
Foto Belinda Helmert: Hotel Grand Hotel am Wenzelplatz (1903 eingeweiht), in dem Kafka am 4.12. 1912 seine einzige öffentliche Lesung hielt. (https://prag-to-go.com/sehenswuerdigkeiten/grandhotel-europa) Innenaufnahme
Im Goldenen Gässchen
Siebenmal ist Franz Kafka (geboren 1883) in Prag umgezogen, immer in seinen Viertel nahe dem Geburtshaus geblieben (https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/alle-orte-im-ueberblick). Daran dürfte er sich jedoch kaum erinnern, da sein Vater Hermann das Hauswarengeschäft vergrößerte und zwei Jahre später umzog (https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/das-geburtshaus-franz-kafkas). Einer der Umzugsgründe war Kafkas Lärmempfindlichkeit. Nur einmal hat er das Planquadrat seiner Heimatstadt im jüdischen Viertel verlassen und ist auf die Kleinstadtseite unterhalb der Burg gezogen. Es ist zugleich das einzige Haus, das so geblieben ist, wie es Kafka vorfand und auch aufgrund seiner historischen Lage im Alchimistenviertel ein Publikumsmagnet. (https://prag.de/goldenes-gaesschen-in-prag/)

Kafka hat ab Sommer 1916-17 in dem goldenen Gässchen gelebt, zusammen mit seiner (Lieblings)Schwester Ottlia (https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/alle-orte-im-ueberblick/franz-kafka-im-goldenen-gaesschen), die ihn allerdings nur besuchte und nie beim nächtlichen Schreiben störte. Das Haus Nummer 22 wurde unter dem deutsch-römischen Kaiser Rudolph II (zudem König von Böhmen und von Ungarn) erbaut, um Goldschmiede anzusiedeln, was den Namen Zlatá ulička verbürgt. In diesem Haus entstanen sätmliche Geschichten, die im Erzählband Ein Landarzt 1920 veröffentlicht wurden. Darin enthalten sind neben der Titelgeschichte u.a. Vor dem Gesetz, das auch Teil des Romans „Der Prozess“ bildet und Bericht für eine Akademie, welches seinerseits eine Replik und Hommage an Hoffmanns Satire „Nachricht von einem gebildeten jungen Mann“ (1814) ist.

Auf dem Hausflur
Das schönste Haus das Kafka je bewohnte, ist das Haus Minuta, welches repräsentativ für das Unesco-Welterbe, die Prager Innenstadt ist und wie die meisten Gebäude aus dem 17. Jahrhundert stammt. Es verfügt über die prägende und charakteristische Renaissance-Fassadenkultur, dem Sgraffito. (https://prag-to-go.com/kafka-in-prag/alle-orte-im-ueberblick/haus-minuta). Die Wohnzeit fällt mit 1889-92 in die Zeit, die Kafaka traumatisiert, weil ihn der Vater die ganze Nacht in den kalten Hausflur stellte, als ihn sein Schreien störte. Er thematisiert das in seinem „Brief an den Vater“ und spricht von der Pawlatsche, was offenen Hauseingang bedeutet. Ob er dabei auch an der Tür oder den Wänden gekratzt hat ist unbekannt. Die Kratztechnik an den Häuserwenden samt multichromen Rauputz nennt sich Sgraffitto (https://de.wikipedia.org/wiki/Sgraffito).
Das Haus Dum y Minuti in der Staroměstské náměstí 2 heißt tatäschlich Haus zur Minute, war ursprünglich kleiner und wuchs mit der Stadt. Zu Kafkas Lebzeiten diente es als Apotheke (https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_zur_Minute und https://www.prague.eu/de/objekt/orte/1736/haus-zur-minute-dum-u-minuty). Möglicherweise bildet die nebenanstehende Turmuhr mit ihrem Glockenspiel den Grund dafür.

Kafka erwies sich nicht nur durch seine Arbeit ein Mensch, dem Pünktlichkeit äußerst wichtig war, er benutzte die Zeit auch als Stilmerkmal des Absurden im Domkapitel „Der Prozess“, das zudem gar nicht abgedruckt werden sollte. Auch in der Parabel „Gibs auf “ ist die Zeit der Knackpunkt. (https://www.abipur.de/referate/stat/671826352.html) Der Text lautet ungekürzt: „Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich daß schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst Du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘ sagte ich ‚da ich ihn selbst nicht finden kann‘ ‚Gibs auf, gibs auf‘ sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

»Hast du ein wenig Zeit für mich?« fragte K. »Soviel Zeit, als du brauchst«, sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage.„
Ohne Hoffnung gefangen
Aufgeben gab es für Kafka nicht, aber auch keine Hoffnung, nur einen Ausweg. Dies verdeutlicht „Der Bau“, einer seiner letzten Tier-Geschichten, in denen vermutlich ein Biber (als Hörspiel: https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/kafka-der-bau-rueckzug-100.html). De r erste Satz lautet: „Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen“. Doch zunehmende Geräusche irritieren den Architekten, der feststellen muss, dass es hundertporzentige Sicherheit ebensowenig gibt wie unendliche Stille, so lange man lebt (als Film:https://de.wikipedia.org/wiki/Kafkas_Der_Bau). der letzte Satz lautet: “ Solange ich nichts von ihm wußte, kann es mich überhaupt nicht gehört haben, denn da verhielt ich mich still, es gibt nichts Stilleres als das Wiedersehen mit dem Bau, dann, als ich die Versuchsgrabungen machte, hätte es mich wohl hören können, obwohl meine Art zu graben sehr wenig Lärm macht; wenn es mich aber gehört hätte, hätte doch auch ich etwas davon bemerken müssen, es hätte doch wenigstens in der Arbeit öfters innehalten müssen und horchen. – Aber alles blieb unverändert. – –“ (https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/bau/bau.html).

Dieser Satz dokumentiert das kafkaeske und die absurde Hoffnung, die Differenz zwischen Ausweg und Lösung, die Kafkas Werk durchzieht. Weshalb sollte das eigene (subjektive) Wissen oder Nichtwissen das Verhalten des (objektiv) anderen beeinflussen? So lange verweist erneut auf den temporären und äußerst fragilen Aspekt, hören und still exkludieren sich, es folgen der Konjunktiv und der Zwang, am Ende die Katalepsie. Eine Zustandsbeschreibung der Apokalypse und dennoch, da es ja unverändert blieb, Anfang und Ende zugleich.

„»Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt«, und ließ sich hinabfallen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“
Innere und äußere Gefangenschaft
Ein Gefangener, so fühlte sich Kafka gewiss, verstrickt in familiäre und berufliche Verpflichtungen. Auch dies scheint für die Moderne symptomatisch zu sein. Von Freiheit wird geträumt, gelebt aber wird sie nicht. „Der Bau der chinesischen Mauer“ erinnert an Gefangenschaft, an das Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der Starre bis zur Petrifizierung. „In der Strafkolonie“ verweist sowohl auf die äußere Begrenzung von Freiheit als auch der inneren, durch Schuld aufgezehrten und mit Selbstbestrafung suizidal endenden Unfreiheit. Zwang herrscht, wo immer man schaut und liest bei Kafka. Dieser notiert:
„Vom Strich angefangen mit Verzweiflung geschrieben … ich zur Vollendung des Unglücks so schlecht schreibe …weil ich so wenig Zeit habe, fast ganz unter Maxens Einfluß stehe …“ (Tagebücher, 1. Januar 1910)

Im Labyrinth
Max bezieht sich auf seinen engsten Freund Max Brod, dem es zu verdanken ist, dass Kafkas Werk nicht wie von ihm gewünscht, verbrannt wurde. Die Gefangenschaft in sich und seinem Körper, aber auch inneren Zwängen der Psyche, bleibt Kafkas Grundton. Er schildert ein dunkles Labyrinth anonymer Mächte, dem das Individuum ausgeliefert bleibt. Da das Transzendentale für Kafka nicht existiert, gibt es keine Rettung für das dem Außen entfremdete Selbst in eine Ganzheit. Das Ich bleibt gefangen in der Immanenz. Konvention bildet die eine Seite von Determnismus, von Mauern, die den Schriftsteller umstellten. Kafka war vielleicht von seiner Persönlichkeit weniger Künstler und mehr Beamter, insbesondere Gerichts-Angestellter. Jursipurdenz und Urteil bilden die andere Seite des Determinismus, der bei Kafka zudem Komponenten von Defätismus und Fatalismus enthielt.

Die Gänge in „Der Prozeß“ oder „DAs Schloß“ gleichen einem Labyrinth und K bzw. Josef K gelingt es nicht, an sein Ziel zu gelangen – der Tod ist sein Ausweg. Aber auch im ersten Roman, den Kafka „Der Verschollene“ nennt und den Brod unter dem Titel „Amerika““ veröffentlicht irrt Karl Roßmann als Gefangener des Raums im Schiff und als Sklave des Hotels in den Gängen umhe und erscheint als moderner Minotaurus, der auf Ariadnes Faden (den meist weiblichen Helfern) verzichten muss, weil sie ihn in die Irre führen.

“ … Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine ganze Ausstattung.«“ (https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/erzaehlg/chap010.html)
Doppelexistenz
Kafka führte eine Doppelexistenz zwischen erwerbstätigen Beruf und künstlerischer Berufung , von der ihn erst die tödliche Krankheit befreite. Er war ein Angestellter bei einer Versicherung, was ihn zu einigen seiner Geschichten inspirierte und er war ein disziplinversesener, auf Ordnung und Sauberkeit Wert legener, bisweilen pedantischer Schriftsteller. Keineswegs humorlos, wie Max Brod in einem Intrview festhält (https://www.youtube.com/watch?v=HLLoWh45jOA). Es fällt leicht zu sagen dass jeder von uns mindestens zwei Gesichter hat oder zwei Herzkammern in sich trägt. Doch im Fall Kafkas, der sich weder vom Vater zu lösen vermag noch für eine Frau wirklich zu entscheiden, entbehrt es nicht jener Tragik, die sein Schreiben über den Ausweg in hoffnungsloser Gefangenschaft erst ermöglicht.

„Ach Gott“, sagte er, stand auf, lehnte sich an mich und wir giengen, „da ist ja keine Hilfe. Das könnte mich nicht freuen. Verzeihen Sie. Ist es schon spät? Vielleicht sollte ich morgen früh etwas thun. Ach Gott.“ (http://www.kafka.org/index.php?beschreibung)
Für die Postmoderne gibt es kein souveränes Autor-Subjekt mehr, keine lineare oder progressiveGeschichte, sondern nur Verweise, Rückgriffe, Fußnoten, Kommentare, Gleichnisse, Paradoxa und ein Amalgam aus Verbindungen einzelner Autoren zu einem intersubjektiven Labyrinth aus Referenzen. Daher ist Kafkas Haltung und Schreibstil zweifellos postmodern. Den Protagonisten gelingt keine innere Balance oder Identität, daher suchen sie laut Maurice Blanchot in „Von Kafka zu Kafka“ den Sinn stets in der Außenwelt, in der „Verankerung in die Lebenswelt”. Kafkas Texte drücken Risse im abendländischen Denken aus, Instabilität und „Lücken in der Geschichte“; sie führen in ein „Wissenschaft des Labyrinths des Verweisens.“ Das Gedoppelte in Signifikat und Signifikant ist das Kafkaeske schechthin.

„Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger, wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun sollten … Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauflief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. „
Vor dem Tor
Gesetz und Gesetzeshüter, in Form von Richtern oder Urteil sprechenden Vätern nehmen einen großen Raum im Werk Kafkas ein. Von daher sind die Geschichten nicht ohne Religion (jüdische Mystik, Chassidismus) oder Klärung der Macht- und Schuldfrage zu verstehen. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-genialer-schilderer-der-macht-100.html)
Der Geistliche gibt im Domkapitel den Angeklagten das vielleicht berühmteste Gleichnis vom Türwächter und endet damit:
„Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹“ (https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/prozess/prozes93.html).
Zu kaum einem Gleichnis gibt es in der Literaturgeschichte mehr Interpretationen . Möglicherweise liefert aber eine Stelle aus „Amerika“ (Kapitel Hotel Occidental) den Schlüssel dazu, als Therese Karl von ihrer Mutter erzählt: „Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oder weggehen solle, und Therese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach.“

„Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße.“(Kafka, Die Zürauer Aphorismen)
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