„Das Pack ist immer feig!“

Foto Belinda Helmert: Fräulein Julie illuminiert als Lampenlady, Lange Str. 29 Liebenau. Kunst von Maik Dräger, Binnen.

Kristin deus abscondibus

Bekanntlich sagt Jean zu Julie: „Das Pack ist immer feig! Und in dem Kampfe kann man nichts thun, als fliehen!“ Wenig, was dem hinzuzufügen wäre. Froken Julie ist eben nicht nur Beziehungs- sondern auch soziales Drama. Verantwortlich für das 2020 uraufgeführte Stück Fräulein Julie von August Strindberg zeichnet Torsten Fischer, der im Renaissance-Theater Berlin als Intendant fungiert. Das Stück ist Teil der Wanderbühne Konzertdirektion Landgraf, welches am Titisee im Schwarzwald beheimatet ist. Es wurde bei seiner einzigen Aufführung in Nienburg am 2.2. 2024 ohne Pause in etwas mehr als einer guten Stunde aufgeführt.

Foto Bernd Helmert: nächtliches Nienburger Stadttheater am Meerbach / an der Weser vor der Aufführung „Fräulein Julie“ 2.2.2024 Es verfügt über 600 Plätze mit steil ansteigenden Reihen (https://theater.nienburg.de/portal/seiten/theater-auf-dem-hornwerk-902000083-21501.htm)

Die wohl klassischste Adaption liefert ein schwedischer Sjöberg-Film von 1950. https://www.berlinale.de/de/2010/programm/20102065.html

Worum es in einem der meistgestückten Szenenstücke Deutschlands geht, ist rasch erzählt: die Frau scheitert im Versuch, sich als Mann zu etablieren und sich zu nehmen was ihr gefällt, strauchelt und wechselt in die alte Rolle des  unterwürfigen Weibes zurück. Der Mann, mal Macho, mal Bewunderer der Reichen und Schönen, vermag gleichfalls nicht zu reüssieren und bleibt wo er ist und was er ist: ein Diener. Man mag das Stück interpretieren als Identitätskrise, soziale Rebellion oder Fall einer traumatisierten Frau (Familienaufstellung). 1888 entstanden und privat uraufgeführt oszilliert das ursprüngliche Drei-Personen-Stück zwischen Symbolismus, Naturalismus und Expressionismus. Ausführlicher unter https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/fraeulein-julie/23765

Aus drei mach zwei: Die für das Stück nicht unwesentliche Rolle der Haushälterin, loyal zu ihren Herren und keine Freundin jeglicher sozialer Veränderung, wie sie eine emanzipatorische Bewegung mit sich bringt,  glänzte durch Abwesenheit. Dementsprechend reduziert fiel nicht nur die Personalkosten, sondern auch die Bühnenzeit aus. Ab und zu wurde mit ihr geredet, so als säße sie in einem unsichtbaren Zimmer hinter der Tür, aber ein Dialog fand natürlich nicht statt.

Das ist ein Verlust, der kompensiert sein will, denn Kristin ist nicht nur Stichwortgeberin, sondern durchaus Sprachrohr Strindbergs in ihrer moralischen Konsequenz und ihren Konservativismus Ansprüche, die angesichts der Krisen der Moderne  in heutigen Zeiten (v.a. in Osteuropa) zu einer Rückbesinnung auf Werte geführt haben. Die ewig Gestrigen sind mitunter die Herren/Herrinnen von Heute.

Foto Bernd Oei: abendliches altes Rathaus zu Nienburg: zweigeschossige Spätgotik 16. Jh. – https://de.wikipedia.org/wiki/Rathaus_(Nienburg/Weser). Julie vertraut Jean an: „Ich sitze auf einer hohen Säule und sehe keine Möglichkeit herunterzukommen; mir schwindelt, wenn ich hinuntersehe, und doch muß ich hinunter, aber ich habe nicht den Mut mich hinabzustürzen; ich kann mich nicht festhalten und ich sehne mich darnach zu fallen; aber ich falle nicht. Und doch habe ich keine Ruhe, bevor ich unten bin, keinen Frieden, bevor ich auf der Erde angelangt bin. Und komme ich auf die Erde hinunter, so will ich hinunter in die Erde.“

O Domina quo vadis ?

Keine Reitstiefel, dafür eine imposante Peitsche. Auftritt Julies zunächst als Balletttänzerin mit Augenbinde, das an venezianischen Karneval und  Tschaikowskis schwarzen Schwan erinnerte. https://www.youtube.com/watch?v=ZIMbe3xIqYE

Es wurde deutlich: am Anfang ist sie die Domina im Ring, zu der man aufschaut. Dafür sorgte das auf Vertikalität abgestimmte Bühnenbild , oben die Aristokratie, unten die Dienerschaft, zumindest anfänglich. Die von Strindberg in vielen Gleichnissen und Träumen  Fallsucht Julies fand daher nicht vom Baum, sondern der Rampe. Invers gestaltete sich der versuchte Aufstieg des skrupellosen Dieners mehr oder minder durch Klimmzüge an der Steilwand. Zwischendrin wälzte man sich am Boden statt, denn, wie Strindberg feststellt, sexuelle Neigungen kümmern sich nicht um soziale Rollen. Danach tritt Julie im goldenen Glitzerkleid auf; Jean entkleidet sich bis auf sein Unterhemd.

Auf Augenhöhe begegnen sich die beiden Rollen selten: zunächst thront Julie über allem, dann erscheint sie weinerlich, unterwürfig und sieht sich auf dem Boden der Tatsachen hin- und hergeschleudert. Bei so viel Dynamik gerät der Text zur Atempause. Das Herren- gerät zunehmend zuim Tollhaus.

Foto Bernd Oei: abendliches Fachwerkhaus In Nienburg, die Vinothek Leo, Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße 30.

Genie, Regie – man weiß es nie

Die Regiearbeit hielt sich angenehm zurück und damit auch meist an den Text, von Dosenbier und Sch…. Fäkalausdrücken abgesehen. Jedoch wurden aus unerfindlichen Gründen auch Schlüsselpassagen gestrichen, etwa die Aussage des Dieners: „Vielleicht bestehen doch kein so große Unterschiede zwischen Mensch und Mensch.“ Weshalb Fräulein Julie nicht selbst Hand anlegt, sondern der Schlussakt theatralisch Jean überlassen wird, der zudem mit einer Pistole auf Julie vor deren Abgang  zielt (keine Rede von einem Rasiermesser) bleibt das Geheimnis der Regie.

Der Vogel saß nicht im Käfig, sondern wurde per Schattenhandspiel angedeutet und endete als Blutfleck durch Wein-Spritzer an der makellosen weißen Wand. Julie, ein Käfig im goldenen Käfig. Eine Romantikerin wider Willen bei der Züchtigung des Mannes, den sie doch heimlich begehrt.

Vergleichbare Stücke in diesem Evergreen des Geschlechterkampfes um Oberhoheit liefert das Badische Staatstheater in Karlsruhe, wo Strindberg selbst in einer Nebenrolle auftritt, um keine Zweifel an der Deutung und Aktualität seines Stückes aufkommen zu lassen: https://nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/baden-wuerttemberg/karlsruhe/badisches-staatstheater/fraeulein-julie-badisches-staatstheater-karlsruhe-charlotte-engelkes-laesst-august-strindberg-im-geschlechterkrieg-selbst-auftreten

Die schauspielerische Darbietung überzeugte; besonders das Pariser Multitalent Dominique Horwitz (Jahrgang 57) wusste in seiner melancholisch-dominant angelegten Rolle als intriganter Charmeur zu gefallen. Die Münchnerin Judith Rosmair  (67) bringt zwar viel Bühnenerfahrung mit, ist aber primär Tänzerin und das merkt man bei ihren Bewegungsabläufen oder mimischen Einlagen.

Foto Belinda Helmert: Binner Wald, tanzende Bäume. Ein symbolischer Dialog, in dem Jean auf Julies Traum zu fallen, antwortet: „Ich pflege zu träumen, ich läge unter einem hohen Baum in einem düstern Walde. Ich will hinauf, hinauf zum Wipfel, und mich in der lichten Landschaft umsehen, wo die Sonne scheint, und das Vogelnest dort oben plündern, in dem die Goldeier liegen. Und ich klettere und klettere, aber der Stamm ist so dick und so glatt, und es ist so weit bis zum ersten Zweig. Aber ich weiß, wenn ich nur den ersten Zweig erreichte, könnte ich zum Wipfel, wie auf einer Leiter, emporsteigen. Noch habe ich ihn nicht erreicht, aber ich muß ihn erreichen, und wäre es auch nur im Traum!“

Vergiss die Peitsche nicht

Eine Mini-Einführung über das facettenreiche Werk von Strindberg (1849-1912) nach dem ein Rinderrücken-Steak benannt ist, liefert https://www.youtube.com/watch?v=bPnYaGB96FQ

„Fröken Julie“ koinzidiert mit Strindbergs intensiver Nietzsche-Lektüre (man denke an seine peitschenschwingende Lou Salomé) inklusive Briefkontakt. Die beiden wollten ihre Werke sogar gegenseitig übersetzen, so sehr schätzten sie sich. Zu einer Begegnung der beinahe Gleichaltrigen kam indes nie, auch weil Nietzsche bald darauf vor einer Droschke in Turin kollabierte.

Bekanntlich ist ein Werk stets mehr als der Autor. Zum einen, weil er nicht alles erkennen kann, was er darin verwebt, zum anderen, weil es stets im Auge des Betrachters, Lesers oder Theaterbesuchers liegt, was er daraus macht.  Strindbergs Vorwort verdeutlicht jedoch seine eigenen Ideen überaus deutlich. Um die Jahrhundertwende galt das Stück noch eindeutig als naturalistisch und Steilvorlage für Gerhard Hauptmann und Frank Wedekind.

https://www.gutenberg.org/files/22235/22235-h/22235-h.htm

Strindberg nimmt dort Stellung zur Frage, ob Julies gewiss suizidal-tragisches Ende einem ebenso tragischen Charakter zuzusprechen sei. Das Halbweib wie die femme fatale, hat es immer gegeben, die Strindberg sozialdarwinistisch nicht für überlebensfähig erachtete. Sie muss zugrunde gehen infolge ihrer Disharmonie mit der Wirklichkeit (und sei diese noch so beklagenswert). Sie ist modern und gleichzeitig eine zum Untergang bestimmte Décadente.

Foto Belinda Helmert: zerstörter Baum am Ufer überschwemmten Landes nahe der Binner Schlucht. Julie ist gefallen und stellt sich die Schuldfrage: „Ich habe ja kein Selbst! Ich habe nicht einen Gedanken, den ich nicht von meinem Vater, nicht eine Leidenschaft, die ich nicht von meiner Mutter bekommen hätte, und das Letzte — daß alle Menschen gleich seien — bekam ich von meinem Verlobten, den ich darum einen Schuft nenne!“

Wahrheit als Grundlage für  Fiktion

Strindberg hat sich sowohl an die eigene Erfahrung (Kindheit, Sohn einer Magd) und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (soziale Verkrustung), als auch an reale Vorkommnisse gehalten. Wie Dostojewski nutzt er die innere Dimension, die psychische Tiefe, für seine Fantasien aus. Daher gestaltet sich der Kampf um Dominanz zugleich archetypisch – konkret als auch traurig-prädeterminiert.  Die Stimmung sollte ebenso wenig wie der Zufall verkannt werden, denn Gelegenheit erzeugt nicht zur Diebe, sondern auch Triebe.

Auch die Frage nach dem Übergang, Auf- und Abstieg, Glück und Tragik, das gelegentlich als Frage nach Täter und Opfer oder Jäger und Gejagte aufwirft, erkennt Strindberg nicht als beklagenswert an. Vielmehr spiegelt Julies Gang zum blutigen Ende als konsequentes Naturschauspiel an:

Folglich schreibt Strindberg von Fetzen und Klumpen der Zeit, die er mosaikartig zu einer Collage verbindet. Angefangen von Zeitungsberichten, die er zur Inspiration seiner insgesamt 60 Dramen benutzt bis hin zu der Einbettung wissenschaftlicher Theorien, etwa die Haeckels, führt er uns brachial vor Augen, wofür wir „Zivilisierte“ nur allzu gern die Augen verschließen.

Stimmen der Anderen

Der aktuellste Podcast (14 minütig) stammt vom WDR und Januar 2024. Er trägt den provokanten Titel „wandelbar und widersprüchlich“ und ist nur teilweise der Alliteration geschuldet. Er geht vom Geschlechterkampf und eigenen leidvollen Ehe – Erfahrungen aus, seinem masochistischem Selbstbild (Leiden als Feuer). Mann und Frau erschienen ihm als inkommensurable Größen und der Mann schien ihm von Natur aus höhergestellt als das Weib. Eine wachsende Emanzipation blieb  ihm von Anfang bis Ende höchst suspekt. Ansonsten herrschen nur Oppositionen, Antagonismen: Angesprochen werden auch die Widersprüche zwischen Sozialismus und Mystik oder Religion und Industrie und ihren Missständen)  in seiner Seele, oben und unten (Herr und Diener, Freund und Feind)

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/zeitzeichen/audio-wandelbar-und-widerspruechlich-der-dramatiker-august-strindberg-100.html

Alles strebt nach Macht, so bleibt am Ende nur Wahrheits-Fanatismus und ungeschminkte Beschreibung dessen, was sinnlich greifbar ist und nicht geleugnet oder verdrängt werden darf. Populäre historische Beschreibung, Vulgärwissenschaft auf der einen Seite, Ehrgeiz, die Gesellschaft zu sprengen (man Denke an Nietzsche: Ich bin Dynamit) auf der anderen Seite brachten eine radikale Veränderung der Theater-Formen auf den Weg.

In dem 2008 aufgenommenen Podcast des BR  (4 minütig) steht „Fräulein Julie“ im Fokus. Ob Ekel nach der Lust und Trug zur Stimulanz der Lust unausweichlich sind? Ob die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit automatisch in den Abgrund führen muss? Der Körper und seine Begierden halten sich nicht an soziale Barrieren. Die Ausdrucksformen der Epoche werden gesprengt. Alles steht in Frage. Soziale Geborgenheit: Fehlanzeige. Hybridkonstruktion in der Seele noch vor jeglicher Trans-Diskussion. Opfer des Irrglaubens an der Natur rütteln zu können. Unnütztes Streben, das zum Scheitern führen muss. Defätismus am Ende. Alchemie der Weltanschauungen.

https://www.br.de/mediathek/podcast/das-kalenderblatt/strindberg-schwedische-literatur-naturalismus-fraeulein-julie/49930

Foto Belinda Helmert: Eisschollen nach Hochwasser im Graben nahe der Binner Schlucht.

Eigene Stimme

August Strindberg bildet neben Kierkegaard und Ibsen (welchen er bekämpfte) das literarische Gesicht des Nordens, insbesondere Skandinaviens des 19. Jahrhunderts auf der Schwelle in die Moderne. Zweifellos hinkte Schweden seiner Zeit damals  noch hinterher; z.B. gab es so gut wie keine Industrie nahe den Schereninseln Stockholms. Strindbergs gesellschaftskritischen Dramen, dazu in innovativer Form (lose Szenen anstelle von Akten, wenige handelnde Personen), gehören zu den meistgespielten in Europa. Dabei rück: sie sind zeitlos. Vordergründig rücken der Geschlechterkampf und das Ringen um Aufbrechen starrer konventioneller Muster, sowie der Aufbruch ins Neue und Ungewisse stets in den Vordergrund.

In „Fräulein Julie“ zerbricht eine junge Aristokratin an der Willensfrage und Rollenfindung auf ihrem Weg auszubrechen und  ihre  gestaltete Zukunft selbst zu gestalten. Der Geschlechterkampf nimmt hier das Drama einer langjährigen Ehe in „Der Totentanz“ voraus. Er stellt natürlich die Frage nach der Vereinbarkeit von männlichen und weiblichen Willen, zugleich den der sozialen Gleichstellung und den Ausweg aus einer Identitätskrise (einer übergestülpten Funktion). Dabei scheitern beide Willensformen auf ihre eigene Weise, weil sich sowohl Mann als auch Frau nach dem sehnen, was sie eigentlich verachten sollten. In der Erzählung „Der Steinmann“ obsiegt gegenteilig der zum Stein gewordene Wille eines lebenslang inhaftierten Sträflings gegen die ihn zermürbende Arbeit im Steinbruch. Der Roman „Das rote Zimmer“, autobiografisch gefärbt, liefert eine Chronologie des Umbruchs in der schwedischen Gesellschaft.

Foto Belinda Helmert: Gefallene Weide am Liebenauer Wehr, Große Aue nach der „Flut“.

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