Wir sind zu zweit, selbst wenn wir alleine wähnen. So könnte es der Däne (1813-1855) gemeint haben, denn Gott ist immer da, gewissermaßen unser Schatten. Die aktuelle Krise, unser Umgang mit vermeintlich Gesunden und Kranken, verbunden mit der irrwitzigen Hoffnung auf Genesungsspritzen stimmt bedenklich. Besonders die Kinder leiden unter Isolierung und Hygienezwang einer vergreisenden Gesellschaft. Umarmung, spielen,alles verboten. Trinkt mehrMilch, die ist gesund, möchte man den Traumatisierten zurufen, doch es wird geboostert, was das Zeug hält. Diktat der Pseudo-Wissenschaft. Da gilt es mehr denn je seinen Platz zwischen den größerwerdenden Lücken im Publikum (Zitat Leisegang) zufinden. Irgend jemand muss sie schließen, bevor die Verdummung sich einnistet und festbeißt. Denken wirüberhaupt noch nach, wenn wir handeln?
Seinen Platz finden: Ausweg aus dem Dilemma
Was kann es Schwereres geben, als seinen Platz in der Welt zu finden, die man sich nicht ausgesucht hat und zudem, einen Raum in sich selbst zu finden. Ein Dilemma aller Menschen lautet: Sünde ist, nicht selbst sein zu wollen oder zu können, aber auch nur sich selbst zu sein. Jeder muss sein Selbst also finden, verwirklichen und dann loslassen können, statt daran festzuhalten als handle es sich um sein Eigentum.
Abgesehen davon, dass Kierkegaard Christ war und zugleich das Christentum in seiner gelebten Weise kritisiert „Christentum ist bei den meisten keine Inbrunst mehr, sondern eine bequeme und stumpfsinnige Gewohnheit.“), sind sechs Punkte wesentlich, um ihn und seinen Existentialismus zu verstehen. Im Zentrum seiner Weltanschauung steht Liebe, auf die er selbst verzichtete, zumindest in der Form der Liebe zu der Frau, die ihn lebenslang begleitet und zur Philosophie genötigt hat.
Das zweite Dilemma lautet: wir sind nicht tierisch genug, um nur Tier zu sein und nicht göttlich, um nicht mehr wie das Tier zu sein. Wir hängen mit unserer Existenz irgendwo dazwischen und alles Reflektieren löst nicht, sondern vertieft den Schmerz. Allein der Glaube befreit.
Kann „man“ also Kierkegaard kurz wiedergeben, ohne ihm die Tiefe seiner Gedanken zu rauben? Man kann nicht, aber man muss es bisweilen. Sonst hieße es, alles Wort für Wort wiederzugeben. Darin aber liegt kein Sinn und um den zu gründen geht es ihm doch.
Sechs Grundprinzipien
Erstens: Philosophie ist ein Standpunkt, eine Haltung, eine Aktivität des Geistes, die Handeln und Wahl fordert, ein permanentes Ringen, mit sich, aber auch gesellschaftlichen Normen und ein persönliches Verhältnis zu Gott fordert. Gott ist absolute Liebe, es geht ergo nicht um Unterwerfung, sondern Hingabe an das Leben. Mit der Verzweiflung den Zweifel überwinden.
Zweitens: Kierkegaard fordert das Denken in Paradoxien, angefangen mit der These, die höchste Vernunft sei die Irrationalität des Glaubens, seine Mystik, seine Kraft, an Erlösung und Hoffnung zu glauben, die weder erfahrbar noch wahrscheinlich oder verständlich erscheint. Die Religion wird vom Dogma befreit und dennoch zum höchsten Maß- und Richtstab für die Existenz.
Drittens: Einige wesentliche Begriffe müssen mit Kierkegaard anders gedacht und differenziert werden. Da der Mensch zugleich ästhetisch und ethisches Wesen ist, dem Augenblick und der Ewigkeit, der Freiheit und der Notwendigkeit unterstellt , geht es um ein sowohl als auch, obschon der Titel seiner Hauptschrift „Entweder – Oder“ lautet. Damit ist aber nur gesagt: entweder verhält sich der Mensch so oder so, er hat die Wahl, aber, andererseits, wählen muss er. Die Wahl der Qualität ist zugleich eine Qual der Wahl.
Viertens: Zu den fundamentalen Unterschieden, die der dänische Existentialist pflegt, gehört der zwischen Angst und Furcht. Erstere ist positiv und besteht a priori vor aller Sünde, sie setzt die Sünde wie die Freiheit als ihre Kehrseite erst in Gang. Furcht hingegen ist negativ a posteriori und konkret auf ein Phänomen ausgerichtet. Zusätzlich unterscheidet Kierkegaard eine persönliche subjektive und eine unpersönliche objektive Angst, ebenso wie Schuld und Freiheit. Schlüssel zu allem ist jedoch der richtige Umgang mit Angst und Verzweiflung (auch Krankheit zum Tode genannt) im Sinn der Daseinsfürsorge und der Reflexion der natürlichen Existenz.
Fünftens: Das Leben ist einerseits unmittelbar, spontan auf Genuss und Leiden ausgelegt, so will es die Ästhetik. Diese ist zugleich Spiel und Komik, sie kennt Ironie, Humor, Verführung, List, Betrug, Eroberung. Inbegriff der ästhetischen Haltung ist Don Juan bzw. Don Giovanni, doch bezeichnet Kierkegaard die ästhetische als die heidnische Lebensweise. Erst das Christentum setzt die Ethik. Das klingt zunächst abwegig, denn Kierkegaard leugnet nicht, dass die Hellenen und generell die antiken Völker bereits eine Ethik besaßen. Es geht auch nicht um Überlegenheit eines Modells, etwa dem Jüdischen gegenüber. Entscheidend ist, das mit dem Christentum ein tragisches Bewusstsein einkehrt, welches nicht mehr den Einzelnen, sondern das Kollektiv fokussiert und folglich ein Jüngstes Gericht.
Sechstens: Bei allem theosophischen und theologischen Argumenten – Kierkegaard führt zahlreiche biblische Beispiele an: Lazarus in „Krankheit zum Tode“ (als Beispiel für Heilung), Abraham in „Furcht und Zittern“ (zur Veranschaulichung eines persönlichen und irrationalen Vertrauens zu Gott, das ihn den Sohn opfern lässt), Adam in „Der Begriff der Angst“ (um die Urschuld des Menschen aus seiner Schuldlosigkeit heraus zu erklären) – bleibt sein Existentialismus auf das irdische Leben ausgerichtet. Ziel ist der Sprung aus dem Dilemma ästhetisch oder ethisch zu leben, die in Verzweiflung und Schuld mündet, in das religiöse Stadium, das Seelenfrieden und Liebe verheißt.
Freiheit ist eine Wahl. Philosophie ihr Standpunkt.
Mit anderen Worten: es geht um das richtige Leben und nicht das falsche. Es geht darum, Angst konstruktiv werden zu lassen als Daseinsfürsorge und Liebe als gesunde Selbstannahme, die zugleich Demut und Hingabe an Größeres versteht, einen freiwilligen Verzicht inkludierend. Christentum ist keine Verheißung, sondern eine Forderung und Sünde wie Verzweiflung nur eine Katastrophe um den Menschen zur Besinnung, zur Überwindung und zur wahren Einsicht voranzubringen.
Die (subjektive Wahl) prägnanten Zitate einer bilderreichen und durchaus poetischen Sprache lauten: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, leben muss man es jedoch immer vorwärts.“
Interessanterweise kennt Kierkegaard wie Augustinus nur den ewigen Augenblick, d. h. die Zeit ist keine Linie mit Vergangenheit und Zukunft, sondern sie existiert einzig als ein nicht mehr Seiendes, augenblicklich Seiendes und noch nicht Seiendes. Dies inkludiert das Primat der Möglichkeit, das Recht, aber auch die Pflicht, wählen zu müssen, folglich sich selbst zu entwerfen und immer wieder neu beginnen zu können.
Ferner fordert es den Bruch mit einem mechanischen Fatalismus, nichts ändern zu können oder Determinismus, das alles so kommt, wie es kommen soll oder einer naturwissenschaftlichen Monokausallogik, dass alle Phänomene des Lebens Wirkursachen sind und die Naturgesetze nichts anderes als Ursache und Wirkungen.
Kierkegaard wendet sich dezidiert gegen den Idealismus, speziell Schelling und Hegel in ihren Abstraktionen und Rationalisierungen des Glaubens. Er wendet sich zugleich gegen den ihm unbekannten Marx, dessen Pragmatismus und Fixierung auf das ökonomische System des Menschen eine Welt ohne Gott vornimmt. Mit einem Wort: Kierkegaard verbindet das scheinbar Unmögliche: eine leibliche konkrete erfahrbare Metaphysik.
Das zweite, dem Autoren unentbehrlich erscheinenden und doch für sich allein verständliche Zitat (die meisten können bei einem Systemphilosophen nur aus dem Kotext verstanden werden) lautet: „Es gehört zu den Unvollkommenheiten unseres Wesens, daß wir erst durch den Gegensatz hindurch müssen, um zu erreichen, was wir erstreben.“
Mit anderen Worten: Was liebt die Liebe? – Unendlichkeit. – Was fürchtet die Liebe? – Eine Grenze. Doch der Mensch lebt im Endlichen, so ist alles, der Wahrheit, dem vermeintlich Guten etc. eine Grenze gesetzt, sowohl eine Innere als auch eine Äußere. Es ist der Mangel, der uns liebenswert macht und den wir nicht einfach kompensieren müssen, um bessere Menschen zu werden. Kierkegaard ist vor allem Humanist. Ohne Angst ist keine Freiheit möglich, er bezeichnet sie als Schwindel und Abgrund für den wahren Grund und all die Möglichkeiten unserer Existenz.
Es gibt so etwas wie unschuldige Schuld, diese liegt in der ersten (Adams) Schuld: doch wie kam die Sünde in die Welt? Indem es anfänglich keine Sünde war, sie wurde erst durch Reflexion zu solcher. Und eben diese Reflexion ist notwendig, um Bewusstsein so weit zu verfeinern, dass aus ästhetischen (sinnlichen) und ethischen (vergeistigten) kein bloßer Zustand werde, sondern eine selbst erwählte Verwirklichung, eine Freiheit innerhalb des Handlungsspielraums, der zwischen Nichts und Allem liegt. Alles dient dem eigenen, dem selbstbestimmten und selbst gewollten, d. h. den freiwillig erfolgenden Handlungen.
Das dritte Zitat, ohne das Kierkegaard nicht gedacht zu werden vermag, heißt: „Den Sprung in den Glauben kann mir niemand abnehmen.“
Es ist wahr, dass Gott über allem steht und der Begriff macht es einem Nicht-Christen oder Nicht-Gläubigen schwer. Ebenso wahr ist, dass er nur für denjenigen existiert, der an ihn glaubt, weshalb dieser Sprung einer des „Ich“ bleibt und niemals kollektiv erfolgt. Mehr Individualismus geht nicht. Kierkegaard räumt aber auch ein, dass dieser Begriff bzw. Gedanke Gott der Anstrengendste von allen ist, eben weil er unfassbar bleibt und nur (Aufgabe) persönlich zu füllen ist. Für Kierkegaard bleibt am Ende die universale Liebe, zu der er sich erzieht und in diesem Sinn ist er, der Existentialist, sogar Platoniker, ein Idealist (weil Idee und Ideal leider hier terminologisch nicht getrennt werden).
Verkürzte Darstellung einer Lebensphilosophie
Lebensweisen: ästhetisch – ethisch und religiös
Fasst man die vier wichtigsten Werke zusammen, so bleibt als gröbste aller Abbreviaturen Folgendes: In „Entweder Oder“ stellt Kierkegaard zwei Lebensweisen vor, die mit ästhetisch und ethisch sehr komplex und doch unvereinbar erscheinen. Das dritte Stadium, das Erlösung und Glückseligkeit verspricht ist das religiöse, das keineswegs auf Askese hinausläuft, sondern auf die absolute Bejahung der Schöpfung einschließlich sich selbst. Der Ästhet lebt in seiner Welt des Augenblicks, der Ethiker nach Prinzipien und Werten, die ein Höchstmaß an Dauer und Objektivität erlauben.
Illustratives Beispiel liefert die Ehe, die nicht in einer Verstandesbeziehung oder sonstigen Zugewinngemeinschaft Bestand haben soll, aber sich bei allen Werten und wechselseitiger Unterstützung die Verliebtheit und Spontaneität des Genussmenschen bewahrt. Ein modernes Rezept für die Ehe ausgerechnet von einem Junggesellen, der nach langer Prüfung auf den Ehestand verzichtete, weil er sich ihren Ansprüchen nicht gewachsen fühlte.
Das Primat des Besonderen, Konkreten, Individuellen: Existensgewinnung
Was zu lernen und zu leben bleibt: Moral existiert keineswegs von sich aus, sie muss verhandelt und gewissermaßen gefunden, dann gepflegt und erneuert werden und nicht rigide verteidigt. Das Absolute besteht bei Kierkegaard immer und ausschließlich im Einzelnen, Konkreten, Besonderen. Sein Augenmerk gilt dem Individuum und der Selbstverwirklichung.
Angst lebensfördernd, Schuld unausweichlich
In „Der Begriff Angst“ lernen wir erstens Angst von Furcht und allem Negativen (Vorurteilen, von ihr loszukommen) zu trennen und im Idealfall ein persönliches Verhältnis zu uns selbst und Gott zu gewinnen. Wer sich an den Begriff stößt, dem ist anzuraten, Weltseele oder einfach Lebensprinzip einzusetzen. Es geht um ein Maximum an Freiheit durch Wahl und Entkommen von einem Katheder-Schuldgefühl, das einem die Kirche oder sonst ein Dogma eingeredet hat. Es geht nicht darum, von Angst freizukommen, sondern sich ihr zu stellen und mit ihr ein besseres, reflektiertes Leben zu führen.
In „Furcht und Zittern“ lernen wir im Idealfall, dass Opfer und Hingabe nicht Aufgabe oder blinden Gehorsam meinen, sondern Vertrauen, dass ein gutes Prinzip nichts Falsches oder Schlechtes von uns wollen kann. Prosaischer: Es geht um ein dialektisches Verhältnis mit uns selbst, das eine Wendung erlaubt und einen Sprung in die Rettung verheißt. Kein Wunder (obschon Gott diese vollbringt), sondern ohne verstehen oder begreifen zu wollen, über den Glauben zur Tat zu finden. Poetisch: auf komische Art die Tragik des Lebens anzunehmen und anstelle der Erwartung die Erfüllung zu setzen.
„Krankheit zum Tod“ ist einerseits die einfachste und doch auch die schwerste Schrift von allem. Einfach, weil sie ein Synonym für Verzweiflung ist und halbwegs einfach, weil es gleichgültig ist, ob man diese Verzweiflung bewusst oder unbewusst durchläuft, da alle Menschen verzweifelt sind. Sie müssen es sein, denn entweder verzweifelt man über die Sünde, nicht der sein zu können, der man ist (Schicksal eines Fatalisten bzw. Deterministen) oder darüber nicht der, der man sein will (Schicksal seines Träumers). Halbwegs leicht verständlich auch, dass der Mensch ein Zwischenwesen ist (gestellt zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Ästhetik und Ethik) und es eine Hybris gleichkommt, vollkommen sein zu wollen. Genesung aber ist möglich, denn wo Krankheit, da gibt es auch Heilung. Und dies ist so schwer zu fassen: dass nur geheilt werden kann, wer vorher krank gewesen und damit nur vom Zweifel erlöst zu werden vermag, wer bewusst Verzweiflung durchlebt hat. Weil das Prinzip des Lebens, die Liebe, nicht in Zahlen, Gesetzen und Nützlichkeit aufgeht. Weil wir zugleich göttlich und dämonisch sind, verflucht und gesegnet, tragisch und komisch in einem.
Paradoxie und Irrationalität
In unmittelbarer Nähe zu Kierkegaard standen Dostojewski, Munch, Ibsen, Strindberg, Jasper, Löwith und Adorno, um nur die Klassiker zu erwähnen. Auch Camus´würdigt Kierkegaard als Vordenker des Absurden, will aber, wie viele Existentialisten des 20. Jahrhunderts, ohne höchstes irrationales Prinzip auskommen und den Glauben nicht an eine wie auch immer geartete Autorität binden. Auch Heidegger übernimmt in seiner Daseinsfürsorge die drei existentiellen Grundbegriffe der Angst, der Sorge und der Neugier von Kierkegaard. Der Glaube beginnt gerade, wo das Denken aufhört. In diesem Sinne muss man an seine Gedanken glauben, um ihn denken zu können.Hoffen wir auf ein badiges Ende unseres unwürdigen und unglaublich naiven,weil Panik machenden Umgangs mit der Pandemie.
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