Wahrheitsjäger

Foto Belinda Helmert: Totes Gleis auf der Bahnstrecke 219 b bei Liebenau. Viele haben einen Weg, nur wenige ein Ziel. Nietzsche: „Nur die ergangenen Gedanken haben einen Wert für die Wahrheit“. (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, 35). Nietzsche war ein enthusiastischer Wanderer.

https://www.kronshagen.de/unser-kronshagen/willkommen/veranstaltungskalender/veranstaltung/nur-die-ergangenen-gedanken-haben-wert-nietzsche?print=1cord&cHash=73db93d8472fa1f30a4b862a7b0da63c

Neulich hatte ich einen Disput mit meinen philosophischen Nachbarn R. Schütt. Er sagte, Nietzsche sei beliebig und habe sich vage bzw. nie klar zur Wahrheit positioniert, was die Faschisten weidlich ausgenutzt hätten. Mehr als zu sagen, Heidegger (dessen Hautpthema Wahrheit ist) und viele, von mir betreuten, Doktoranden hätten sich nie für ihn interessiert, wenn er diesen ontischen Begriff verweigert hätte bzw. was sei denn mit „Heer der Metaphern“ anderes gemeint als die bewegliche, nicht beliebige Perspektive, konterte er mit „radikalem Subjektivismus“, der alles erlaube à la Dostojewski. Hier meine Antwort, Teile meiner Promotion: die Große Aue hat sie in ihrem historischen Hochwasser Weihnachten 23 verschluckt, doch digital ist sie am Leben.

Foto Belinda Helmert: stillgelegtes und überwuchtertes Gleis bei Liebenau. Die Strecke Nienburg-Rahden über Liebenau wurde 1910 eröffnet und 1996 das letzte Teilstück stillgelegt. Die Verbindung nach Steyerberg, zu dem diese Schwelle gehört, bereits in den Siebzigern.

Wahrheitstrieb

Nur der Mensch jagt der Warheit nach. Ein Affe, repsektibal am Baum hängend und die Früchte der Erkenntnis ignorierend, schert sich nicht darum. Der von Nietzsche wichtigste und am häufigsten thematisierte Begriff in den frühen Achtzigern ist der des (Wahrheits)Triebes, der zum Wille zur Macht stilisiert wird. Erstmals Erwähnung finden auch das „Gefühl der Macht“ (die Wahrheit zu besitzen), aus dem sich der Übermensch entwickeltn wird. Nebenbei: „Also sprach Zarathustra“) liefert nicht nur eine Antwort auf den Nihilismus (Kernaussage: Es gibt keine absolute Wahrheit!“), sondern auch auf Zoraster, der die Wahrheit noch diesseits gut und böse sucht und nicht jenseits (aller Moral) wie Nietzsche.

Richard Rorty (um, nur einen zu benennen) beschäftigt sich mit der Erkenntnistheorie Nietzsches, dem Thema der Ironie (Ich weiß, dass ich nichts weiß), die eine Stufe zur Wahrheit darstellt.Er sieht ihre heilige Idee im Christentum verraten und will zurück zu ihrem (dionysisch-polythesitischen) Ursprung. Denn, die Wahrheit beginnt zu zweit: „Einer hat immer unrecht, aber mit zweien beginnt die Wahrheit. (Die fröhliche Wissenschaft, drittes Buch Nr. 260):)

Nietzsche dokumentiert die interaktive Wechselwirkung von Wissenschaft, Moral und Religion zu einem Kongolmmerat der Wahrheit und spricht von perspektivischen Verzirrungen. Nietzsches Positionen mögen sich Anfang der Achtziger Jahre radikalisieren, beliebig werden sie dabei nie.

Foto Belinda Helmert. Bemooste Bahnschwelle zwischen Hagebutten bei Liebenau. Die Wahrheit liegt im Detail und im Moment, so Nietzsche. Personen werden hier seit 1968, zwei Jahre nach meiner Geburt, nicht mehr befördert.

Wahrheit als Metapher

Von den über dreihundert Eintragungen (die Fragmente mitgerechnet) über Wahrheit seien hier die in meinen Augen wichtigsten herausgegriffen und belegt. Die Kernfrage ist wie unterscheidet sich eine perspektivische Wahrheit – die Ablehnung einer Verabsolutierung – von einer subjektiven, auf Erfahrung, Überzeugung oder intersubjektiven Werten beruht, die keine Objektivität erlaubt. Nichts in der Wirklichkeit entspricht der Logik, weil Wirkliches nie fest, sondern im steten Fluss oder „Krieg“ mit anderen Elementen ist. Das heraklitische Primat des Werdens bezieht sich nicht nur auf das Objekt der Erkenntnis (den Fluss, den Krieg als Metamorphose), sondern auch auf den Erkennenden selbst, der niemals ein Erkenntniskontinuum bildet.

Jeder Begriff, so Nietzsche, entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne).Wille zur Wahrheit ist der substantielle Wille zum Sichtbarmachen, der sich im Invidiuum als Ich manifestiert, wobei alle Lügen mit Ich beginnen. Da er dem „Ich“ als autonome Quelle misstraut, folgert er ein interaktives Medium, etwa die Summe erlernte Ge- und Verbote, die für wahr genommen werden. Im gleichen Aufsatz findet sich auch das vielleicht meistzitierte Zitat mit den mobilen Metaphern: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“

Foto Belinda Helmert: Zugewachsenes Gleis der ehem. Bahnstrecke 219 Nienburg-Rahden. Eine sehr große Bedeutung hatte ab 1939 der Gleisanschluß bei Liebenau an die “Eibia GmbH Anlage Karl”, einer der größten Explosivstoff-Fabriken des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Dazu passend Nietzsches Selbsteinschätzung: „Ich bin Dynamit“ Die Kunsthistorikerin Sue Prideaux hat eine Monografie mit gleichnamigen Titel herausgebracht. Sie spricht vom gefährlichen und zerstörerischen Ansteckungspotential (für die nationalsozialistische Idee), die Nietzsche hätte vorhersehen können, ja müssen.

https://www.deutschlandfunk.de/sue-prideaux-ich-bin-dynamit-sprengmeister-friedrich-100.html

Wahrheit als Machtgefühl

Primär steht die Loslösung von Wahrheit von der Moral im Vordergrund: die Jagd nach Wahrheit im außermoralischen Sinn, also Jenseits von Gut und Böse. Mehrfach grenzt er sie gegen Religion bzw. ihre Dogmen ab: „Religion drückt keine Wahrheit aus, sondern erfindet sie „als Gegenargument gegen die zugrundeliegende Wahrheit“ (Fragmente, Herbst 76). Das Gefühl im Besitz der Warheit zu sein verleiht den Menschen ein Machtgefühl. Sein Gegenstück, die Ohnmacht, erträgt er kaum: er muss Wahrheit haben.

Den Willen zur Wahrheit heißt Nietzsche auch Interpretation: keineswegs subjektiv oder gar beliebig, sondern als Summe aus allen bekannten Teilen. Neben der objektiven Verzerrung der subjektiven Wahrnehmung existiert noch der alte Satz: Die Wahrheit (das Ganze) ist mehr als die Summe aller Teile. Es geht also darum, Waheheit neu zu bestimmen und sich von einer alten vertrauten, aber nicht mehr konsistenten, Definition zu lösen. Alles hat bei ihm eine vierfache bzw. fünffache Bestimmung: ästhetisch, historisch, psychisch und ethisch, zählt man die metaphysische hinzu (Wille zur Macht) sind es fünf.

Die Aussage, Wahrheit sei an Perspektiven des Menschen gebunden (JGB, Aphorismus 32) wird mit dem Konzept des Willens zur Macht verknüpft: nicht Gott selbst als summa potestas aller Wahrheit wird geleugnet, sondern seine menschliche allzumenschliche Auslegung. Das für den Menschen und die ganze Natur das bestimmende Prinzip bleibt indes sein Wille zur Wahrheit, repsektive Wille zur Macht. Diesen Grundgedanken äußert er erstmalig in seinen Gedanken über die Ziele der Wissenschaft. Nietzsche wollte ursprünglich Naturwissenschaftler werden und blieb ihr, besonders der Chemie und der Biologie auch lebenslang verbunden. Er schreibt: „: bei allem Philosophieren handelte es sich bisher gar nicht um »Wahrheit«, sondern um etwas anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben...“ (Die Fröhliche Wissenschaft, I, 12).

Foto Belinda Helmert: überwuchertes Bahngleis und Sonnenuntergang bei Liebenau. Die Wiesen standen bei Überflutung unter Wasser. Wer es nicht weiß und zu dieser Zeit die Felder sieht, glaubt an einen kleinen See. Nietzsche dazu: „Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, wenige in Bezug auf das Ziel.“ (“ Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, 1, Aphorismus 494)

Wahrheit als Schein und Schleier

Kurz darauf folgt eine häufig überlesene Stelle, da der Mythos bzw. der Begriff Baubo , auf den Nietzsche verweist, nicht sehr bekannt sind. Das Zitat zur Gänze lautet: „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben!“ Bekanntlich geht Zarathustra mit der Wahrheit schwanger und verweist in seiner Wahrheitssuche auf das Weib, das er nie fand. Baubo bedeutet Leibeshöhle und Gebärmutter; als Fruchtbarkeitsgöttin geht sie Demeter voraus und wird später ihre Gehilfin. Geburtshelfer wurden im vorsokratischen Zeitalter noch Baubo gehießen.

Wahrheit und Schein, eine lange Geschichte, von Sais bis zu den sieben Schleiern der Wahrheit im Buch der sieben Siegel (Zarathustra IV). Mit der Wahrheit kann man Geschäfte machen und Illusionen sind teuerer, auch treuer als die nackte Wahrheit selbst. Immer wieder weist Nietzsche auf ihren Missbrauch und den inflationären Nutzen hin und spricht metaphorisch von Falschmünzerei, was nicht inkludiert, es gäbe die Münze an sich nicht. Durch Handel und Gebrauch wird sie jedoch verdeckt und abgenutzt. Im Baubo-Gleichnis drückt sich der Unglaube an einer Wahrheit aus, Wnachdem man ihr die Schleier abgezogen hat.

Wahrheit wird ferner als die unkräftigste Form der Erkenntnis definiert (Buch III, Aphorismus 110), u.a. in Bezug auf den Irrtum, dass unser Wolen frei ist. Nietzsche ist ein Fürsprecher des Willens zur Freiheit, niemals ein Vertreter des freien Willens. Daher denkt er auch nicht, dass die Wahrheitsfindung willkürlich subjektiv oder individuell verläuft. „Manch einer, der ihm radikalen Subjektivismus zum Vorwurf macht und postuliert, aus ihm könne sich jeder sein eigenes Evangelium herausdeuten, sollte diese Stelle kennen. die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen, ist nie ernstlich gekämpft worden„….

Foto Belinda Helmert: stillgelegte Bahnstrecke beim Liebenauer Hafen. Das Viadukt über das Wesertal bei Nienburg ist Teil der Strecke 219b. http://www.eisenbahnkultur.de/Strecke-219b/strecke-219b.html

Wahrheit als Anmenschlichung

Wahrheit verändert sich, sie ist temporär. Was heute als wahr und gesichert gilt, selbst wissenschaftlich mehrfach verifiziert, erweist sich mit moderner Forschung oder unter anderen Parametern als wahrscheinlich oder zufälliger Fund, in jedem Falle ephemär. Die gesamte Evolution lehrt uns, dass Wahrheit voranschreitet und ihr Zweck darin besteht, Leben zu erhalten, oft wider aller Vernunft. Deshalb bezeichnet Nietzsche Wissenschaft auch als „getreue Anmenschlichung der Dinge„, quasi eine Replik an Kant, der von dem Kriterium der Angemessenheit spricht.

Wirkungen werden als Wahrheit genommen, Gründe und Ursachen vertauscht. Aus einem Kontinuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren entsteht eine Bewegung, in der (Liniengleichnis) wir doch immer nur Einzelnes als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern uns erschließen, indem wir es mit einem imaginären vorher und nachher verknüpfen. Die Rede ist vom Einfluss der Kontingente, der Mariginale, der veränderbaren Faktoren. Fakt ist ein schönes Wort für nackt. Es hat abe rimmer noch Fleisch und Knochen und Haut umzu.

Psychologisch betrachtet verweist Nietzsche Wahrheit ins Unbewusste, was ihn für Freud interessant machte. Zitiert sei hier aus der Gaya Scienzia: „jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, daß der allergrößte Teil unseres geistigen Wirkens uns unbewußt, ungefühlt verläuft ...“(IV, 333). Eine nicht gewusste Wahrheit ist eine kollektive, nicht nur eine verschwiegene, sondern eine ungeborgene, eine terra incognita, dennoch existent, die Nietzsche nicht leugnet. Stellen, in denen Wahrheit nicht mit Horizont, sondern mit Tiefe verbunden wird, Bilder des Vertikalen, sind u. a. m Zarathustra-Epos „Der Wahrsager“ omnipräsent. Bisherige Wahrheiten werden als „berühmte Objektivität“ verspottet, handelte es sich doch häufig um Volks-. und Aberglauben.

Foto Belinda Helmert: Liebenauer Hafenbecken an der Weser. Zwar fließt nur die Große Aue direkt durch den Ort, doch die Weser liegt hier nur 2 km entfernt. Am Anfang stand auch hier die Pulverfabrik und der Zweite Weltkrieg. Die Nazis gaben ihr den Decknamen „Anlage Karl“.

https://www.nw.de/lokal/kreis_minden_luebbecke/luebbecke/22156834_Pulverfabrik-Liebenau-Wald-Idyll-mit-moerderischer-Geschichte.html

Wahrheit als Gesundheit

Die fröhliche Wissenschaft ist eine Metapher für die Wahrheit, mit welcher der Basler Philologe zeitlebens ringt und die er aus der „großen Gesundheit“ ableitet. veritas hat man nicht, man muss sie schaffen oder machen. Heikel erscheint die Formulierung, zumal sie an die heutigen fake news erinnert. Es handelt sich um eine „Gesundheit, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muß, weil man sie immer wieder preisgeben muß...“( V, 382) Gemeint ist offensichtlich, dass man sich nicht auf eine vermeintliche Wahrheit ausruhen kann, will man aufrichtig bleiben.

Aufrichtigkeit ist ein Schlüssel zur Wahrheitsfindung. Ein anders entlehnt er aus dem operativen Bereich: Vivisektion, worunter das Aufschneiden und Zerlegen eines Organismus fällt. Im Zarathustra tritt die Jagd als Metapher hinzu. Grundsätzlich sind alle Begriffe Hinweise auf das Lösen und Loslassen, das Aufspüren und Finden, das Persönliche und das Prozesshafte. Dabei gilt grundsätzlich, dass seicht und schmutzig konnotiert werden wie auf der anderen Seite tief und klar. „Nicht wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist, steigt der Erkennende ungern ins Wasser.“ (Zaraathustra, Von den Fliegen des Marktes). Die Verwendung des Plurals überwiegt; stets gibt es nicht die eine, sondern viele Wahrheiten.

Foto Belinda Helmert: Liebenauer Hafen an der Weser, ehemals Eiba-Gelände. Für den Anschluss an den Hafen wurde eigens 1910 eine Bahnstrecke gelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Munitions- bzw. Explosivstoffproduktion von der Dynamit Nobel übernommen und die Kraftwerke auf Gas umgestellt. Die Anlagen am Binnenhafen wurden somit nicht mehr benötigt und allmählich zurückgebaut, das Anschlußgleis stillgelegt. http://www.eisenbahnkultur.de/Bf-Rahden/Bf-Liebenau/bf-liebenau.html

Wahrheit als Momentaufnahme

Die zentrale Aussage, dass Wahrheiten geschaffen und vor allem neu geschaffen werden müssen, verdeutlicht das wiederkehrende Gleichnis mit alten und zerbrochenen Tafeln, die an das AT anspielen. Im Zarathustra führt er Wahrheit an Weisheit heran, die Worte werden nahezu identisch gebraucht. Für Heidegger wird das Bild „so manches Haus ist noch zu bauen“ (Kaptel „Von der Selbstüberwindung“) zentral, wenn er ontische Wahrheit als Haus des Seins bezeichnet. Auch hier steht der Kampf gegen absolute, objektive, unvergängliche Wahrheiten im Zentrum, aber nicht die radikale Subjektivierung im Sinn der Beliebigkeit oder Eigenmächtigkeit. Die Wahrheit wird etwas Lebendiges, Organisches, Leibliches: sie ist bestenfalls geliehen und ständig in Bewegung.

Gerade im Kapitel „Von alten und neuen Tafeln“, dem der Fröhlichen Wissenschaft entgegengesetzten Geist der Schwere, wird deutlich: Die Wahrheit ist der eingefrorene Augenblick, eine Momentufnahme (Kairos). Es ist der Zeitpunkt und der Beobachtungsraum, der uns Perspektiven verleiht und die Perspektive, die uns Wahrheiten erkennbar macht. Die Zeit und der Ort aber sind selbst gewählte Bezugspunkte, sind Schaffen aus dem Willen (zur Macht) heraus. Die Leiblichkeit der Wahrheit wird zurückgeführt auf Jesus tradiertes Gleichnis „Ich bin die Wahrheit“ (Johannesev. 14, 6: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben): die Steilvorlage für Nietzsche.

Foto Belinda Helmert: Weserhafen in Liebenau mit Schiffsverkehr. Ein vorhanden gewesener Drehkran für die Kohleverladung wurde in den 1979-er Jahren abgebaut. Nietzsche: „Oh Hafen auf hoher See! Oh Friede im Ungewissen! Wie misstraue ich euch ..“ (Also sprach Zarathustra, Von der Seligkeit wider Willen)

Kleine und große Wahrheiten

Zuletzt das bekannte Kapitel Vom alten und vom jungen Weiblein (es imkludiert den Satz Wenn du zum Weibe gehst, versii die Peitsche nicht): hier rät ein altes Weib Zararathustra mit den Worten „nimm eine kleine Wahrheit von mir„, was die Existenz einer großen aufwirft bzw. nahelegt. Auf den Zusammenhang Weib, Schwangerschaft (beide grammatisch weiblich) wurde bereits verwiesen. Auch zu dieser Wahrheit bedarf es zwei, Mann und Frau, so will es die Natur. Der Mann sei nur böse, das Weib aber schlecht. Wieder eine leicht missverständliche Stelle: gemeint ist schlicht, da der Philologe malus von einfach ableitet. Deutlich werden die Vorurteile, die uns allen den Blick auf die reine unvefälschte, die große Wahrheit, verstellen. So sagt das alte Weiblein auch, „bin ich doch alt genug für sie„. Kleine Wahrheiten sind vorlaut, man müsse sie verbergen. Für Nietzsche existieren nur intersubjektive Übereinkünfte, an Situation und Perspektive gebundene Wahrheiten. Sie sind auch von Geschlecht und Alter abhängig, gleichfalls nicht willkürliche Größen.

Foto Belinda Helmert: Schiff nach der Begegnung im Gegenverkehr im Liebenauer Hafen. Für die Anindung an die Pulverfabrik schufen die Nazis 39 ein Netz aus 42 Kilometern Eisenbahnschienen, die das Werk Eiba mit dem Liebenauer Bahnhof und dem Weserhafen verbanden .Nietzsche: „Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es getan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in einem Hafen und in einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten ein Ziel gehabt.“ (Die fröhliche Wissenschaft IV, Aphorismus 279)

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