Das kantige Joghurt

Foto Belinda Helmert: Biene in den Kirschblüten auf dem Acker zwischen Steyerverg und Wellie, Kreis Nienburg. Einstein sagte: „Wenn die Bienen verschwinden, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben; keine Bienen mehr, keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen mehr.“ Kant, vor 300 Jahren geboren, schrieb: „Der Mensch war nicht bestimmt, wie das Hausvieh, zu einer Herde, sondern, wie die Biene, zu einem Stock zu gehören.“ (Anthropologie, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, zweites Buch, A 330/B 328)

Das kantige Joghurt

Königsberger Klöpse. Daneben stand ein kantiger Jogurt. Ein Jogurt im kantigen Becher. Stabiler so, sagt man. Das war alles, was er im Kühlschrank vorfand. Er musste den Aufsatz noch schreiben. Rechtfertigt ein guter Zweck alle Mittel. Er saß am Küchentisch, eine ganze Weile schon. An Ruhe war nicht zu denken. Sein kleiner Bruder tobte. Der konnte laut werden, ganz schön laut. An der Kühlschranktür war ein Zettel angeklebt, rosa. Mit blauem Kugelschreiber stand darauf geschrieben, was er einkaufen sollte, damit der Vater was Gutes hatte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Er hatte seinem kleinen Bruder etwas zu Spielen gegeben, doch das half nicht lange. Der brauchte ständig etwas Neues.

Nicht alle Mittel sind rechtens, schrieb er. Der Kleine nervte jetzt wirklich. Zog an seinem Bein, pinkelte sich ein. Machte Krach für zwei. Gedanklich hatte er ihn schon erwürgt, erschlagen und ersäuft. Gedankensünden. Angemessenheit der Mittel sah anders aus. Nicht einmal schlagen durfte er ihn. Schließlich stand sein Bruder noch auf einer Stufe mit einem Hund, oder wenigstens einem Schimpansen. Schlagen durfte man nie. Obschon den dicken Klaus ein Schlag  gut getan hätte. Doch mit Gewalt Frieden stiften, das ging nicht. Paradox nannte man das, wenn man einen Pazifisten gewaltsam gefügig machte. Ob aus seinem kleinen Bruder einmal ein Pazifist werden würde, ganz freiwillig, wenn er die in ihm tobende Willkür besiegt haben würde? Er sah auf das Nesthäkchen herab. Jetzt lächelte es sogar, ganz so, als ob es Gedanken lesen könnte.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, dachte er. Doch er schrieb es nicht auf. Die Frage, ob sein kleiner Bruder schon eine Würde besaß, beschäftigte ihn. Ein mündiger Bürger war er noch nicht, auch denken konnte der noch nicht so wie er. Ab wann beginnt der Mensch eine Persönlichkeit zu sein? Als Fötus im Bauch doch wohl nicht. Aber dann, wenn die Persönlichkeit noch fehlte, wo blieb dann die Würde und damit das Grundrecht zu sein? Er musste an die Abtreibungsdebatten denken. § 218: Nur eine Zahl, aber eine mit Gewicht.  Mit ihr untrennbar verbunden das Recht auf Leben. Ja oder Nein. Kategorisch und nicht hypothetisch zu beantworten. Wie oft wurde Würde angetastet im realen Leben. Er schielte nach dem Joghurt.

Foto Belinda Helmert: Kirche in Wellie, Eingang. https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/kapelle-wellie-1/

Alle Menschen streben nach Glückseligkeit, schrieb er. Doch jeder versteht etwas anderes darunter. Minka, die Katze meldete sich miauend. Er nahm das Joghurt aus dem Kühlschrank. Weiß war der Becher. Pflichten wussten Katzen nichts. Rechtlich blieben Tiere Sachen, die jemand gehören mussten. Menschen hingegen gehörten einzig sich selbst. Eine komplizierte Angelegenheit war das, mit dem wollen. Handle so, dass du wollen kannst, dass all deine Handlungen jederzeit und allerorten Gesetzgebung werden könne. So hat es der Philosoph aus Königsberg formuliert.

Das schien einfach, auf den ersten Blick. So als ob man nur das tun solle, was man selber wolle oder eben einem als richtig, gut und angemessen erschien. Doch der eine mochte Katzen, der andere nicht. Der eine hielt Gewalt für eine Lösung, besonders gegen die Bösen dieser Welt. Der andere eben nicht. Sein kleiner Bruder hielt Minka am Schwanz gepackt. Er fand das lustig. So musste Thore dazwischen gehen. Ein neutraler Schiedsrichter, das kann schwer sein. Viel schwerer als bei einem Fußballspiel. Am Ende muss vielleicht Gott dafür herhalten.

Die Moral muss Prinzipien folgen. Inneren, fügte er rasch hinzu. Er hielt inne, weil es so leise war, als ob Schnee weinen würde. Thore ging nach seiner Mutter sehen. Die Treppe nach oben, dann vorsichtig die Klinke drücken. Er sah die Krücke, dann den Tisch, an dem sie lehnte. Auf dem Tisch ein Glas Wasser, halb leer. Oder halb voll, wie man auch hätte sagen können. Die Tabletten, viele Tabletten. Die Mutter stöhnte, das war alles. Er ging wieder nach unten. Wann fangen die Schmerzen an, würdelos zu werden, fragte er sich.

Innere Prinzipien, die das Sollen wollen. So wie man sich selbst ein Rezept verschreibt. Er schrieb: Moral muss von innen her kommen, also mit dem Herzen denken. Andererseits, wenn jeder mit seinem Gehirn fühlt oder ins Herz hineinhorcht, kann das auch nicht gehen. Thore blickte auf den Joghurt. Vier Kanten, das verhalf dem Becher zur Festigkeit. Vier Kategorien. Qualität, also wie es drinnen aussieht und schmeckt. Quantität, also ein Becher oder zwei. Modalität: gab es das Joghurt wirklich oder nur in seiner Einbildungskraft, der Möglichkeit nach. Relation, das hieß auch Begründung: mochte man Joghurts, weil sie gut schmeckten?

Kluge Menschen haben gemeint – und meinen immer noch ­ – Dinge oder Handlungen in nützlich und damit auch glückseligkeitsbringende und unnütz, der Glückseligkeit abkömmlich, einteilen zu können. Das Problem zu lösen, wenn man Joghurts herstellt, die möglichst vielen schmecken, möglichst wenig kosten, der Umwelt kaum schaden etwa. Was wird aus der vermeintlichen Minderheit, die keine Joghurts mögen? Ein unschönes Geräusch riss Thore aus seinen Überlegungen. Die Katze war auf den Tisch gesprungen. Der Becher lag am Boden.

Foto Belinda Helmert: Kapelle in Wellie, Seitenansicht. (https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/wellie/)

So einfach war das also. Man holt sich das, was man braucht oder will. Tiere kennen nur Willkür, so wie die Kinder auch. Auch viele Erwachsene handeln nach solchen Prinzipien: ich kann, weil ich es will oder ich will, weil ich es kann. Andere müssen dann die Ordnung wieder herstellen. Die Vernünftigen sollen dann aufräumen. Thore sah zu, wie Minka das Joghurt aufnahm mit ihrer langen rosa Zunge. Der kleine Bruder klatschte in die Hände, dann griff er auch in den weißen Brei.

Was ist ein mündiger Bürger? Er holte einen Lappen aus dem Bad. Musste er seinen Bruder, musste er Minka darüber aufklären, dass man Joghurt nicht auf dem Boden liegen lassen durfte? Ihre mangelnde Mündigkeit war selbstverschuldet durch das Unvermögen ihres Verstandes. Thore wischte den klebrigen Rest vom traurigen Boden. Dann hörte er das Poltern über ihm. Die Mutter war aufgewacht. Bald darauf ein Weinen. Er hastete nach oben. War sie gestürzt?

Beim Versuch, sich das Wasser an den Tisch zu ziehen, war das Glas ihr entglitten und lag nun auf dem Boden, wie das Joghurt ein Stockwerk darunter. Das Glas war rund, die Rundheit hatte ihm nichts genützt. Hilflos rollte es auf dem Boden. Der Blick der Mutter war glasig. Ihre Augen murmelten mehr als Worte. Sie wollte nicht mehr. Er konnte es fühlen. Sie erwartete von ihm, ihren Großen, mehr als nur Pflege. Sie wünschte sich, dass er ihr wirklich helfen würde.

Foto Belinda Helmert: Turmspitze der Kapelle in Wellie https://dorfgemeinschaft-wellie.de/17kapelle.html

Ohnmacht ist ein schreckliches Gefühl. Thore, flüsterte die Mutter. Er nickte. Weil er verstand. Weil er ein vernunftbegabtes Wesen war. Der Verstand sagte: du darfst nicht töten. Dazu brauchte es nicht einmal Moral. Viele Menschen wissen, dass es Grenzen geben muss. Doch die Vernunft fragt weiter: Warum nicht? Wenn es doch von Qualen erlöst. Thore, kannst du nicht machen, dass das aufhört? Sie nannte den Schmerz nur noch das.

Thore blickte auf die Gehhilfe. Sah ihre Wunde dahinter. Die Ohnmacht der Leidenden. Seine eigene sah er aber auch. Schluckte die Wut herunter, damit sie die Angst in ihm begrub. Handle so, dass du wollen kannst …. Das Joghurt hat vier Seiten. Qualität des Lebens: gut oder schlecht. Quantität: du hast nur eines. Modalität: Gedankenspiel: alle würden es sich nehmen. Was wäre, wenn? Relation: Ist der Mensch zum Leben verdammt? Was, wenn er es nicht mehr will, aber nicht selbst beenden kann? Niemand hält es. Niemand hält das aus. Dazu brauchte selbst Kant einen Gott. Der sollte für ihn und alle Menschen entscheiden, wann es Zeit ist zu gehen. Was, wenn Gott nicht vernünftig ist und kein Joghurt mag?

Foto Belinda Helmert: Kapelle in Wellie von hinten https://www.kirchenkreis-nienburg.de/kirchengemeinden/liebenau

vor 300 Jahren wurde in Ostpreußen, heute Russland, Kaliningrad, einer der bedeutendsten Philosophen überhaupt geboren: Immanuel Kant. Seibn Denken veränderte oder bewegte zumindest die Welt. Was jedoch ist von seinen Ansprüchen geblieben? Würde, die nach seinen Grundsätzen unantastbar bleiben musste, und die im Grundgesetz als § 1 aufgeführt ist, wurde so oft missbraucht und nicht nur missachtet) ? Haben Philosophen überhaupt noch einen Platz in dieser angeblich christlich geprägten Welt? Der Zweck darf niemals die Mittel heiligen. Muss man ihn nicht totprügeln an der östlichen (einst Oder-Neiße) Grenze zwischen Russland und der Ukraine? Wie oft darf man noch ungestraft von gerechten Kriegen, die gewonnen werden müssen, reden?

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