Von Immoralisten lernen

Foto Bernd Oei: Colmar im Mai 2018. Üppige Vegetation am Ufer der Lauch, einem in Colmar mündenden Nebenfluss des Rheins.

Immoralismus (der bekannteste Vertreter ist wohl Nietzsche) waren französische Frühaufklärer (Malebranche, la Rochefoucauld, Chamfort, Montaigne) und Aphoristiker, die nicht mit Amoralisten zu verwechseln sind. Sie lehrten eine eigene, von den Konventionen abweichende oder zumindest kritisch reflektierte Moral, die man verkürzt auf die Formel „mit dem Herzen denken“ pointiert. Das dreisprachige Colmar (elässischer Dialekt ist weder von Franzosen noch von Deutschen zu verstehen) wurde Schauplatz mehrerer Immoralisten-Aufenthalte, darunter auch Voltaire und Schweitzer.

»Verzicht auf Denken ist geistige Bankrotterklärung.«

Das Zitat stammt von Albert Schweitzer. Der Arzt, Theologe, Organist und pazifistische Philosoph wurde in Kayserverg vor den Toren Colmars geboren (1875) und wählte nach langem Afika-Aufenthalt nach Günsbach, ein weiterer Vorort am Hochrhein ander elsässischen Weinstraße gelegen in seine Heimat zurück. https://www.wikinger-reisen.de/wanderreisen/frankreich/7734.php?psafe_param=1&gad_source=5&gclid=EAIaIQobChMI-u2kxI_lhAMVrFyRBR27vQxcEAAYAiAAEgLAbPD_BwE. Anlässlich meiner Rheintour Mai 2018 passierte ich die 170 km lange Strecke der Route des Vins d’Alsace am Fuß der Vogesen. Weißwein dominiert, darunter der Riesling mit 23% der Rebflächen vor dem Pinot Blanc (Weißer Burgunder) und dem Gewürztraminer in vergleichbaren Margen. Schweizers Lebensmott galt der Ehrfurcht vor dem Leben. Er lehrte mit dem Herzen zu denken (eine völlig vergessene Tugend) und wiederholte oft den Satz: »Wenn mehr Denken unter den Menschen sein wird, wird auch mehr Liebe in der Welt sein.« Leben erhalten, darum ging es dem Nobelpreisträger, nicht rücksichtslos niedertreten, wie es heute oft und gerne geschieht.

Er bemerkt: »Mit drei Gegnern hat sich die Ethik auseinanderzusetzen: mit der Gedankenlosigkeit, mit der egoistischen Selbstbehauptung und mit der Gesellschaft.« Was bliebe dem noch hinzuzufügen? Vielleicht dieses: In der Hoffnung den Mond zu erreichen, zertritt er die Blumen unter seinen Füßen.

Foto Bernd Oei: Elsässer Weinstraße, Rappolsweiler nördlich von Colmar, rund 70 km sündlich von Strassburg und 50 km nordöstlich von Freiburg entfernt.

Wenn es Gott nicht gibt, müsste man ihn erfinden

Voltaire weilte nur ein Jahr, 1753, in der Stadt, genau genommen 13 Monate. Seinerzeit zählte der Ort Colmar 13 000 Einwohner. Im 18. Jahrhundert war Paris mit über einer halben Million Bewohnern nach London noch die zweitgrößte Stadt Europas und Venedig gehörte noch zu den Top 10. Voltaire ging auf sein 60. Lebensjahr zu, als Staatskritiker lebte er im Exil, vordem in Lothringen (Lunéville), hernach folgte er dem Ruf des preußischen Königs nach Potsdam, Sans Souci. Als er sich mit dem alten Fritz gleichfalls überwarf, kam ihm das beschauliche Colmar gerade recht.

Er arbeitete noch an seinem Geschichtswerk Ludwig XIV, dessen Absolutismus er bekämpfte. Diese langwierige Arbeit unterbrach er immer wieder, etwa zugunsten der Fabel-Erzählung Micromégas, einer Dystopie inklusive Religionskritik und nebenbei einem Seitenhieb auf seinen Kollegen, dem Frühaufklärer Fontenelle. Dieser gab mit Pierre Bayle ein erstes Lexikon heraus, das Voltaire zu übertreffen bestrebt war. Trotz aller Kritik verstanden sich die alten Herren gut und Fontenelle besuchte Voltaire in seiner Colmarer Wohnung nahe der Rue de Marchands. https://www.tourisme-colmar.com/de/entdecken/geschichte-kulturerbe/colmar-architektonisches-kulturerbe/F235008786_das-haus-in-dem-voltaire-wohnte-colmar

Foto Bernd Oei: Colmar, heute etwa 67 000 Einwohner zählend, liegt zwischenden Vogesen und dem Rhein. Auf meiner Rhein-Radtour 2018 passierte ich nach dem Mosel Abstecher von Epinal her kommend die schmucke Stadt im Herzen des Elsass.

Das berühmte Zitat, eines seiner zahlreichen Bonmots, erschien erst 1763, also rund zehn Jahre später; in ähnlicher Form taucht es in seiner Satire Candide bereits 1759 auf. Das Buch mit dem Untertitel „Die beste aller Welten“ ist eine Abrechnung mit dem Optimisten Leibniz, seinem deutschen Gegenspieler, der allerdings längst verblichen war und keinen Anstoß mehr an diesem Werk zu nehmen vermochte. Daraus entnommen ist das Bonmot: »Arbeiten wir, ohne zu philosophieren«, sagte Martin, »denn das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen.« (30. Kapitel)

Foto Bernd Oei: colmar, Markthalle, Marché couvert an der rue des écoles. Erbaut 1865 am 47 km langen linksrheinischen Nebenfluss Lauch.

Voltaires dritter Band seines „Abriss der Weltgeschichte“ wurde nicht nur in Colmar vollendet, sondern auch vom Verleger Schöpflin veröffentlicht. Selbiger Verleger publizierte auch „Annalen des Reiches seit Karl dem Großen“. Im selben Jahr verfasste er auch die Tragödie „Das gerettete Rom“, obschon es in einer früheren Fassung bereits 1752 uraufgeführt wurde. Zitat: „Mag das Leben auch einem Schiffbruch gleichen, so dürfen wir nicht vergessen, dabei im Rettungsboot zu singen.“ (Candide, 5. KAPITEL)

Foto Bernd Oei: Colmar, Kanal und Altstadt, Pétite Venise 1 (Klein Venedig): https://www.urlaubsguru.de/reisemagazin/colmar-im-elsass/

Voltaire hielt Gott für eine notwendige Erfindung, die einzige Ordnung, die Ordnung zu schaffen und die menschliche Gier zu bremsen weiß. Er reiht sich damit ein in die Tradition jener Denker, die glaubten, aber Religion kritsierten, präziser: Gottes selbsterklärte Stellvertreter auf Erden. Dabei schuf er einen Desimus mit Sinnbildern, etwa den Naturgesetzen: Ein Apfel fällt nie zum Himmel, sondern immer zum Erdmittelpunkt. Seine „Philosophischen Briefe“ enthalten Religionskritik bezüglich der Theodizee und der Ablehnung der Trinitätslehre. Dabei spart er nicht mit Polemik gegen den Missionseifer, der mit grausamen Tötungen und Folterungen sowie Kolonialismus samt Völkermord einhergeht. Dies ist auch Gegenstand seiner Tragödie „Alzire oder die Amerikaner“. Auch der Islam wird als fanatisch abgeleht, so in der Tragödie „Mohammed oder der Fanatismus“. In vielen Aspekten ist er ein Geistesbruder von Lessing.

Foto Bernd Oei: Colmar, Pétite Venise 2 https://www.tourisme-colmar.com/de/entdecken/geschichte-kulturerbe/colmar-architektonisches-kulturerbe/F235008803_klein-venedig-colmar?id_fiche=44000006

Flucht vor mittelmäßigen Geistern

La Rochefoucauld (1613-80) zält ebenso zu den führenden Moralisten, die man Frühaufklärer oder eben Immoralisten nennen kann, wie Montaigne, Vauvernargues, Pascal oder Camfort, um nur einige zu nennen, die hauptsächlich in Aphorismen schrieben. Sie analysierten menschliches Verhalten, brachten es oft in Vergleich zu Tieren und häufig in Bezug zur Moral, die nicht klar von einem eigenen ethischen Standpunkt getrennt ist. Das schriftstellerische Leben begannen die Aristokraten nach ihrem militärischen Dienst; im Fall La Rochefouccaulds an 1658. Rund ein Jahrhundert vorVoltaire reiste er durch Colmar, wo er einige Tage verblieb. Aus seinen Réflexions ou Sentences et maximes morales ist folgender Aphorismus entlehnt: „Mittelmäßige Geister verurteilen gewöhnlich alles, was über ihren Horizont geht.“ Ergänzend: Mittelmäßigkeit zeigt sich darin, das eigene geistige Eigentum für

Foto Bernd Oei: Colmar, Pétite Venise 3 https://www.erlebe-elsass.de/colmar/klein-venedig/#google_vignette. Die Stadt wurde im 13. Jahrhundert gegründet. Der lateinische Name erinnert an die Taube colmaria (Taubenschlag). Erst unter Ludwig XIV kam die Stadt unter französische Fittiche.

La Rochefoucauld geizte nicht mit Paradoxa, dem Elexier jedes Aphoristen. Eines davon lautet: „Meister der Beredsamkeit ist der, der alles Nötige sagt und nur dies.“ Ein etwas Längeres heißt paraphrasiert: Der Augenblick versteht nur, womit er mit der Vergangenheit verknüpft ist. Aber die Vergangenheit belehrt uns ausschließlich darüber, was wir in der Gegenwart hätten tun sollen, also über die Zukunft. Im Original:

„Le présent ne se comprend que relié au passé. Mais le passé ne nous dit rien de ce que nous devons faire du présent, c’est à dire de l’avenir.“

Er schreibt auch, Fehler zu begehen sei ein verzeihlicheres Laster als sie zu vertuschen. Man denke dabei an unsere augenblickliche Lage bzw. Regierung.

Foto Bernd Oei: Colmar, Pétite Venise 4

Ursprünglich stammt das aristokratische Geschlecht Rochefoucauld aus der heutigen Nouvell Aquitaine am Fluss Tardoire nahe der Stadt Angoulême, ca. 1,5 h Autofahrt von Bordeaux entfernt. Das Schloss seiner Ahnen hat noch Bestand. In seinem Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ beklagt Nietzsche, dass die Sentenzen La Rochefoucauld’s in Europa nicht genügend Resonanz fänden und erfindet dafür den Neologismus „Sentenzen-Schleiferei“. Beide sind der Auffassung, dass kein Handeln ohne eigenes Interesse möglich ist, was in ihren Werken deutlich zum Ausdruck kommt. Wie bei allen seinen immoralistischen Vorgängern geht ihm dieser nicht weit genug.

Foto Bernd Oei: Pétite Venise, 5.

Misstraue der Masse

Ein Zeitgenosse Voltaires war Nicolas Chamfort (1741-94), der an den Folgen der Revolution starb, da er als Girondist das Nachsehen gegenüber den radikaleren Jakobinern um Robespierre hatte. Er stammte aus der Auvergne, kam jedoch während der Revolutionsjahre nach Comar. Die Stiftskirche St. Martin wurde zu dieser Zeit zum Münster befördert. 1792 schreibt er nach Besichtigung der Stadt: „Colmar wäre ein entzückender Aufenthaltsort für einen Philosophen.“ Büchners Leitmotiv im Hessischen Landboten „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ zeigt sich inspiriert von den Chamfort zugeschriebenem Bonmot „guerre aux châteaux, paix aux chaumières„.

Mein Lieblingszitat aus seiner Feder lautet: „Es gibt Zeiten, wo die öffentliche Meinung die schlechteste aller Meinungen ist.“

Foto Bernd Oei: Colmar, Innenstadt 1

Dass Chamfort, den Nietzsche gleichfalls lobend erwähnt, ein Vertreter der Geistesaristokatie war, versteht sich von selbst. Er hielt es für leichter, sich an schlechtes Wetter als an die Ungerechtigkeit der Menschen zu gewöhnen. Ein weiterer Schatz der Weisheit m Sinn zivilen Ungehorsams aus „Maximes et Pensées“ lautet: Die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit. Nur verschweigt er, wogegen man sich empören muss: dann wäre es Kalenderkalauer. Die Gesellschaft hielt er für eine Fehlentwicklung der Natur (sa décomposition et sa refonte).

Man kann nicht sein und zugleich gewesen sein, folglich kann das Leben nur gelebt, der Gedanke nur gedacht werden. In der „fröhlichen Wissenschaft“ schreibt Nietzsche (Aphorismus 95) Chamfort sei ein Kenner der Menschen und der Menge. Er zitiert dabei die überlieferten Worte vor seiem Suizid: „Ah! mon ami, sagte er zu Sieyès, je m’en vais enfin de ce monde, où il faut que le cœur se brise ou se bronze — “. Von mir übersetzt: Ich verlasse jetzt endlich diese Welt, wo das herz entweder (zer)brechen oder sich bräunen muss. Im Französischen sagt se couler sowohl etwas wie sonnenbaden als auch auf die Toilette gehen und sich entleeren. Was Chamfort angesichts der Entwicklung von der Revolution zu einem Terror-Staat wohl gemeint hat, liegt nahe.

Foto Bernd Oei: Colmar, Innenstadt 2

Menschen sterben als Betrüger

Wie Mirabeau, der Chamfort gewogen war, stammt auch Luc de Vauvernargues (1715-47) aus Aix en Provence. Sein Werk Réflexions et maximes entstand nach seinem krankheitsbedingten Rückzug aus dem Militär. Es blieben dem von Krankheit gezeichneten Aristokraten nur zwei Jahre für die Schriftstellerei. Nietzsches Vergleich des Philosophen moit einem (Seil)Tänzer ist ihm entlehnt. „Je ne saurais pas ce que l’esprit d’un philosophe pourrait désirer de meilleur que d’être un bon danseur.“

Nicht alles dürfte dem „Willen zur Macht“-Theoretiker an Vauvernargues gefallen haben. So sein Credo: „Milde ist besser als Gerechtigkeit.“ Vauvernargues las Voltaire und äußerte sich auch sarkastisch gegen seinen berühmteren Zeitgenossen, v.a. in „„Einführung in die Erkenntnisse des menschlichen Geistes“, seiner zweiten Schrift. Man weiß, dass Voltaire dieser geistreiche „Feind“ lieber war als mancher Freund und er ihn eher motivierte.

Auf meinere Reise durch das Lubéron, beginnend in Aix en provence, passierte ich das von Picasso erworbene und von 1959 bis 1961bewohnte Schloss Vauvernargues am Rande des von Cézanne unendliche Male portraitierten Mont Saint Victoire. Die Inschrift des Schlosses lautet: Alle Menschen werden aufrichtig geboren und sterben als Betrüger.

Foto Bernd Oei: Colmar, Innenstadt 3., V (Collège Saint Martin), bedeutendsten gotisches Sakralbauwerk im Elsass (Haut Rhin) aus dem 13. Jahrhundert.

Chamfort weilte 1746 in Colmar. Er war ein gläubiger Mensch und besuchte die römisch-katholische Martinskirche sicherlich. Er bezeichnete Aphorismen als Glaubensbekenntnisse und Einfälle der Philosophen. Von Politikern erwartete er vor allem Menschenkenntnis. Auch wusste er, dass bei einem Konflik selten ein Alleinschuldiger zu finden ist. Auch dies sollte der aktiuellen Regierung zu denken geben (und nicht nur ihr).

Foto Bernd Oei: Colmar, Innenstadt 2, La maison Pfister,errichtet 1537 unter Eigentümer Scherer, ein Hutmacher und Silberminenbesitzer in der rue de marchands (Kaufmannsstraße)

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