Verratene Tugend

Foto Belinda Helmert: Arche Noah – Relikt nach der Überflutung der Wiesen und Felder an der Großen Aue, Binner Schlucht. Sinnbild unserer Zeit.

Das grüne Gespenst

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Kanzler, die Regierung, und der unaufgeklärte Bourgeois, sich selbst als linke Gutmenschen bezeichnende Radikale und deutsche Polizisten. Es geht ein Gespenst um in Deutschland. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht als verfassungswidrig (obgleich genauso demokratisch gewählt wie einst der Reichstagspräsident A. H.) verunglimpft wird?

So lautet der Beginn des Kommunistischen Manifestes 1848, leicht verändert und damit den augenblicklichen Zeiten angepasst. https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/marx_manifestws_1848?p=3

Grüne Revolution 2024: Die Bauern gehen nicht mehr, sie fahren, sie rollen mit Treckern auf die marode Straßen und legen den Verkehr in Innenstädten lahm. Solidarität auf der einen, Diffamierung auf der anderen Seite. Diskussionen um Unterwanderung und radikalen Rechtsabbiegern lenken von der Kernproblematik ab. Aufgrund des Holocaust-Gedenktages verschieben die desavouierten „Nazi-Bauern“ sogar ihre für heute geplante Protestaktion auf morgen.

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/bauernproteste-demonstrationen-mahnfeuer-magdeburg-100.html

Etwas frei formuliert von Marx: Das siegreiche Volk (er glaubte noch an ein zu einendes deutsches Volk) kann keinen Nachbarn seine Beglückung aufzwingen, ohne seinen einmaligen historischen Sieg selbst zu untergraben. Das heißt, wer anderen seine Werte aufzwingen will, diskredietiert sich selbst. Das Gespenst von heute trägt einen grünen Mantel, vielleicht ist es Rumpelstilzchen. Ach wie gut, dass niemand weiß ….

Foto Belinda Helmert: Arkenberger Spargelhof. Überbleibsel der Zivilisation oder Appendix der Evolution ?

Was Kommunist wirklich bedeutet

Karl Marx glaubte zu wissen, dass eine Revolution nur vom Proletariat getragen und der Klassenkampf nur von den Arbeitern gewonnen werden kann. Er irrte offensichtlich, was schon Lenin und Mao dokumentierten. Die Methode jedoch, Privateigentum durch Volkseigentum zu ersetzen und Bildung zu entprivatisieren, lies die Schere zwischen Arm und Reich nie so sehr auseinander klaffen wie im Westen. Die Armen können sich hier keine Kultur „leisten“.

Im Namen des Kommunismus – er leitet sich von communis (gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein, öffentlich) ab – wurde schon unsäglich viel verdorben. Wer sich auf Marx, der Mitbestimmung forderte, beruft und Diktatur praktiziert wie die allermeisten Herrscher, der verrät sein Grundprinzip. Allerdings benötigt Verrat ein Gewissen und damit ein Minimum oder Momentum von Anstand.

Schon Rosa Luxemburg „brandmarkte“ im illegalen Flugblatt „Hundepolitik“ vom Mai 1916 Sozialdemokraten als „Rotte von Volksverrätern“. Der Beginn lautet: „Das Unmögliche ist Tat geworden: Der Reichstag, die bürgerlichen Parteien, die offizielle sozialdemokratische Fraktion haben sich noch mehr mit Schmach bedeckt, als das bis jetzt schon der Fall war. Es schien, dass dieses unauffindbare Parlament, dass diese edle Gesellschaft in politischer Selbsterniedrigung, im Preisgeben des elementarsten politischen Anstandes bereits das Menschenmöglichste geleistet hatte, dass es in diesem Sumpfe einfach nicht tiefer gehe.“ Luxemburg spricht von Infamie, mit der die Regierung toxisch durchtränkt sei. Der Beitrag vor über hundert Jahren liest sich wie die Zeitung von gestern.

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/05/hundepol.htm

Der Rausch der Gerechtigkeit trieb den späteren Dandy Baudelaire in seiner sozialistischen Frühphase, in der Februarrevolution, enthusiasmiert auf die Barrikaden, um dort desillusioniert der Verbitterung anheimzufallen. Walter Benjamin schreibt daher in „Passagen“, Abschnitt Baudelarie F: „Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Reduzierung seines eignen Zustands bedeutet.“

https://www.thealit.de/lab/verrat/

Foto Belinda Helmert: Entwurzelter Baum nahe des stillgelegten Bahngleis Liebenau

Sozialismus ein perpetuum mobile

Mit einem Wort: Ist der Sozialismus, den es vom Kommunismus noch zu unterscheiden gilt, gescheitert? Nein, weil es ihn in seiner gedachten Ausführung realnoch nie gab. Ist er noch zu retten und muss er nur seiner ureigenen Bestimmung zugeführt werden? Wenn ja, wer sind seine Träger und Repräsentanten, am Ende gar doch der Bildungsbürger im Schafspelz? Er geriet auf Abwege, der Sozialismus und der Bildungsbürger ebenso.

Die ganze Welt begann sich mit Schwarz (Farbe der SS) und Rot (Farbe Stalins Roter Armee) zu überziehen und alle wurden angesteckt, in ihrer Flut zu ertrinken. Die Liste linksgerichteter Intellektueller ist so lang wie die Attribute links sozial oder liberal missbraucht bzw. pervertiert wurden oder die Troika aus Freiheit, Wahrheit Gerechtigkeit zu einer Lügenpropaganda herhalten musste. Empfehlenswert hier Alexander Solschenizyn, „Im ersten Kreis“, Kapitel 16, Die Lügen-Troika. Zynisches Schlusswort nach der im Gulag erzwungenen Einsicht im letzten Kapitel „Fleisch“: „Die Versorgung der Hauptstadt kann nur als hervorragend bezeichnet werden.“

Wer heute rechts oder Nazi ist, galt früher als Patriot. Wer heute links wählt oder denkt, unterstützt mitunter billigend Rechtsverletzung, Verstoß gegen das Grundgesetz, u.a. Menschenwürde und Meinungsfreiheit. Entnazifizieren ist dann volksschädlich und links linkisch.

Das Ur-Thema der Sozialisten und der Kommunisten, bevor sie sich in der Kriegsdebatte zerstritten (Spartakusbund, Gründung des USPD), lautete Kampf gegen Armut und damit soziale Gerechtigkeit. Die taz, ein als „links“ geltendes Blatt, titelte daher am 20.5. 2023: „Ein Erdbeben, und niemand schaut hin“. Weiter: „Ein Fünftel aller Menschen in Deutschland ist von Armut bedroht. Mindestens. Doch selbst die Betroffenen, die am lautesten sind, werden kaum gehört.“ Nun hat die Armut eben auch von Bauern, den Ernährern unseres sozialen Wohlfahrtsstaates, Besitz ergriffen. Bis auf die damals noch nicht aktuellen Proteste der Agrarwirtschaft liest sich der Artikel wie eine Bestandsaufnahme von heute: Bahnstreiks, Flüchtlings- und Kriegsdebatten, Chaos.

https://taz.de/Armut-in-Deutschland/!5933

Foto Belinda Helmert: Totes Gleis, überflutete Felder und ratloser Philosoph bei Liebenau nach der Überschwemmung der Großen Aue

Die Armut unserer Freiheit

So lautet der Buchtitel einer Aufsatzsammlung von Axel Honneth. Vielleicht ist man im Experiment Sozialismus mit ihrer Kritik der Aufklärung, die dem pausbäckigen Bourgeois den Spiegel vorhält, noch nicht am Ende. Der augenblicklich führende Vertreter der Frankfurter Schule, Axel Honneth, hält ein ein Plädoyer für den Sozialismus mit menschlichem Antlitz mit Verweis auf Hegel, Marx und Rawls als die drei Eckpfeiler, denen bei aller Genialität doch etwas fehlte. So verteidigt bekennende Bob Dylan-Fan in „Die Idee des Sozialismus“ (2017) die totgesagte Idee als verbesserungswürdig, aber alternativlos.

Im Gespräch mit der Philosophin Barbara Bleisch in „Sternstunden der Philosophie“ kommt er auf die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft aufgrund der Eigentumsverhältnisse und auch Rawls Schleier des Nichtwissens zu sprechen. Er betont dabei den Wert der sozialen Freiheit als ein nicht fremdbestimmtes Leben, fordert aber neben Hegels und Marx´ Rationalismus die ethische Aufwertung von Empathie und Emotion.

Der Schleier des Nichtwissens

Diese Metapher stammt aus der Spieltheorie des Harvard-Philosophen und wichtigsten Repräsentanten des egalitären Liberalismus, John Rawls. In „A Theory of Justice“ stellt er die Frage nach der Gerechtigkeit als unlösbar mit der eigenen Definition, also Subjektivität und Moral, fest. Die Menschen dürften nicht wissen, wer sie sind, welche Rolle sie in einer Gesellschaft einnehmen und müssten dann entscheiden, was sie unter gerecht verstehen. Es handelt sich um eine fiktive Entscheidungssituation, um über die Ordnung, Aufgaben, Ausrichtung, Verfassung etc. zu befinden. Der Schleier bezieht sich folglich auf das Nichtwissen um die eigene Identität, welche laut Rawls immer doktrinäre Auswirkungen hat. Priorität hat in seinem Fall das Prinzip der Gleichheit.

Zur Erinnerung: Die französische Revolution wirkte auf Hegel. Dieser erkannte, dass die Troika Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, sich nicht gleichzeitig und im gleichen Maße (also harmonisch), sondern nur hierarchisch nach Prioritäten gestalten lässt. Liberté, Égalité, Fraternité (letzteres vermeint Gerechtigkeit).

Rawls Theorie der 70 er Jahre (als der Sozialismus in voller Blüte stand und durchaus eine Alternative zum Kapitalismus darstellte) bezieht sich auf Hegel. Dieser war ein Sympathisant der preußischen Staate, den Marx bekämpfte, doch sah er noch vor seinem Schüler, der ihn vom Kopf auf die Füße stellen wollte, in der Armut das Grundproblem moderner Gesellschaften. Die wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und sich verfestigende Bildungsprivilegien, gehen faktisch ideologischen Dogmen voran und verzerren die Wahrnehmung bzw. das Bewusstsein. Ein Baustein betrifft den unrechtmäße, weil ungleich verteilte Wachstum von Wohlstand, den manche allen Ernstes auf Leistung zurückführen.

In Amerika vermochte sich die soziale Idee nie zu etablieren, ihr wurde mit Misstrauen begegnet. In der Mc-Carthy Ära kam es zur „Hexenjagd“ (Arthur Miller) auf die sich zum Kommunismus bekennenden Linksintellektuellen. Kalter Krieg oder Zweite Rote Angst (Second Red Scare ) führten zu realen und unterstellten Verschwörungstheorien, die denen aus der Corona-Zeit gleichen. Das hysterische Klima spaltete die amerikanischen Nation, welche sich nur mit Gewalt und Verlagerung der Konflikte nach außen zu helfen wusste. Analogien zu heute sind unverkennbar. Ein running gag mit bitterbösem Realitätsgehalt lautete damals: Es wird gegen ihn ermittelt; sein Blut ist rot und sein Herz ist links der Mitte!

Der Mitbegründer der Frankfurter Schule Herbert Marcuse heuerte in diesen Zeiten bei dem Vorläufermodell der CIA an. Zuerst fürchtete man die Nazis, dann die Stalins ante Portas der Wall Street. Die Folge bildeten Stalins Schauprozesse hüben und Mc Carthys „Untersuchungen“ drüben. Im Krieg der Ideologien gegen angeblich subversive Elemente fehlte auf beiden Seiten des Atlantiks Augenmaß. Auch heute noch braucht Politikdie große Bühne und verkommt dabei zur Schieber- und Schmierenkulisse.

Foto Belinda Helmert, illuminiertes Theater am Goetheplatz, Bremen

Der Traum von sozialer Gerechtigkeit

Zurück zu Rawls: Gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie auch den Schwächsten ein würdiges Leben ermöglicht. Ist das bereits utopisches Denken? Umverteilung war ihm nicht genug, doch Eigentum auflösen nicht nur zu radikal, sondern auch der falsche Weg dazu. Freiheit bildet hier nicht den Zweck, der die Mittel heiligt, wie bei Trotzki („Die Permanente Revolution“). Freiheit ist nur Mittel, im Grunde ein Luxus, die sich nur Reiche leisten, deshalb soll sie marktgerecht eingeschränkt werden. Ob sich damit allein der Missbrauch von Eigentum verhindern lässt?

Wie Hegel unterscheidet auch Rawls die natürliche von der gesetzlichen (liberalen) Freiheit. Nur natürliche Freiheit impliziert einen starken Einfluss sozialer Kontingenzen (Zufälligkeiten) auf die Verteilung von Gütern. Die liberale Interpretation hingegen verlangt, dass die Institutionen des freien Marktes in einen Rahmen sozialer und gesetzlicher Institutionen eingebunden werden. An die Stelle des Zufalls tritt das Konkurrenz- und das Qualitätsprinzip. Rawls glaubt, dass Konkurrenz gut ist fürs Geschäft und für die soziale Sache.

https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-theorie-der-gerechtigkeit-wie-rawls-ueber-100.html

Rawls erklärt, dass Freiheit immer durch drei Arten von Problemen bedingt wird:
die Handelnden, die Begrenzungen, von denen sie frei sind, und das, was zu tun oder nicht zu tun sie frei sind. Gefühle oder das Prinzip Liebe kommen in seinen Aussagen nie vor. Er hat also ein animal rationale vor Augen, einen homo oeconomicus. Vielleicht liegt sein Kardinalfehler, wie der von Marx, die Irrationalität des Menschen in seiner Entscheidungsfindung und die Lust an der Ungerechtigkeit per se zu unterschätzen. Vielleicht ist der sozialen Gerechtigkeit die Luft ausgegangen. Vielleicht ist er aber auch nur ein Reifen, der auf das geeignete Fahrzeug noch warten muss.

Foto Belinda Helmert: Asperger Spargelhof.

Hat der Sozialismus ein kaltes Herz ?

Ist er am Ende ein Dreiviertelsozialismus und auf halber Strecke kollabiert? Fragen, die sich der Züricher Ethiker und Mitarbeiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaft und Sozialphilosophie Martin Rhonheimer März 21 stellt. Seine Einstieg: „Seit langem schlagen Republikaner in den USA Alarm vor dem Sozialismus. „Sozialistisch“ nennen sie alles, was von links kommt, also auf Vergemeinschaftung von Eigentum, Leistung und Verantwortung abzielt. Malen sie ein bloßes Schreckgespenst an die Wand?“ Das Kommunistische Manifest, die Frankfurter Schule, sie leben also noch. Auch jenseits der Alpen. Ein Prozent der Schweizer besitzen wohl 50 Prozent des Gesamtvermögens im Land.

Der bekennden Katholik (nicht alle Sozialisten sind Atheisten) mit – wie Marx und Luxemburg jüdischen Wurzeln – rückt die Konfrontation zwischen Gesellschafts- und Individualtrieb wieder in den Vordergrund. Er verfasst u.. Artikel für die FAZ und warnt so vor der Staatsvergottung (Verehrung des Laizismus) wie vor der Gottesverarschung (Missbrauch der Religion für laizistische Zwecke). In einem seiner Büchjer „Christentum und säkularer Staat“ (2017) fordert auch er mehr Nächstenliebe in der Eiszeit, quasi eine humanitäre Klimaerwärmung. Darunter fällt auch das sozialistische Leitungsprinzip (an dieser Stelle: Sozialismus ist die Stufe vor dem Kommunismus) : „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Gemeint ist: Der Freibrief, der parasitäre Sozialleistungen nach sich zieht, nicht zu arbeiten, entfällt. Jeder muss für irgend etwas sorgen, damit er sich Brot und Spiele besorgen kann.

Foto Belinda Helmert: Eisschollen am Rande der Binner Schlucht

Verzicht macht reich: Ich wird Wir

Laut Hegel gewinnen wir durch die Preisgabe einer kleinen persönlichen Freiheit eine größere: die soziale. Dies ist sein Kerngedanke, wenn er über die Dialektik in der Liebe spricht und die Sartre in „Liebe macht mich sein“ wieder aufgreift, da sie seinem berühmten Verdikt „Ich bin zur Freiheit verdammt“ vorausgeht. „Das Sein und das Nichts“ basiert auf Hegels „Die Phänomenologie des Geistes“ und sucht die Balance zu Marx´ “Das Kommunistische Manifest“. Sartres Schlüsselsatz lautet: Ich will mir die Freiheit des Anderen zu eigen machen, kann sie aus diesem Grunde aber nicht vorbestimmen wollen. Der Moment der Fremdbestimmung oder Unterwerfung verrät das Ideal der Liebe, welches mit freier Selbstbestimmung verbunden bleibt. Diese Freiheit hat weder im Kommunismus noch im realen Sozialismus jemals stattgefunden. Beide haben das für sich dem an sich schlichtweg einverleibt. Vielleicht, weil die Rahmenbedingungen, die Kontingente, nicht vorhanden waren. Vielleicht aber auch, weil die innere Verfassung, die conditio humana des Menschen, dies vereitelt. Sartre meint mit Hegel, Freiheit liegt nicht vor, man muss sie tun: Il faut faire la liberté.

https://la-philosophie.com/homme-condamne-etre-libre-sartre

Die Verwechslungsgefahr von Freiheit haben bzw. sich nehmen und frei sein ist groß. Der Grundgedanke Hegels wird auch von Luxemburg aufgegriffen. Freiheit ist immer die der Andersdenkenden Wenn jeder von uns nur will und frei sein mit bekommen gleichsetzt und niemand mehr gibt und frei sein als Selbstverpflichtung begreift, herrschen Kapitalismus und Willkür. Die sperrige, weil unbequeme Maxime Hegels lautet: Versöhnende Rückkehr zum Anderen. So schreibt er in der Ästhetik II über den Begriff des Absoluten als der Liebe: „… das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergessen sich erst selbst zu haben und zu besitzen“.

Es geht um versöhnende Rückkehr und Aufhebung des Selbst im Anderen bzw. sich durch das Vergessen im Anderen selbst zu finden und zu erhalten. Biblisch ausgedrückt geben ist seliger als Nehmen und freiwillige Entsagung oder Hingabe der Weg zum sozialen Glück. Denn bei Hegel geht es nicht um narzisstische Nabelschau, sondern um soziales Gefüge, Liebe als Kitt der Gesellschaft. Als einziger Weg zur Freiheit und sozialen Gerechtigkeit in Gleichzeitigkeit. Keimzelle seiner sittlichen Idee ist die Familie (der Staat im Staat). Ist sie zerrüttet, so wird es auch der Staat sein.
https://www.textlog.de/5999.html

Hegels Theorie der Sittlichkeit mit der Liebe (scheinbarer Alturismus, der jedoch der Selbsterhaltung dient) fragt nach dem sozialen Zusammenhalt und antizipiert Marx. Subjektivität ist eine, sowohl in der Aufklärung (Kant, Rousseau) als auch der ihr nachfolgenden Romantik (Fichte, Schelling, Hegel) zentrale Form, um Gerechtigkeit, Freiheit und damit Brüderlichkeit in form von sozialem Glück zu gewährleisten. Es rivalisiert jedoch das Inkommensurable stets mit dem Konsum und damit dem Verlangen nach materiellem Glück (Wohlstand). Das Prinzip der Kommunalität und das Prinzip der Subjektivität scheinen sich sowohl historisch als auch konzeptionell auszuschließen. Hegels Lösung, die Dialektik: Einheit basiert auf die Synthese von Besonderheit und Allgemeinheit. Das ›Ich im Wir‹ wird zum ›Wir im Ich‹.

Diese Entwicklung geht aus vom vom subjektiv -begehrenden über das objektiv – anerkennende hin zum allgemeinen Selbstbewusstsein in Form von Bewusstsein seiner Freiheit selbst („Enzyklopädie der Logik“, III, 1, B, § 424 ff.) Einfacher: persönliche (Ich) bleibt abstrakte Realität, weil pure Idealität. Verbindlichkeit gewinnt die sich verwirklichende Vernunft, welche die Freiheit des Verzichts und der Selbstregulierung lehrt.

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Enzyklop%C3%A4die+der+philosophischen+Wissenschaften+im+Grundrisse/Dritter+Teil%3A+Die+Philosophie+des+Geistes/1.+Abteilung%3A+Der+subjektive+Geist/B.+Die+Ph%C3%A4nomenologie+des+Geistes.+Das+Bewu%C3%9Ftsein/b.+Das+Selbstbewu%C3%9Ftsein

Foto Belinda Helmert: Vogelspuren im Sand, der von der Überschwemmung stammt und eine Landschaft am Liebenauer Wehr schuf. Hegel spricht dem Ufersand Zwischenwelten-Charakter zu, da er sich zwischen Land und Meer, zirkulärer Meeres-Zeit und linearer Land-Zeit, befindet.

Das Recht der Freiheit

Das Recht auf Freiheit wird häufig verwechselt mit dem Recht der Freiheit (an uns und über uns zu stehen). Um auf Honneth zurückzukommen, auf sein Gespräch mit Bleisch und die zentrale Idee der sozialen Freiheit, dem Schlüsselbegriff seines Buches „Das Recht der Freiheit“ (2011). Eine brauchbare Rezension über die reformierte „Kritische Theorie“ liefert https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/fjsb-2011-0418/pdf

Wer die Autonomie des Einzelnen zu stark bewertet landet automatisch im Raubtierkapitalismus bzw. in der Diktatur, die nur eine zugespitzte Variante dieses hedonistischen Prinzip des Stärkeren oder Selbstgerechteren darstellt. Daher berufen sich viele Befürworter des uneingeschränkten Marktes auf diese Auslegung der Freiheit und reduztieren sie auf individuelle Autonomie (Das Recht auf das Besondere). Was gerecht oder sozial oder liberal ist, wird über diese Auslegung jedoch diffus und mitunter auf den Kopf gestellt.

Die Fortführung von Hegel durch Marx und Rawls als zwei durchdachte, jedoch unvereinbare Versionen, verlangt nach einer Verbesserung und Präzisierung des Freiheitsbegriffs ebenso wie der Gerechtigkeit. Dies kann nur unter Einbettung der Medien (Informationsstreuung) geschehen, welche von beiden Denkern nicht genug gewürdigt werden konnte, da die mediale Präsenz und die Digitalisierung erst nach ihnen prometheisch entfesselt wurde.

Von hegelianischem Augenmaß und Versöhnung ist der Mensch aktuell mondweit entfernt, besonders in der Politik, die meint, mit Krieg den Frieden zu wahren und mit Panzern statt Brot dem eigenen Land Schaden zufügt. Wir reden von der Liebe zum Vaterland als selbsterhaltendes und nicht zerstörendes Prinzip. Von Wertschöpfung und nicht von Substanzraub. Der lange Weg nach Westen. Kampf um die Aussicht, dass Sozialismus Wirklichkeit werde als unverhandelbare Frage der Menschenwürde. Alles bereits bei Hegel und Marx und Luxemburg angedacht, formuliert, um nur drei deutsche Geistesgrößen zu benennen und variiert vom Amerikaner Rawls, der gewiss kein Kommunist ist.

Foto Belinda Helmert: Eis auf Stein am Liebenauer Weg zur (aufs Eis gelegten) Schweizer Lust. Die Freiheit, ein steiniger Weg

Maßlose Politik

Aktuell behauptet der neu gewählte argentinische Präsident Javier Milei (Davos-Rede am 17.01. 2024): Einzig der Kapitalismus löse das Problem der Armut, das der Sozialismus erst befördert habe. Er meint damit den beginnenden Wohlstand, der mit dem Industrialismus einsetzte und zweifellos prozentual weniger Menschen dem Pauperismus (Verelendung der Arbeiterschicht) preisgab als die Subsistenzwirtschaft zur Zeiten des Feudalismus.

Javier Milei leitet daraus ab, dass freie Warenwirtschaft (anstelle des Merkantilismus) und Konkurrenzprinzip (anstelle der rigiden Gesellschaftshierarchie) dem Lande (Argentinien) vorangebracht hätten und sozialer Wohlfahrtsstaat nur auf Basis von materiellem Überschuss existieren könne, das freie Unternehmen erwirtschaften. Was sich auf den ersten Blick noch argumentativ plausibel anhört, erweist sich als absurde Hybris und Euphemismus. Diese weltentrückte Attitüde aus Größenwahnsinn Schönrednerei ist repräsentativ für eine korrupte Politik, die sich nur dank medialer Inszenierung einerseits und mangelnder Intelligenz mündiger Bürger andererseits. Was Milei wie naehzu allen aktuellen Politikern fehlt ist Selbstkritik.

Vom philosophischen Elend zum Proleten

Churchill hieß Sozialismus die gleichmäßige Verteilung des Elends, den Kapitalismus jedoch die ungleiche Verteilung der Güter und des Wohlstands. Ein freier oder anarchischer Kapitalismus (Pierre Joseph Proudhon gilt als sein Begründer) führte, wie spätestens seit Manchasterliberalismus bekannt ist, zum Mythos ungebremsten Wachstums, an deren Ende Maschinen Menschen ersetzen oder verstümmeln, Menschen entfremden oder verdummen, im schlimmsten Fall abstumpfen und degenerieren lassen. Am Ende steht die Verwaltung des Elends oder „La philosophie de la misère“. (Proudhon).

Marx´ Antwort „La Misère de la philosophie“ auf Proudhons Naivität, mehr Reichtum und Wohlstand für manche schaffe die Armut für alle ab (Misère de la philosophie ) gilt bis heute: es herrscht ein Elend in der Philosophie vor.

Die Zeit des Proletariers ist vorbei, die des Proleten nicht. Im Gegenteil sie ist gekommen und besitzt gerade Hochkonjunktur. Einst galten Prolet und Proletariat als Synonym, da sie dem lateinischen proletarius unterste Vollschicht (welche nur ihre Kinder „besaßen“) entlehnt sind. Diese entfiel zu Luxemburgs Zeiten auf die Arbeiterschaft , quasi den vierte Stand. Die SPD verstand sich damals noch als Arbeiterpartei; sie muss sich heute natürlich neue Wählerschichten erschließen, denn weniger als 5 Prozent arbeiten noch im herkömmlichen Sinn in der Industrie. Vor rund 50 Jahren, 1956, wurde in der BRD die KPD verboten. Heute droht dieses Schicksal der Afd. Ob sie wohl auch die Partei der Proleten ist?

https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Dokumente-zur-Zeitgeschichte/1956-08-18_verbot_kdp.html

Foto Belinda Helmert: Eiszapfen am Gras. Sinnbild einer eingefrorenen Zeit und des Stillstands, aber auch der Tauwetter-Politik, die Gedanken des Sozialismus denen des Liberalismus zumindes einander annäherte.

Brüder mit ungleichen Kappen

Hannah Arendt (ihr erster Gatte Günther Anders war Philosoph, Kommunist, der dem Kapitalismus die zerstörung der Humanität zuschrieb) artikuliert in „Macht und Gewalt“: „Der Kapitalismus ist keine Alternative zum Sozialismus. Nicht weil keines von beiden in reiner Form existiert, sondern weil beide Zwillinge sind, von denen jedes einen anderen Hut trägt.“ Diese Erkenntnis ist ihrem Essay im Angesicht des Prager Frühlings 1968 entnommen, der im Original „On violence“ heißt und wörtlich so formuliert wurde: „For this reason alone, the alternative between capitalism and socialism is false – not only because neither exists anywhere in its pure state anyhow, but because we have here twins, each wearing a different cap.“

Für Luxemburg, die wichtigste Vertreterin des antiautoritären Sozialismus (und Vorbild Rudi Dutschkes), hießen Freiheit und Demokratie stets, sich in Selbstkritik üben. Unter Selbstkritik versteht sie, bis auf den Grund der Dinge gehen und dies als Basis der politischen (proletarischen) Bewegung. In ihrem letzten Artikel für die Rote Fahne vor ihrer Ermordung schreibt sie 1919: „Die Massen sind das Entscheidende, sie sind der Fels, auf dem der Endsieg der Revolution errichtet wird.“

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1919/01/ordnung.htm

Foto Belinda Helmert: Forke im vereisten Garten. Vielleicht besser als Hammer und Sichel.

Rosa Dialektik des Stillstands

Der Prolet hat keine Bildung, ist roh und unreflektiert. Auch heutige Staatskritiker (die zudem den Schwund wahrer Demokratie beklagen und darauf verweisen, dass Meinung und Haltung nicht dasselbe sind) werden gerne als rechts unterwandert diskriminiert. Analogien zum Bauernaufstand sind eklatant. „Nun ist es inneres Lebensgesetz der Revolution, nie beim erreichten Schritt in Untätigkeit, in Passivität stehenzubleiben.“ (zitiert aus Die Ordnung herrscht in Berlin, Januar 1919)

Das Konkurrenzprinzip muss überwunden werden, weil es Löhne drückt und die nationale Wirtschaft einer internationalen Solidaritätsgesellschaft weichen. Weil Konkurrenz Armut fördert und Monokultur bzw. Monopole fördert, die so genannten global player, welche die lokalen Wirtschaftsunternehmen zerstören und aufkaufen. Kapitalismus gleich Vampirismus. Der Untergang des Kapitalismus durch Aufhebung des freien Wettbewerbs ist die objektiv geschichtliche Notwendigkeit, die logische Folge durch Akkumulation des Kapitals.

Von den Proleten lernen ist ihre Entschlossenheit. Da gibt es kein verzärteltes Verzagen und Vertagen. Daher, um mit Luxemburg zu schließen: „Der zwiespältige Charakter dieser Krise, der Widerspruch zwischen dem kraftvollen, entschlossenen offensiven Auftreten der Berliner Massen und der Unentschlossenheit, Zaghaftigkeit, Halbheit der Berliner Führung ist das besondere Kennzeichen dieser jüngsten Episode.“ (Die Ordnung herrscht in Berlin)

Im Zeitalter des entfesselten Lobbyismus genügt es nicht mehr, sich nur mit den eigenen Interessen zu olidarisieren und zu koalieren. Es geht nicht an, ich auf den Loorbeeren auszuruhen, wenn Black Rock auf uns zurollt. Mit den Monkeys: I´m not your stepping stone. Keine aalglatten durchdesignten Jasager, wenn wir nicht Fußabtreter sein wollen. Es braucht mehr Rosa in der Welt, weniger Ampeln und noch weniger ungebremste freie Fahrt für freie Bürger, die vergessen haben, was Anstand und Haltung sind. Mit den Linken von damals gegen die Linke von Jetzt.

Foto Bernd Oei: Hausfassade des Orthopäden in Nienburg. Georg Herwegh, Freiheits-Lied 1. Strophe und Arbeiter-Lied, 3. Strophe

O Freiheit, Freiheit! Nicht wo Hymnen schallen,
In reichgeschmückten fürstlichen Arkaden –
Freiheit! Du wohnst an einsamen Gestaden
Und liebst die Stille, wie die Nachtigallen.

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still.
Wenn dein starker Arm es will.

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