Delacroix, Die Freiheit führt das Volk an, 1830
Replik auf den Artikel von Benjamin Lassiwe, Weser Kurier 7.1.2022
Weib, gib mir Deckel, Spieß und Mantel,
Der Dienst geht los, ich muß hinaus.
Noch einen Schluck … Adies Mariandel!
Ich hüt‘ die Stadt, hüt‘ du das Haus!
Nun schrei‘ ich wieder wie besessen,
Was sie nicht zu verstehen wagen
Und was sie alle Tag vergessen:
Uht! Hört, Ihr Herrn, und laßt Euch sagen!
Schnarcht ruhig fort in Euren Nestern
Und habt auf mein Gekreisch nicht acht!
Die Welt ist akkurat wie gestern,
Die Nacht so schwarz wie alle Nacht.
Auch welche Zeit, will Niemand wissen,
’s gibt keine Zeit in unsren Tagen,
Duckt Euch nur in die warmen Kissen,
Die Glocke die hat nichts geschlagen!
zitiert aus Franz Dingelstedt, Lieder eines kosmpolitischen Nachtwächters, 1841/42, Nachtwächters Stillleben
A propos Goethe
Sich auf Goethe zu beziehen, zeugt scheinbar von Bildung. Viel falsch kann man nicht machen, da er beliebt und sakral, quasi immun gegen jede Skepsis ist. Wenige nehmen zur Kenntnis, dass dieser Dichter Genies wie Kleist, Lenz und Hölderlin nicht gedeihen lies, weil sie in seinem Schatten stehen sollten, also ein literarischer Egomane war. Noch weniger erkennen, dass er als Bildungsminister Minister Fichte absetze, weil der scheinbaren Atheismus betrieb, den Goethe selbst im stillen Kämmerlein frönte. Oder dass er als Leiter der Kriegskommission Hinrichtungen an vergewaltigten Kindsmörderinnen forcierte und später noch als Finanzminister nur die Interessen des Adels verwaltete. Das Reale idealisieren war seine Passion. Wie er selbst einräumte, lies er lieber Werther sterben als selbst zu Tode zu leiden und rettete Gretchen zumindest ihr himmlisches Seelenheil, während den in ihrer Verzweiflung Selbstmord Verübenden kein Platz auf dem Friedhof zuteil wurde. Was will uns Goethes Beispiel sagen? Dass Wahrheiten nicht so einfach sind und das große Persönlichkeiten zerrissen sein können, alles ein Schwarz und Weiß der Zwischentöne bedarf.
Die lautstarke Minderheit
Das verwendete Attribut lapidar erscheint unpassend für die Montags-Spaziergänge und der Anschluss an Rechtsextremismus, wenn nicht obszön, so doch klischeehaft inadäquat. Eine Verwechslungsgefahr besteht mitnichten, da die Spaziergänger Kerzen tragen, ihr Gesicht zeigen, zu dem stehen, wofür sie schweigen als Gewissen, nicht länger wegzusehen, wenn ausgegrenzt und mit Füßen getreten wird. Die anderen sind vermummt, grölen, suchen keinen Dialog. Die lautstarke Minderheit kommt von links, nicht von rechts – augenblicklich und in Bremen, wo der politische Filz sich längst bis nach Donauerschingen herumgesprochen hat.
Ernsthafte Bedenken sind die Aufgabe und das Anliegen mündiger reflektierender und daher auch kritischer Bürger. Doch in der freien Hansestadt hat man an der seit dem Veto gegen den Neubau der Bremer Bürgerschaft praktizierten Tradition, diese Bürgerinitiativen regelmäßig ins Leere laufen zu lassen. Das Parlamentsgebäude wurde bekanntlich mit hochrangigen Architekturpreisen dekoriert, Volkes Wille ignoriert.
Ernsthafte Bedenken gegen eine Impfung sind falsch, daher soll sich der Bürger fernhalten von den Unterwanderern unter den Spaziergängern. Es könnte zwar sein, dass ein politisch Radikaler auch mal etwas richtig einschätzt, so wie Heidegger stellvertretend für so viele Intellektuellen in seiner politischen Wahl fehlte, doch selbst das ist sprachlich wie inhaltlich lapidar: Die so genannten Impfgegner sind gegen den Zwang, der nebenbei bemerkt undemokratisch, illegitim und sogar illegal ist. Die Spaziergänger sind für Fakten und Aufklärung, gegen Arroganz und Ignoranz, gegen Medien- oder Corona-Diktatur.
Bild Edvard Munk, Der Schrei, 1895
Selbstbestimmung statt Bevormundung – pro Reflexion contra Gehirnwäsche
Gewiss, Spaziergänger bilden eine Minderheit, doch Quantität war noch nie ein Garant für Recht und Recht haben wollen sie nicht, lediglich Unrecht verhindern. Wenn man mit ihnen statt über sie spricht, wie unlängst Silke Hellweg, wird einiges ihrer Positionen klarer. Sie sind keinesfalls Täter, sondern Opfer, die keine mehr sein wollen, sondern selbstbestimmte Wesen. So lange Selbstbestimmung, Autonomie und gesunden Menschenverstand als ansteckend oder gefährlich gelten, verdreht man Perspektiven und Risikoabwägung.
Teilweise Protest gegen etwas, das offenkundig keinen Sinn macht und Maßnahmen, die nicht korrigiert, sondern intensiviert werden. Teilweise eine Bekundung für Solidarität mit den Verlierern der Pandemie. Ein einfacher Blick genügt tatsächlich um das zu sehen. Es ist verständlich, dass in einer Wahl-Demokratie die Mehrheit und damit die Regierung eine grundsätzliche Akzeptanz erfährt, allerdings hört diese spätestens bei physischer Bedrohung auf. Mentale Hygiene tut Not: klare Argumente.
Freiwilliger Verzicht wird den Regelkonformen unterstellt, dabei sind es vornehmlich die Kritiker, die sich freiwillig ihrer möglichen Privilegien enthalten. Man könnte sich anpassen, das wäre bequem und ist staatlich gewollt, doch hier gilt Adornos Leitbild: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Für manche Grundwerte wie Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerech-tigkeit muss man auch mal individuelle Komfortzone verlassen.
Anstelle sich um rücksichtslose Corona-Gegner zu sorgen, die ohnehin Hobby – Krawaller sind, unterstützt kein Opportunist des Zwanges einen eigenen Zwang, etwa den, sich ungeschützt ihm oder ihr auszuliefern. Es ist bekannt, dass Impfen nicht anderes, sondern bestenfalls das eigene Leben schützt. Eine Diktatur fängt manchmal schleichend an und endet nicht immer blutig. Sanfte Diktatur nennt man auch Helikopter-Eltern, die nur das Beste für ihre Kinder wollen oder Lehrer, die unmissverständlich deutlich machen, welche Noten sie für welchen Standpunkt vergeben. Der Totentanz beginnt bei den Vermummten und in den leeren Köpfen, den betonierten Herzen, den ewig Anti-Anti-Elefanti.
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