Von der Schwierigkeit des Tanzens beim Gehen

Matisse, Der Tanz. 1909

Wenn Ausgewogenheit zum Problem gemacht wird

Replik auf Ben Zimmermann Weser Kurier 8.1.2022

Mit Kant: Gesinnung vor Erfolg

Dialog ist selten geworden in unserer Medienkultur. Ob jemand die Erde für eine Scheibe hält ist wohl ein Gleichnis für Coronamaßnahmen-Gegner, sofern sie Verschwörungsanhänger oder Schlimmeres sind, also im Volksmund sich rechts verirrt haben. Einschieben lässt sich: die Erde ist nicht nur rund, sondern tatsächlich sie bewegt sich in bemerkenswerter Konstanz. Wissenschaftler sollten daher ihr Wissen revidieren, überprüfen, miteinander disputieren, im Idealfall auch verständlich komplexe Sachverhalte nicht auf Monokausalität herunterbrechen.

Die Betonung liegt auf eigentlich, denn so verhält es sich nicht, so lange kaum jemand seinen eigenen Verstand gebraucht, um Eigenverantwortung zu tragen. Der gesunde Menschenverstand wird seit zwei Jahren sukzessiv und nicht einmal subtil entmündigt: entweder einer medialen Gehirnwäsche, Moralkampagne oder Hexenjagd unterzogen. False Balance nennt es der Autor und listet zahlreiche Beispiele auf, die im Grunde eines zeigen: Wissende muss man nicht mit unwissenden Querulanten in ein Boot setzen.

Foto Belinda Helmert, Gefangen im Netz -Coca Cola Streeet Art, Hemelingen 2021

Ärgerlich ist nur, dass diese Scheibe, die eigentlich eine Kugel ist, genannt Erde, nicht teilbar ist. Dass Wissenschaftler lange den Klimawandel mit „natürlich“ erklärten und Politiker an normal goutierten, was es heute nicht mehr ist. Alles bewegt sich, nur einige Vorurteile bleiben uns erhalten, wie in Betongold gegossen. Der Ziellose erleidet, der Zielbewusste gestaltet sein Schicksal – also habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Zu denken bedarf ein wenig Freiheit und Alternativen, einem Angebot aus Diskussion und Argumenten, deren Inhalte es sorgfältig abzuwägen gilt. Quasi eine imaginäre Schaukel der Vorstellungen.

Fragonard, Die Schaukel, 1767

Vergleich von Apfel und Birne

Ein Kniefall vor akademischen Institutionen wie dem RKI ist überflüssig. Pauschale Schelten gegen Politiker, die über Menschen, aber nicht mit ihnen reden und vor allem über ihre Köpfe hinweg handeln, wenn sie – metaphorisch wie sinnfällig – Bäume fällen ohne neue zu pflanzen, sind irreversibel wie die verursachten Schäden.

Naidoo und Drosten sind sehr verschieden und doch nehmen beide keinen Einfluss auf mein Denken. Höcke ist mir mehr als zuwider, das gilt aber auch für einen Söder, ohne dass sie in einer Ecke stünden. Habeck ist smarter, aber grün ist seine Partei nicht mehr, jedenfalls zeigt das ökologische Gewissen nicht nur in der „verstrahlten“ Atomdebatte ihr graues Gesicht, sondern vor allem der Umgang mit Humanität.

Wenn ein Berliner Bürgermeister nur mit einem Satz etwas für Gender bewegt, aber einen Flughafen fahrlässig an die Wand fährt, so belegt dies, dass jemand fähig und unfähig zugleich sein kann. Wissenschafts-feindlichkeit ist nicht mit Skepsis oder Esoterik gleichzusetzen, sie könnte auch auf kritisches Reflexionsvermögen basieren. Gerechtigkeit in ungerechten Zeiten fällt schwer.

Foto Belinda Helmert, Litfasäule mit coronabedingten abgesagten Veranstaltungen

Die entscheidende Frage spielt sich nicht zwischen besonders eifrigen Klimaschützern oder eifrigen Impf- und Booster-Lobbyisten und deren Gegnern ab, sondern, wie groß der gezogene Kreis der für seriös befundenen Diskutanten ist. Foucault spricht von Diskursregeln und Dispositiven, Ausschlussverfahren unerwünschter Stimmen, die man heute mit dem Etikett Querdenker diffamiert. Der Kreidekreis bringt fiktional Wahrheit ans Licht: der Gute wird belohnt, der Böse bestraft. Wirklich wird, was vernünftig ist. Man kann Wirklichkeit nicht leugnen, nur in Teilwirklichkeiten selektieren.

Impfung bedeutet nicht nur eine medizinische Wahl, die eine unbekannte Gefahr gegen das andere Risiko zu erkranken aufzurechnen, sondern verlangt nach einer politischen Haltung. Noch ist es die dem öffentlichen Druck ausgesetzte Wahl des Einzelnen, aber auch das soll einem Wort mit I und einem mit Pflicht bald weichen, wenn es nach unserem Kanzler geht, der sozial neu definiert nach Mehrheitsrecht und Plutokratie. Unsere Gesellschaft gleicht einem Stilleben, da sind auch Äpfel und Birnen dabei, reife und faule Früchte.

Foto Belinda Helmert: Obstmarkt auf dem Schllerplatz in Dresden unter dem blauen Wunder

Cézanne, Stilleben, 1879

Mit Kant: freiwillige Pflichten, nicht pflichtgemäßer Zwang

Kant spricht von freiwilligen Pflichten, um die Willkür über das Gewissen in solidarisches Handeln zu wandeln; sie inkludieren die Tugend des Verzichts auf Privilegien. Vorbilder in der ersten Reihe, also Freiwillige in den öffentlichen Medien, die sich ihren Fehleinschätzungen stellen und zurücktreten, sind selten. Wenn ich lese, Putin ist Autokrat, quasi eine Tautologie, fallen mir einige selbstherrliche westdeutsche Demokraten ein, die kein Griechisch können und daher Macht mit Herrschaft verwechseln und Volk mit (Wahl)Vieh. Marionettentheater, das in Apartheidpolitik mündet, die in political correctness 2 G heißt.

Ein logischer Fehler: false balance stellt in sich ein Oxymoron dar. Bei schwarzer Milch handelt es sich um Poesie – auf dem Marktplatz und in der Zeitung, einer Art medialer agora jedoch sollten Ross und Reiter klar benannt werden: Wofür stehe ich, wofür trage ich persönlich Verantwortung, wenn mich meine Enkel fragen, weshalb ich Unrecht zulasse, weil ich Recht behalten will. Kant zumindest fordert kategorisch, die Würde des Menschen und die Unantastbarkeit des Denkens zu schützen, das universale Gesetz der Rechte über gesetzliche Paragraphen zu stellen. Behörden-Willkür ist nicht mit Wegsehen zu beantworten.

Foto Belinda Helmert, Straßen wehren sich gegen Betongrau

Daher, um mit Wolfgang Borchert und der Trümerliteratur zu sprechen:

„Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie Dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“

Und auch mit Reinhard May zu schließen (seinem Lied Aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr: 1974): https://www.youtube.com/watch?v=gc42amlilS4

„Ich weiß nicht, was mich dazu bringt / Und welche Kraft mich einfach zwingt, / Was ich nicht sehen will, zu seh’n.“

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