirkungsstätte des späteren Präsidenten Václav Havel als Bühnenautor
( https://de.wikipedia.org/wiki/Divadlo_Na_z%C3%A1bradl%C3%AD)

Der musikbegeisterte Werfel schrieb eine Reihe von kulturphilosophischen Essays oder Nekrologe (u.a. Stefan Zweig), Dramen (darunter das Ideendrama Der Spieglmensch, 1923), kurze und lange Erzählungen, Romane (u.a. Verdi, 1924) Libretti und Lyrik, die seinen Ruhm, zumindest in den zwanziger und frühen Dreißiger Jahren, als einen der populärsten Schriftsteller deutscher Sprache begründeten. Werfel selbst unterschied zwei Formen von Autoren: die unterhaltenden und die erziehenden; vermutlich gehört er zu den wenigen, dem beides gelang und vergönnt war: Er wurde sowohl von Nicht-Literaten als auch Kollegen euphorisch rezipiert. Vita und Werk-Übersicht: https://wortwuchs.net/lebenslauf/franz-werfel/

Wollen Sie die Schuld dieser allgemeinen menschlichen Tragödie wissen? – Sie heißt: gierig unstillbare Autoritätssucht, sie heißt: Nicht-beizeiten-Resignieren-Können!

Zitat Nicht der Mörder, der Ermordete ist der Schuldige. Die Geschichte eines Beinahe-Vatermörders endet prophetisch und in Anlehnung an Kafkas „Amerika“ bei der Einschiffung des Progatonisten im Hafen von Manhatten und im Anblick der Freiheitsstatue. Während der ödipale Konflikt des Erzählers durch eine autoritäre Haltung des Vaters bedingt ist, tötet sein Altersgenosse den Vater, der ihn ohne Regeln und Werte erzog. Werfel wehrte sich gegen Extreme.

Foto Belinda Helmert, Ministerstvo, Regierungsgebäude im Burghofauf dem Hradschin, Prgs Oberstadt
(https://www.tschechien-online.org/basisinfo/zu-welcher-uhrzeit-erfolgt-die-wachabloesung-auf-der-prager-burg)

Prägende Jahre im Café Arco

Werfel wird unweit des Café Arco geboren in der Havlíčkova 1043/( https:/kunstundmedien.de/2019/09/01/zu-besuch-bei-prager-deutschen-schriftstellern/) und sieht Europa in durch Schlangenblicke gebannt. Nicht nur 1938 war die Tschechei zu klein und damit ein Bauernopfer europäischer Friedenspolitik, bereits der Kaiser Franz Joseph sorgte mit seiner einseitigen Bevorzugung deutscher Sprache und Kultur für Verdruss auf die Habsburger-Monarchie. Werfel sieht, dass diplomatisches Hin- und Herwinden den rechten Augenblick zu handeln verpasst.

Das Café Arco in der Hybernska- Gasse (https://deutsch.radio.cz/franz-werfel-ein-portrait-8560940) war um die Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg Dreh- und Angelpunkt der deutsch-jüdischen Schriftsteller, die Max Brod den Prager Kreis hieß. (https://de.wikipedia.org/wiki/Prager_Kreis).

Café Arco, 1907. https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Arco

Prag besteht vornehmlich aus drei Stämmen, wie es Werfel pointiert: Deutsche, Hebräer, Slawen – weshalb auch von drei Ghettos und einem Völkgermeschi-Kaleidsokops gesprochen wird. Dabei treten die problematik zwischen Assimilation und Toeranz in Glaubensfragen bzw. der Verlust eigener Identität durch Selbstpreisgabe oder Diskriminierung in den Fokus. Werfel, kein Zionist, sieht die drei Stämme „umarmt einander in inbrünsiger Feindschaft“. Dabei spielt der Hussitismus (tschechischer Protestantismus) eine ebenso wichtige Rolle für die Integration als auch katholische Mystik und Kabala. Das ambivalente Verhältnis ist nicht nur für Werfel, sondern fast alle Prager Künstler elementar (http://jahrbuch-bruecken.de/cms/wp-content/uploads/2017/06/bruecken1995_5-24_Krolop.pdf).

Foto Belinda Helmert, Decke in der Bar des Nationaltheaters, Neubau 1884 ( https://www.prague.eu/de/objekt/orte/202/nationaltheater-narodni-divadlo)

Um die Jahrhundertwende zählt Prag etwa eine halbe Million Einwohner und gehört neben Wien und Berlin zu den Kulturhauptstädten deutschsprachiger Prägung, wenngleich nur 14% bei Werfels Geburt und 7% bei Werfels Abschied aus Prag zu dieser deutschsprachigen Minderheit gehören. Gründe für den schwindenden Einfluss der Deutschen ist die Industrialisierung, die v.a. slawisches Proletariat nach Prag zieht. Ihre Phänomene Vermassung, Pauperisierung, Bürokratisierung und Epidemien – dmopgraphische Verschiebungen und Herausforderungen aller Großsstädte der Moderne – finden ihren Niederschlag in Werfels Werk, zumal sie in die Epoche der Säkularisierung und der Revolutionen fallen.

Von der Notwendigkeit zu glauben

Der soziale Druck wächst, doch Widerstände gegen Reformen und Beharren auf Privilegien vermehren die innenpolitischen Krisen: Die Macht wird immer den Geist hassen müssen, der die bestehende Ordnung in Frage stellt und intellektuellen Mittelstandspöbel zeitigen. Der bibliophile Werfel findet im Arco sein geistiges Asyl (https://prag-to-go.com/kunst-und-kultur/traditionelle-cafehaeuser/cafe-arco).

Foto Belinda Helmert:, Klosterbibliothek Strahov, Philosophischer Saal. (https://www.tschechien-online.org/katalog/klosterbibliothek-des-klosters-strahov-prag-1)

Der Glaube als lebensbegleitendes Motiv und Problemkonstanz in den Werken Werfels, dessen ersten Werke unter dem Einfluss des Expressionismus standen. Historischer Kontext und Situation blieben dabei gebunden an die Situation der Juden in Prag um die Jahrhundertwende, konkret die geschichtliche Lage der jüdischen Gemeinde in Prag. Dies ist das Thema der Dissertation von Olga Koller, „Christentum und Judentum und Werk bei Franz Werfel“ (file:///C:/Users/Privat/Downloads/4807-2.pdf) Es geht ihm um die Wiederherstellung von Wahrheit und daher einen ewigen Gerichtsprozess, die selbstbestimmte Individualität anstelle narzisstischen Individualismus. In „Der Spiegelmensch“

Wir haben alle das falsche Ich befreit und das wahre umgebracht.“(Erster Teil)

Ich fürchte nur zu sehr, daß sich der Individualismus der gestrigen Geistigkeit in einen Universalismus von morgen verwandelt, wobei der einzige letzte Erkenntnisschmerz, der Schmerz der Vereinsamung, der endgültigen Einsamkeit, um den Spottpreis einer niemals erlebten, ehrgeizig erlogenen, allgemeinen Zugewandtheit verschachert wird.“ (Zweiter Teil)

Persönliche und nicht kollektive Schuld führen zur (Selbst)Anklage. Diese iuridistische Komponente, sich einen moralischen Prozess führen zu müssen, verbindet Werfel auch mit Rilke und noch mehr mit Kafka. Ein Aspekt betrifft jedoch das Weltbürgertum, jene Utopie, die in der k. u. k. Monarchie angedacht schien und die letzlich am Nationalismus und Stände-Ideal scheiterte, aber auch an bürgerlich klein-kariertem Denken.

Foto Belinda Helmert, Bibliohtek Kloster Strahov, Theologischer Saal auf dem Hradschin, der Burgstadt Prags (https://www.prague.eu/de/objekt/orte/403/strahov-bucherei-strahovska-knihovna)

Ambivalenz des tragisch-komisches Bewusstsein

Es gibt keine österreichischen Schriftsteller schreibt Werfel, ebenso wie es eine tschechischen un böhmischen gibt, weil jeder von ihnen individuell und zugleich Produkt einer Mischkultur ist. Wie Deutsche und Juden bzw. Slawen gut zusammenleben und sich ergänzen können, davon handelt die Tragikomödie “ Jacobowsky und der Oberst“, die bereits im amerikanischen Exil entsteht und dort ihre Uraufführung erlebt. (https://www.literatur-blog.at/2012/07/franz-werfel-jacobowsky-und-der-oberst/). Auch hier kollidieren Katholizismus und Judentum, wenngleich zwei Polen die Protagonisten geben.

Die eigentliche Hauptfigur Marianne, eine von Werfels starken Frauenprsönlichkeiten, bleibt im Titel unerwähnt, nimmt aber in dem allgeorischen Stück eine entscheidende Rolle für den Widerstand ein. Schon den Namen nach inkarniert Marianne den französischen esprit der Revolution als auch den wahren Glauben an die Unschuld. Der Jude Jacobwosky trägt bereits den Erzvater des Israeliten namentlich in sich und hat das Konzentrationslager überlebt. Der Oberst repärsentiert den slawischen Adel als auch Polens Teilung. Tragisch-komisch wirkt sein Festhalten an einer Ehre, die ihn zum Duell mitten m Krieg mit seinen Retter und Fluchtleidensgenossen Jacobwowsky zwingt. Einer der vielen zeitlosen Aussagen des Stückes stammt vom Würfelspieler (3. Akt, 2. Szene):

Wir tun das nicht aus Menschlichkeit, sondern aus kalter Überlegung, denn in diesem Kriege, zu dem wir so wenig gerüstet sind, ist jeder erprobte Berufsoffizier von höchster Notwendigkeit. Wir können auch sehr grausam sein, wenn es sein muß.“

Foto Belinda Helmert Schmiedearbeit am Veitsdom (https://de.wikipedia.org/wiki/Veitsdom)

Die subjektive Unschuld hebt weder das Naturgesetz noch das göttliche oder menschliche Gesetz auf. Auch dies ist eine Einsicht Werfels, die zu Dantes Inferno beiträgt. Eine fundamentale Spannung bezog Werfel aus seiner Stellung zwischen katholischer und jüdischer Mystik. In Werfels literarischem Kosmos ist der Mensch mehr gefangen in sich selbst als im Außen.

Foto Belinda Helmert. Schraffur der Fassade samt Torbogen und Gusseisen

Schmelztiegel Prag

Prag war schon im Mittelalter, v.a. seit Jan Hus, Amalgam diverser Nationalitäten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte sich die politische Situation im wirtschaftlich progressiven Böhmen, mit veränderten Bevölkerungsstrukturen als Konsequenz. Zunächst wirkte sich das fruchtbar belebend auf Kunst und Handwerk aus, bald darauf aber konfliktuös. Die ursprünglich große Zahl Deutschsprachiger sank, Tschechen bildeten nunmehr die Mehrheit im Lande. Nicht-Deutsche begehrten gegen das elitäre Gebaren deutscher Dominanz auf. Kaiser,Universität und deutsches Nationaltheater galten als Demonstration einer fremden Macht betrachtet, die angesichts der tschechischen Mehrheit längst ihre Daseinsberechtigung verloren hatte. Noch komplizierter als die Lage der Tschechen erwies sich die der Juden in Prag.

Die Länder der Wenzelkrone mit ihrer Hauptstadt Prag sind eine eigene Welt. Zwei nationale Ursprünglichkeiten vermischten sich im Kampf und bringen einen Strom reinster Fruchtbarkeit hervor. In Böhmen lag das Modell des Völkerstaate. …. Die uralte Kultur Böhmens voll mystischen Geistes und klarer Menschlichkeit…stirbt unter den Händen der hohnlachenden Chirurgen„.

Zitat aus Werfels Essay Realismus und Innerlichkeit

Foto Belinda Helmert, nächtliches Prag mit Blick auf Veitsdom, wo die Wenzelskrone (1347) lag.

Die Majorität der Juden waren Aschkenasen; diese fühlte sich dem deutschsprachigen Bürgertum angehörig . Ihre Vorfahren stammten aus der Prager Umgebung und hatten gut prosperierende Unternehmen gegründet. So war Werfels Vater erfolgreicher Handschuhfabrikant und saß in dieser gärenden Umbruchszeit zwischen sozialen, religiösen und nationalen Stühlen. Deutschjuden wie er sympathisierten mit einem uneingeschränkten Wirtschaftsliberalismus; dabei setzten ihn mit ökonomischer Progression gleich mit sozialen Fortschritt. Max Brod resümiert in „Streitbares Leben“:

„Das alte österreichische Prag war eine Stadt, in der nicht nur die einzelnen gegeneinander polemisierten, sondern drei Nationen standen im Kampf gegeneinander: die Tschechen als Majorität, die Deutschen als Minorität und die Juden als Minorität innerhalb dieser Minorität.“

Werfel: Bestimmung und Haltung

In religiöser Hinsicht ist Werfel ein Kind seiner Zeit. Er wächst in einer assimilierten Familie auf, die ihm in Bezug auf den Glauben keine
Schranken, aber auch keine Richtlinien setzt. So hat er die Möglichkeit, seine Meinung diesbezüglich selbst zu bestimmen, was für ihn jedoch eher einen
inneren Kampf als Freiheit der Entscheidung bedeutet. Summa summarum verabscheut er den Nihilimus, der die Moderne charakterisiert.

Ich verabscheue unsagbar den allgemeinen Geisteszustand unserer modernen Welt, jenen religiösen Nihilismus, der als Erbschaft längst verschollener Eliten seit drei Menschenaltern das Gemeingut der Massen geworden ist.

Zitat aus Leben heißt sich mitteilen, Essay Brief an einen Staatsmann

Foto Belinda Helmert, nächtliches Prag auf er Karlsbrücke Richtung Kleinseite (https://de.wikipedia.org/wiki/Karlsbr%C3%BCcke) und https://prag-infos.de/karlsbruecke/

Die meiste Zeit verbringt Werfel mit seiner Kinderfrau Barbara Šimůnková, und so entwickelt sich zwischen den beiden eine enge Beziehung, die seine
konstante Sympathie zum Christentum begründet, wenngleich er sich noch lange nicht für theologische Fragestellungen interessiert. Die Frömmigkeit Barbaras beeindruckt ihn. Sie erzählt ihm Geschichten über katholische Heilige, die seine Phantasie anregen. Jeden Tag besucht sie in der Früh die heilige Messe und betet. Dieses inbrünstige Suchen und Ringen prägt alle Romane.

Man verursacht Schicksale. Sie wandern vom Schreibtisch des Lebens ins Archiv des Erledigtseins. Mit der Zeit löst sich Gott sein Dank alles klaglos in Nichts auf.

Das Zitat stammt aus Eine blaßblaue Frauenschrift, Kapitel 2. Im Roman verursacht Leonidas Egomanie den Tod seines Sohnes und das Leid einer verlassenen Geliebten. Spät holt ihn diese Jugendsünde ein und lässt ihn die eigene Lebenslüge reflektieren. Deutlich wird es fehlt ihm wie vielen auf sich und ihr Forkommen bedachten Bürgern an Haltung. Werfel sieht seine Bestimmung darin, als Künstler ohne zu moralisieren auf diese fehlende Haltung, die er auf mangelende Spiritualität und einseitigen Materialismus zurückführt, aufmerksam zu machen.

Foto Belinda Helmert, Swarovski -Galerie. Der Glasschleifer und Gründerder Manufaktur von 1895 stammte aus Gablonz, einem nordböhmischen Vorort Prags. (https://de.wikipedia.org/wiki/D._Swarovski)

Dantes Hölle auf Erden

Nach der Matura beginnt Werfel an der Deutschen Universität in Prag zu studieren, bricht aber bald das Studium ab, da er sich nicht an feste Arbeitszeiten halten will und geht er nach Hamburg, wo er eine kaufmännische Lehre absolvieren soll. Desinteressiert kehrt er nach einem Jahr zurück. Zu ernsthaften Konflikten innerhalb der Familie kommt es, als sich herausstellt, Werfel möchte das Schreiben zu seinem Beruf machen und verbringt viel Zeit im Café Arco, das sich zu einem Zentrum der Prager deutschen Literatur entwickelt hat. Sein erster großer literarischer Erfolg ist der Gedichtband „Der Weltfreund“ (1911), der schon kurz nach seinem Erscheinen vergriffen ist. Angesichts dieses Erfolges ändert auch der Vater seine Meinung über die Karriere seines Sohnes als Dichter. Die Erfindungsgabe des Ungeheuerlichen und damit Werdung des Ungeheuers dominiert dabei über den Glauben:

Der Mensch besitzt, seiner düsteren Veranlagung gemäß, weit mehr Vorstellungsgabe für das Grausige als das Wonnige. Bekanntlich ist Dantes Hölle viel plastischer geraten als sein Paradies.“ … „Die ganze Menschheitsgeschichte ist ja nichts anderes als eine Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens in abwechselnden Verdunklungen und Erhellungen.“

Zitate aus dem Roman „Der veruntreute Himmel“

Foto Belinda Helmert, ‚Schaukasten der Lepidopterologie im Kloster Strahov

Werfel beschrieb über den Besuch im Strahov-Kloster im Gedicht Eintritt IV gleichzeitig seinen Eindruck des Schmetterling-Schaukastens und der Wirkung der Verpuppung,

Und an der Wand Insekt und Schmetterling,
Die in den Kästen aufgespießt sich spannten,
Entflatterten in einem wirren Ring,
…»Lasciate ogni speranza voi ch’entrate!«

Die deutsche Übersetzung aus dem italienischen lautet: Ihr Eintretenden lass alle Hoffnung fahren. Es handelt sich um ein Zitat aus Dantes Inferno, die Göttliche Komödie und Inschrift am Portal zur Unterwelt.

Werfel und Newton

Das Zitat stammt aus dem Roman „Der veruntreute Himmel“, der um Lebenslügen sowohl der besseren Gesellschaft als auch des Kleinbürgertums handelt. Werfels Kritik richtet sich hier auf einen nur formal praktizierten Katholizismus , der keineswegs frei von Egoismen ist. Bedeutsam ist auch der Zusammenhang mit Scheinmoral, Erotik und die Prägnanz der Sexualität aus unterdrücktem oder fehl geleiteter libidinösem Verlangen, welche zur moralischen Schuld führt. So finanziert die streng gläubige katholische Hausdienerin Teta ungewollt ihrem betrügerischen Neffen Mojmir ein sexuell ausschweifendes Leben. Im Glauben, ihm ein Priesterstudium zu ermöglichen, damit ihr ein Platz im Himmel gewiss ist, versucht sie nicht einmal, ihn kennenzulernen oder ihn zu besuchen. Der Schlussatz des siebten Kapitels, das die vollständige Desillusionierung beinhaltet und „Ein Vater der Lüge“ titutliert ist, lautet:

„Teta gräbt mit steifen Fingern eine Banknote aus dem Täschchen hervor. Dann übergibt sie dem Wirklichen und Leibhaftigen die endgültige Abschlagszahlung an das verlorene Idol.“

Foto Belinda Helmert, Museum Kampa am Moldau-Ufer mit Newton-Ausstellung H.N. im Dialog. Skulpturengruppe mimiinika (Babies) von David Cerny
(https://de.wikipedia.org/wiki/Museum_Kampa) und https://www.piccobello.com/auf-den-spuren-david-cernys-durch-prag/

Der Fotograf Helmut Newton (1920-2004) stammt zwar aus Berlin und nicht aus Prag; doch auch er flüchtete, fast zeitgleich mit Werfel vor der Gestapo und verstarb in Los Angeles. Sein Werk ist durch mehrere Ausstellungen in der goldenen Stadt äußerst präsent. Newton spielt in seiner künstlerischen Arbeit mit Idolen und Ikonen in der Grauzone von Fantasie und Realität. Einer seiner prägenden Selbststilisierungen lautet: „Meine Bilder werden nicht von einer perversen Phantasie angeregt, sondern durch die Wirklichkeit“. In diesem Sinn ist Werfel ein Newton der Worte und antizipiert dessen inszenierten Eros. Dieser bedient sich reziprok einer erotisierenden Bildersprache, die nicht nur Rollenklisches aubricht, sondern auch gesellschaftliche Misstände des Chauvinismus ironisierend aufgreift.

In „Der verutreute Himmel“ unternimmt Teta auf der spirituellen Suche nach ihrer (selbtverschuldeten) Enttäuschung mit dem falschen Priester-Neffen eine Pilgrfahrt nach Rom. Dort lernt sei den Kaplan Seydel kennen und hat erstmals unkeusche Gedanken, gegen die sie wehrlos ist:

„Da ertappte sie sich plötzlich auf einem furchtbaren Gedanken, den man um der ewigen Seligkeit willen niemandem hätte beichten dürfen. Und dieser verbotene Gedanke wurde zum noch verboteneren Wort, das sie mehrmals ausstieß, ohne es zu wissen: »Tät‘ er nur mir gehören, er, tät‘ er nur mir gehören!«“

Belinda Helmert: Foto vom Foto, Ausstellung Helmut Newton im Dialog. Prag, 2019. Weitere Bilder unter
http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/helmut-newton/

In Werfels Roman „Eine blaßblaue Frauenhandschrift“ ist der männliche Protagonist Leonidas ein schwacher Charakter, der sich Banalitäten, Luxus und Schein verschrieben hat. Auffallend häufig kontrastiert der Autor selbstgefällige Männer mit starken Frauenfiguren wie in diesem Fall seine ehmalige Geliebte, die Jüdin Vera. Liebesverrat und Denunziation an der jüdischen Rasse interagieren und bedingen sich wechselseitig. Die Frau dominiert bei Werfel, wenngleich häufig hintergründig – vielleicht auch dem Zusammenleben mit Alma Mahler-Werfel geschuldet.

Foto Belinda Helmert, Eingang zur Newton-Ausstellung im Museum Kampa

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