Foto: Belinda Helmert: Prag, die goldene Stadt hat auch goldgefärbte Treppen für sein modebewusstes Publikum
Die Augen zu und durch
Nur nichts sehen und hören wollen – irgendwie geht es schon vorbei, geht weiter und wenn nicht weiter, doch wenigstens voran. Wir Deutschen. Unser Schicksal. Wieder eine Chance verpasst. Was wir von Prag und Rilke hätten lernen können, um endlich nicht mehr die Fehler bei anderen zu suchen.
Von 1875 bis 95 verbringt der Dichter zwanzig Jahre in seiner Geburts-, der goldenen Stadt Prag in der k. u. k. Monarchie unter der Habsburger Krone, zudem ein Eldorado für Goldschmiede (https://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/zwanzigstes/rilke/1875prag.htm). Seine ersten beiden Gedichtbände erscheinen noch in Prag und enthalten kapriziösen Pathos, etwa die Schlusszeile eines seine Matura auf einer Privatschule nachholenden Poeten: „… ich schließe die Augen und sage: / Ich habe geliebt und gelebt „(aus dem dreistrophigen Quartett „Ich lieb ein pulsierendes Leben“).
Von Kind an betrachtet Rilke das Leben vom Tod aus, vielleicht weil er nach dem Verlust seiner Schwester Helene stets mit ihr „verwechselt“ und von seiner Mutter wie das verlorene Mädchen erzogen wird (Maria). Genderprobleme? René Karl Wilhelm Johann Josef Maria – erst Lou Salomé zuliebe nennt sich der Poet Rainer und emanzipiert sich künstlerisch, wird unnachahmlich. Ein deutscher Dichter und Denker mit Migrationscharakter, der quer denkt und die Sprache lyrisch neu erfindet, so dass ihn Heidegger neben Hölderlin würdigt als Öffnung, Wendung und Innen-Werdung, kurz als Beispiel der Seins-Kehre.
Die Kunst, neu sehen zu lernen
Bei allem Respekt, seine dichterischen Qualitäten und Alleinstellungsmerksmal erwirbt sich der nach dem ersten Weltkrieg staatenlose Welbtbürger, dem Reisen und Orte so wichtig wie kaum einen anderen Lyriker sind, gewiss nicht in Prag. Sein berühmter Eingangssatz in „Malte Laurids Brigge“ beginnt mit „Ich lerne neue sehen.“ Neu sehen lernt er in Paris, aber es ist auch ein Gedanke, der uns alle betrifft, weil er universale Allgemeingütltigkeit beansprucht.
Nicht nur die Magie der Orte oder der Kunst wandelt sich beständig, wir alle leben, um wahrnzunehmen, zu erkennen und zu handeln. Wer das , spätestens nach den letzten Herausforderungen , an denen wir kläglich gescheitert sind, nicht spürt, dem ist nicht mehr zu helfen, weil er blind sein will und über den eigenen Tellerrand nicht hinausblickt.
„Ein riesiges Epos der Baukunst“ , so hat Rilke, der bei seinen Reisen stets Inspiration fand, Prag genannt. (https://www.arte.tv/de/videos/104126-001-A/prag-und-der-junge-rilke/) „Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.“ Prags Geschichte als urbaner Siedlungsort im Herzen Böhmens beginnt im 6. Jahrhundert; die Entwicklung aus vier Stadtgebieten zu einer Polis ist untrennbar mit dem Hradschin, der Burganlage, verbunden. Erst unter den Österreichern ein Jahrhundert vor Rilkes Geburt wuchs zusammen, was heute wie selbstverständlich zusammen gehört.
Ihren ersten Höhepunkt erlebte die Stadt an der Moldau, poetisch das böhmische Meer genannt (https://de.wikipedia.org/wiki/Moldau_(Fluss)) im vierzehnten Jahrhundert: die Fertigstellung der impostanten St. Veitskirche, Gründung der Universität und Zusammenführung beider Ufer (Altstadt und Neustadt) über die Karlsbrücke (Skulpturen ausgenommen) fallen in diese Epoche.
Das Strahov-Kloster, ebenfalls auf dem Hradschin (https://de.wikipedia.org/wiki/Hrad%C4%8Dany_(Prag)) liegend, erfuhr nach einem Neubau seine bis heute sichtbare Ausstrahlung und Bedeutung. Nur wenig später erfolgte mit dem Prager Fenstersturz (https://www.planet-wissen.de/kultur/mitteleuropa/prag/pwiewaswarderpragerfenstersturz100.html) die wichtigste geistig-religiöse Strömung, zugleich Wurzel nationaler slawischer Identität: die Husittenbewegung, die auch nach der Verbrennung ihres charismatischen Führers Jan Hus nicht endete (https://museeprotestant.org/de/notice/jan-hus-und-die-hussitenkriege/) und dessen Bedeutung der Luthers gleichkommt. Rilkes Schlusszeilen in „Ende des Herbstes“: „Fast bis zu den fernen Meeren /
kann ich den ernsten schweren / verwehrenden Himmel sehn.„
„Durch meine Seele ziehts mit Zauberweben“ schreibt Rilke, dessen religiöser, mystischer oder spiritueller Sendungsauftrag nicht zu verkennen ist, Er sucht die Welt immer im Inneren, die Seele wird ihm bald schon zu seinem Weltraum (https://literaturkritik.de. /id/4439). Wenngleich sein in Prag entstandener Band „Larenopfer“ (https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0519-17.pdf) eher einer biografischen Bewältigung dient als an die Qualitäten des reifen Dichters heranreicht, so sind sie ein Fingerabdruck Prags, der sich entwickelnden Magie des Ortes und Spiegel dessen, was Rilke in den Duineser Elegien Weltraum heißt. Hier hat er gelernt, die Wurzeln seiner Heimat zu suchen. „Die Stadt verschwimmt wie hinter Glas“ (aus: „Im alten Haus“) oder „Weit über Prag ist riesengroß / der Kelch der Nacht schon aufgegangen“ (aus: „Bei Nacht“) deuten bereits an, was Rilke selbst in einem seiner Gedichte „Rokoko-Erotik“ heißt. Bauten werden zu Leibern oder Gespenstern, zu Geliebten und Küssen.
Eine Insel Europas
Nach der Märzrevolution, die in den Hegemonialstaaten Preußen als auch Österreich zu einer regressiven und repressiven Politik führten, welche die moderaten Forderungen der Tschechen nach Mitsprache im Keim erstickten, ebenso wie die Forderungen der Deutschen, wurde nicht nur eine Chance auf dauerhaften Frieden verspielt, sondern auch der Keim des Panslawismus gelegt, der sich in offener Feindseligkeit gegen Ende des Jahrhunderts entlud, so dass Rilke das seismografische Beben gespürt haben muss. Seine Geburt fällt in die Zeit, in der die deutschsprachige Elite bröckelt: Bis 1861 amtierte ein deutscher Bürgermeister in Prag. Von da ab nahm die Zahl der tschechischen Einwohner sprunghaft zu, bedingt durch die Industrialisierung der Prager Vorstädte. Wirtschaftlich brachte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen stürmischen Aufschwung. Im Jahr 1874 wurden der Großteil der Stadtbefestigungsanlagen abgetragen, um Platz zu schaffen für Neues (https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Prags).
Der Prager Kreis, zu dessen erweiterten Bekannten Rilke zählte, traf sich in Cafés, auch um sich gegenseitig Geschcihten vorzulesen und anzutesten. Schriftsteller und Künstler waren befreundet, durch ein persönliches Netzwerk miteinander vertraut und keine Solisten, die sich aalglatt im TV präsentierten, um die Verkaufszahlen ihrer Produkte zu bewerben. Anstelle von small talk herrscht eine Atmosphäre geisitger Veränderung und Revolution, die Prag zur Insel der geistigen Jugendbewegung machte.
Die Sünde Bildung
Ein kultureller Schmelztiegel – diese Metapher wird immer gerne und häufig verwendet, wenn von Prag und der Entstehung des Prager Kreises die Rede ist. Im Geburtsjahr Rilkes zählte Prag etwa 170 000 Einwohner, nur 10 Prozent davon waren Juden und ein Drittel Deutsche (mit einem traditionell deutschen Bürgermeister, der nicht einmal tschechisch verstand). Diese Vielheit ist weder mit Plutokratie noch mit Kulturbrei zu verwechseln und Inklusion nicht mit grenzenlos gewollter Überfremdung eigener Kunst. Globalisierung lebt vom Respekt der Heterogenität und nicht chauvinistisch verordneter Homogenität.
Für ein Volk, das sich das der Denker und Dichter nennt, braucht es nicht nur kreative Schriftsteller, sondern auch mündige Leser – mit bloßer Lust am Entertainment ist das nicht zu bewältigen. So ist der Sündenfall auch ein Bildungsunglück. Zwanzigjährig, als der Dichter die Stadt verlässt, macht der Anteil Deutschsprachiger gerade einmal 14 Prozent aus bei gleichbleibenden Anteil der jüdischen Einwohner. Die Chance zur Verbrüderung ist vertan.
Rilkes Geburtshaus steht am Prager Graben, die frühere Adresse lautet Heinrichstraße 6 (https://deutsch.radio.cz/dichter-rainer-maria-rilke-kehrt-seine-geburtsstadt-zurueck-gedenktafel-am-8558350). Seine rückschauenden Zeilen lauten: „Der Erinnrung ist das traute / Heim der Kindheit nicht entflohn,/ wo ich Bilderbogen schaute / im blauseidenen Salon.“ (Erstes Quartett aus : „Mein Geburtshaus“)
Bilder- statt Regenbogen
Des Dichters Verhältnis zu Prag, zur Heimat, zur eigenen Person blieb stets ambivalent, ja zerrissen. Sein Leben war von Krisen und Spaltungsprozessen gezeichnet. Im Gegensatz zum Durchschnittsmenschen, der gerne in schwarz und weiß denkt und als Etiketten-Statement Regenbogenfahen trägt, gelang es ihm, diese Spannung für seinen dichterischen Prozess fruchtbar zu machen und ein großes, gewaltiges Sprachmonument zu erschaffen. Er wurde zum Weltbürger, einem Ideal, das Rousseau begründet und auch Stefan Zweig für die Zukunft Europas für unverzichtbar erachtet. Und bei allen Dichtern und Denkern ist auch die Furcht vor der Rohheit der Masse mit seinem leicht manipulierbaren Bürger, dem Wolf im Schafspelz, ausgeprägt: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus: / Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort.“ ( so der Beginn aus Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort)
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Stattdessen ist die Nation, ist Europa und auch die Gesellschaft tief gespalten. Feindbilder und Egoismen, Korruption und gemeine Lügen, kurz Doppelmoral und Selbstbetrug haben unser Land und vielleicht auch die gesamte Welt durchzogen. Strategische Gutmenschen und Wutbürger regieren, von denen Rilke, der diesen Lärm immer fürchtete, immer gewarnt hat. Über das gestorbene innere Kind schreibt er in „mein Geburtshaus“ „fern ruht es sachte, wo es nie mehr lächeln darf.“ Deutlich grenzt sich Rilke vom Nationalismus und Parteistreben ab, etwa zu Beginn von „In Dubis“ (deutsch: In Zweifeln): „Es dringt kein Laut bis her zu mir von der Nationen wildem Streite, / ich stehe ja auf keiner Seite; denn Recht ist weder dort noch hier.“
Die Bedeutung des taktvollen und deeskalierenden Schweigens scheint nicht nur in der heraufziehenden Epoche der Weltkriege verloren, auch heute noch regiert Geräuschkulissenpolitik, Säbelrasselntaktik und einschüchternde Drohgebärde im militärischen Pathos. Politik wirkt heute mehr denn je wie ein Martionettentheater mit „Puppen, mit denen das Leben gespielt hat„.
Rilke erlebte eine dramatische Form des Wandels. Er beschreibt dies mehrfach in seinem Roman, der auch eine Chronik der Verstädterung und der negativen Folgen der Urbanisierung enthält. Der Autor arbeitet viele Jahre an ihm, zumal der Roman nicht seine literarische Form ist. Er weiß und sagt es, er wird „Worte schreiben, die ich nicht meine„. Die Rede ist von „Malte Laurids Brigge“:
„Aber ich fürchte mich, ich fürchte michnamenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar nicht indieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint.„
Rilke dichtet in „Bei Nacht“ im Anblick des Turms auf der Karlsbrücke: „Hoch grinst der Mond, der schlaue Gnom, / und neckend streut er das Gesträhne
der weißen Silberhobelspäne hernieder in den Moldaustrom.„
Nur auf den ersten Blick ist die beschriebene Großstadt Paris, in der Rilke neu sehen lernte. Natürlich ist es gleich, wo und wann man sich fürchtet. „Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat.“ Was so einfach klingt, hat nicht funktioniert, erst recht nicht während der letzten Jahre im angeblich so liberalen demokratischen und freiheitsliebenden Westen.
Westeuropa, Deutschland voran, ist in Furcht versunken und in Agonie, in Vorwürfe, Hass und Selbstschutz-Parolen. Wie bei der Fußball WM ein Desaster und kollektives Versagen, das sich seit langem angekündigt und das doch niemand verhindert hat, weil Wegsehen und Weghören die Spezialität des Deutschen ist, auch wenn es immer heißt, er reagiere hysterisch. Das stimmt auch, weil Hysterie die nach außen getragene Furcht ist wie die innere das nicht sehen und nich hören wollen. So liest man Rilkes Roman „Malte Laurids Brigge“ als sei gestern geschrieben:
„die Angst, daß irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst,daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor meiner Türe zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß ich
nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, — und die anderen Ängste … die Ängste“
Vom Dramatiker zum Präsidenten
Einer der wenigen Philosophen, die es wagten ein öffentliches Amt zu bekleiden, war Václav Havel (1936-2011). Er, der sich immer für Frieden, Menschlichkeit und Weltbürgertum einsetzte, damit ein Geistesverwandter Rilkes, sah während seiner Amtszeit als Präsident den Zerfall der noch jungen und gerade vom russischen Joch befreiten Republik in Tschechen und Slowaken. Philosophen, die heute Verantwortung und Wort ergreifen, sind nicht zu finden. Vielleicht haben sie resigniert, vielleicht sind sie aber einfach nur feige und fürchten sich vor den Geräuschen ihrer Zeit.
Havel ist nicht nur wie Rilke in Prag geboren, zehn Jahre nach seinem Tod, sondern wirkte als Schriftsteller und Bilder-kunstaffin: seine Mutter war Malerin. Rilke machte sich einen Namen als Kunstkritiker, so bei dem aufkommenden (damals abgelehnten) Worpsweder Frühexpressionismus, wie er sich in seiner Frau Clara Westhoff und ihrer früh verstorbenen besten Freundin Paula Becker (Modersohn) niederschlug. Das Fundament für die Bilder-Liebe liegt in Böhmen, der kulturellen Heimat Rilkes (https://deutsch.radio.cz/da-ward-boehmen-reich-tausend-reizen-zum-80-todestag-von-rainer-maria-rilke-8612425).
Havel war an dem Nachkriegstheater Divadlo ABC 1959 als Bühnentechniker tätig, wo er Beleuchter, Sekretär, Lektor, Dramaturg und schließlich „Hausautor“ wurde. Seine Stücke des absurden Theaters (kafkaesk) gehören zum Prager Frühling , der dem Sozialismus ein menschliches Antlitz verleihen wollte. Havel gilt als einer der wichtigsten Verfechter der deutsch-tschechischen Versöhnung und damit Rilkes Erbe.
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Dies ist ein Zitat von Havel, das mit etwas anderen Worten auch aus der Feder Rilkes stammen könnte. Ihre Weisheit und Würde geht wie so vieles im Lärm der Zeit, der medial gezüchteten und gepfelgten Feindbilder unter. Rilke weiß um den Verlust von Intimität und Integrität: „Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause.“
Ein Fenster zur Welt
Auch Kafka vermisste die Stille, Ruhe, Einkehr, Nachdenken. Alles stürmt voran, die Meute hinterdrein. Joachims Witt, Der goldene Reiter, lautet pointiert. „Ich war der goldener Reiter / Ich war zu hoch auf der Leiter / Und dann stürzt´ ich ab“ (https://www.songtexte.com/songtext/joachim-witt/goldener-reiter-63c386bf.html).
Es mutet seltsam an, dass ihre Stimmen verehrt, aber nicht gelebt werden und traurig, dass sie zuletzt nicht einmal mehr in den PR-gesteuerten polyphonen Medieninszenierungen vernommen werden konnten. Auch dies scheint der Prophet Rilke in seinem Großstadt- und Selbstfindungs-Portrait „Malte“ vorausgesehen zu haben.
„Meine letzte Hoffnung war dann immer das Fenster. Ich bildete mir ein, dort draußen könnte noch etwas sein, was zu mir gehörte, auch jetzt, auch in dieser plötzlichen Armut des Sterbens.“
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