Sturm und Drang in Straßburg

Foto: Bernd Oei: Stras(s)b(o)urg, Café Petit Ile, mit ältester und größter Plantane am Ufer des Rheinkanals III. Hier im nordöstlich gelegenen Stadtviertel verweilten Goethe, Lenz und Büchner, als Straßburg während des Sturm und Drangs und dem beginnenden Realismus zum Zentrum der Literatur avancierte.

Auf Lenzens Spuren

Wie schreibt Lenz so treffend in „Der Hofmeister“: „Wenn der alte Brunnen ausgeschöpft ist, je nun, so gräbt man einen neuen.“

Jakob M.R. Lenz (1751-92) war nicht nur Gegenstand Büchners Erzählung, sondern ein aus dem Livland stammender Dichter und Dramatiker, der mit 20 Jahren aus Königsberg nach Straßburg kam, wo er Goethe kennenlernte und diesem nach Weimar folgte. 1777 erkrankte er an Schizophrenie. Von seinem Dutzend Dramen ist „Die Soldaten“ (1776) das bekannteste. Der erste Satz der Komödie (laut Lenz, eigentlich ist es eine bürgerliches Trauerspiel) lautet „Schwester, weißt du nicht, wie schreibt man Madam, Mama, tamm tamm, me me.“ Wie fast alle seine Stücke erlebte der Autor seine Aufführung nicht: Goethe, einst sein Freund im Elsass, wusste es zu vereiteln. So erfolgte die Premiere in Wien fast ein Jahrhundert später.

Büchner entlehnte dem Stoff sein wesentlich berühmteres Drama „Woyzeck“, änderte aber das Milieu von bürgerlich in Arbeiterklasse. Es handelt einerseits vom Scheitern der jungen Marie, die einen braven Tuchhändler liebt, doch den Verführungskünsten eines schneidigen Soldaten erliegt, der sie schwanger und entehrt sitzen lässt. Die Kulissen könnten dem „Kleinen Frankreich“ in Straßburg entnommen sein. https://freie-referate.de/deutsch/die-soldaten-lenz

Foto Bernd Oei: Straßburg, Mai 2018, Petite France, Gerberviertel. https://de.wikipedia.org/wiki/Petite_France_(Stra%C3%9Fburg)

Lenz avancierte neben Schiller zum Hauptvertreter des Stum und Drang. Er war v.a. von Shakespeare beeinflusst. Die Szenen im Stück sind lose aneinander gereiht. Ich sah es 2017 an der Volksbühne in Berlin https://volksbuehne.adk.de/praxis/die_soldaten/index.html kurz vor meiner Rhein-Radtour.

Die im Elsass gelegene Stadt ist heute die Hauptstadt vom unteren Rhein, Bas Rhin und hat etwa 290 000 Einwohner. Zu Lenz´Zeiten (1771-76) betrug die Bevölkerung etwas mehr als ein Sechstel davon. Allerdings war es damals literarisches Schmelzbecken französisch-deutscher Kulturen.

In seinem Essay „Über Götz von Berlichingen“ schreibt er, es sei kein Wunder, wenn die Philosophen so blutleer philosophierten, wie sie es (augenblicklich wieder) tun. https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch-abitur/artikel/jakob-michael-reinhold-lenz

Zerrüttete Verhältnisse

Der Sturm und Drang setzt sich mit seiner Emotionalität bewusst von der Aufklärung ab. Charakteristisch sind u.a. Kindsmord, Genieästhetik, Shakespeareianismus und Volkslieder, darin die Romantik antizipierend. Auf den Übergang dieser Epoche folgte die diametral auseinanderlaufende Ästhetik der Frühromantik einerseits und der Weimarer Klassik andererseits; Lenz stand dazwischen. Die Verhältnisse mit Goethe, auch die Liebschaften, waren äußerst verworren. So verliebte sich Lenz in die von Goethe verlassene Mädchen Friederike Brion. https://www.deutsche-biographie.de/sfz70498.html

Foto Bernd Oei Strassburg, Petite France im Südwesten der grand île. https://de.wikipedia.org/wiki/Petite_France_(Stra%C3%9Fburg). Ganz in der Nähe das „Hospiz der Unheilbaren“, in das man Lenz hätte einweisen können. Während oben die Menschen gesund gepflegt wurden, setzierte man seit dem 14. Jahrhundert am Ende des Kellers Leichen. Ihre anatomischen Studien nahmen die Ärzte und Studenten an den Körpern von Hingerichteten vor, die sie durch einen geheimen, unterirdischen Gang aus den Gräbern vor den Stadttoren in den Weinkeller des Hospitals brachten. Büchner zeigte sich interessiert.

Schon bevor Napoleons Truppen den Bewohnern Strassburg die Syphillis bescherten beherbergte das 1503 gegründete Hospiz Soldaten, die sich mit dieser heimtückisch und tödlich verlaufenden Krankheit in Italien infiziert hatten. Die Sprache ist in Lenz´ Dramen überaus derb und direkt, ein Vorgriff auf den Naturalismus und seine Milieustudien.

„Halt’s Maul!“ und andere Kraftausdrücke bilden keine Seltenheit in „Die Soldaten“, das bei aller Innovation dennoch aus fünf Akten besteht. Im Schlussdialog zieht man das Fazit, ein guter Ehmann sei ein schlechter Soldat und die Gräfin seufzt: „Wie wenig kennt ihr Männer doch das Herz und die Wünsche eines Frauenzimmers.“ http://www.zeno.org/Literatur/M/Lenz,+Jakob+Michael+Reinhold/Dramen/Die+Soldaten/5.+Akt/6.+Szene

Pikanterweise enthält der Schlussatz des Regimentschefs eine Steilvorlage für die heutige Situation: die äußere Sicherheit des Landes lässt sich nicht durch die innere aufheben, „in der bisher durch uns zerrütteten Gesellschaft Fried und Wohlfahrt aller und Freude sich untereinander küssen„.

Der überaus gottesfürchtige Dichter nahm Anstoß an Goethes Umgang mit Liebschaften. Wegen übler Nachrede – er hatte Goethes Eskapaden beim Namen genannt – wurde der Dichter aus Weimar verbannt.Lenz litt wie Hölderlin und Kleist an einem sentimental-melancholischhen Gemüt. Um es mit Büchner zu sagen „So lebte er dahin.“

Büchners Adaption

Worum geht es in Büchners Novelle, die er 1836 beendete? Um eine ‚Pathographie‘, eine ‚Schizophreniestudie‘, wie verschiedene Rudolf Weichbrodt im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1921 und Gerhard Irle in seinem Buch Der psychiatrische Roman, 1965 behaupten? Der Medizinstudent konnte genau beobachten und so durchaus eine exakte Beschreibung einer psychischen Störung geben. Aber sein „Lenz“ (der Titel wurde bei seiner Publikation durch Gutzkow posthum geändert lässt sich auf eine Fallstudie nicht reduzieren. Der Text gibt keine Information über die Vorgeschichte, sondern setzt unvermittelt wie eine Kurzgeschichte ein und bis auf die Andeutungen über seine unglückliche Liebesbeziehung (zu Friederike) bleibt die Vergangenheit im Dunkeln. Büchner schildert keinerlei Entwicklung oder Verlauf ; ‚Lenz’ Zustand verschlimmert sich, doch gibt es keine wirkliche Veränderung.

In meinem Buch „Vormärz: Heine – Hebbel – Grabbe Büchner “ beschäftigt sich ein Kapitel mit der verstörenden Erzählung. Es scheint, als ob der Dichter mehr die Verworrenheit seiner Zeit als ein Individualschicksal aufzeigen will.

In diesem Zusammenhang gewinnt das scheinbar überdimensionierte und den Fluss der Erzählung unterbrechende poetologische Gespräch mit Kaufmann Bedeutung. Lenz vertritt darin eine Position, die sich gegen die idealistische seines Gegenübers wendet: „Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.“ Das ist mehr als die fiktive Wiedergabe einer typischen Diskussion aus der Sturm-und-Drang-Zeit. Damals beginnt die von Kant, Schelling, Fichte und Hegel geprägte Phase des deutschen Idealismus in der Philosophie – wenn man sich vor allem Fichtes Position vergegenwärtigt, die alles Sein aus dem Subjekt, also dem Ich definiert, so erscheint Lenz’ Gefühl, „als sei nichts als er“ als beängstigendes Zerrbild dieses erkenntnistheoretischen Ansatzes.

Foto Bernd Oei: Strassburg, Petite France, Café, Platane am Quai de la Bruche, Mai 2018 vor dem Fußball WM Endspiel Frankreich-Kroatien 4:2.

Diese, die älteste Platane der Stadt vor dem café au Petit Bois Vert, wurde 1667 noch im Fürstenbistum gepflanzt. Wenig später besetzte Sonnenkönig Ludwig die Stadt und annektierte sie. Im Barock endete Strassburgs Sonderstellung. Der Begriff leitet sich vom portugiesischen Wort ‚barocco‘ (Perle) ab.

Welt als eingeritztes Schriftzeichen

1831 bis 33 verbringt auch Büchner (etwa 60 Jahre nach Lenz) zwei prägende, zudem verliebte Jahre in Straßburg. http://buechnerportal.de/zeittafel/strassburg-1831183. Er wohnt im Pfarrhaus in der Rue St. Guillaume 66 (Wilhelmsstraße) nahe der gleichnamigen, noch bestehenden, Kirche https://geschwisterbuechner.de/2013/12/13/en-goutant-les-souvernirs-doux-de-strasbourg/

Mit dem Gegensatzpaar Oberlin / Lenz ist ein Generationenkonflikt beschrieben, der eine entscheidende geistesgeschichtliche Entwicklung in sich trägt: die Ablösung des christlichen Weltmodells durch ein emanzipiert-rationalistisches. Lenz kann die alten Deutungsmuster nicht mehr übernehmen, hat aber kein alternatives Sinngefüge entgegenzustellen. Die Welt wird zum unbegreiflichen und unverständlichen ‚Hieroglyphen‘.

Die innere Zerrissenheit des Dichters scheint symbolhaft für die des Vormärz, der krisenhaft 1835 ausbrach, hervorgerufen durch eine Welle von Verboten, Verfolgungen und Denunziationen. Büchner bezeichnete die Atmosphäre aufgestauter Aggressionen als „Fieber“. Für diese Deutungshypothese spricht das integrierte zentrale Kunstgespräch zwischen Lenz (Vertreter des Sturm und Drang) und Kaufmann (der die Klassik vertritt). Lenz wie später Büchner rechnen mit dem Idealismus ab: „Da wolle man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.http://www.zeno.org/Literatur/M/B%C3%BCchner,+Georg/Erz%C3%A4hlung/Lenz

Ob Büchner Lenz bisweilen als Sprachrohr für seine eigene, vom Realismus und sozialer Gesellschaftskritik geprägte Anschauung benutzt, kann nur vermutet werden. So heißt sagt dieser im Kunstgespräch mit Kaufmann: „Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden …“

Foto Bernd Oei: Petite France, Ufer des Rheinkanals Rhin III mit Blick auf Café und Platanen-Allee Quai de la Bruche. Diese bildet die nördliche Grenze des pittoresken Viertels mit den ältesten Häusern der Stadt, die auch Lenz und Büchner sahen. https://www.visitstrasbourg.fr/de/bemerkenswerte-baume/

Rivalität zu Goethe

Foto Bernd Oei, Bierakademie nahe den ponts couverts, den gedeckten Brücken aus dem 13. Jahrhundert. Die drei mittelalterlichen Ziegeltürme im Hintergrund des Stadtviertels La Petite France gehen auf die älteste Stadtmauer zurück und waren einst mit Galerien aus Holz überdacht.

https://int.strasbourg.eu/de/place/-/entity/sig/958_CUL_109

petite france. Rund um die ponts couverts herrscht ein Bierparadies https://www.bonjour-elsass.de/project/village-de-la-biere-strassburg/

Zwischen Lenz und Kaufmann entwickelt sich ein Dialog über Kunst und den notwendigen Wahrheitsgehalt in der Kunst, in denen die Figur Lenz Goethes Doktrin in „Dichtung und Wahrheit“ (1829) in mehrfacher Hinsicht widerspricht. Die Ikone der Weimarer Klassik verweist rückblickend auf den Suizidgefährdeten (14. Buch) als „merkwürdiger Mensch“, der an „Selbstquälerei ohne Not“ litt, und an seiner „Zeitgesinnung“ zugrunde ging.

Lenz´ tragisches Ende im Wahn ist bekannt: die direkte Verbindung über den in der Erzählung ihm wohlgesonnenen Oberlin realistisch geschrieben. Büchner schildert einen authentischen Fall in seinem letzten Aufbäumen gegen Krankheit und Verfall, er schildert ihn eindringlich mit Anteilnahme und Sympathie.

Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt …“

Straßburg, Gerberviertel: das Quartier des tanneurs, ist der am meist fotografierte Viertel in Straßburg : alte, schiefe, schwarz und weiße Fachwerkhäuser  mit roten Geranien sind charakteristisch. https://typischfranzoesisch.de/kleine-tour-durch-strassburgs-historisches-stadtzentrum/

Sofern der Idealismus dem lebendigen fühlenden Individuum Gewalt antut, vollfährt er wie der politische Realismus, der ihm physisch Gewalt zufügt. Beides verhindert, dass sich die Persönlichkeit entwickelt und als Selbstzweck wahrnehmen kann, der Kants wichtigste Prämisse „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ entspricht. In „Lenz“ steht daher Büchner Kant und den Ur-sprüngen der Aufklärung weit näher als die aus ihm hervorgehenden Strömungen der Romantik und der Klassik.

Büchners Erzählung ist hier, wenn überhaupt, nicht mit Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, sondern mit Kleists zerrissenen Charakteren vergleichbar; sie leiden nicht an Schwermut oder Weltschmerz, sondern an der wahrgenommenen Kluft zwischen Ästhetik und Ethik, Anspruch und Wirklichkeit. Einerseits soll und kann der Mensch anders als das Tier Einfluss auf sein Schicksal nehmen, andererseits sind ihm oft alle Türen versperrt; auch Büchner schwankt zwischen Revolution (Junges Deutschland) und Resignation (Fatalismus).

Goethe, Herder und der Kindstod

1770 erreicht Joahnn Wolfgang (noch kein von) Goethe im Alter von 21 Jahren Straßburg – er will sein Studium beenden und seinen Jura-Doktortitel machen. Im Oktober trifft Herder ein und beide Repräsentanten der sich entwickelnden (Weimarer) Klassik treffen sich – pikanterweise in Gasthaus „Zum Geist“. https://www.deutschlandfunk.de/johann-gottfried-herder-wunderkind-forscher-und-philosoph-100.html. Der fünf Jahre ältere Johann Gottfried Herder schreibt gerade an der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“.

Zu Goethes Zeit ist die elsässische Stadt größer und bedeutender als Frankfurt und er ist gerade von einer lebensbedrohlichen Krankheit (Tbc) genesen, die seine ausgeprägte Abscheu vor dem Tod erklärt (welcher die Romantiker anzieht und fasziniert). Das Treffen mit dem damals berühmteren Herder bezeichnet Goethe denn auch als „bedeutendste Ereignis“ seines Aufenthaltes, der 1772 endgültig endete.

Seine Promotion an der Straßburger Universität handelte über das Verhältnis von Staat und Kirche. Goethe erschien seinen Lehrern als Atheist und der Dekan der Universität weigerte sich zunächst, die Dissertation anzunehmen. So kam es zu einem Kompromiss: abgenommen wurde dem angehenden Juristen eine Widergabe von Thesen inb lateinische rSprache. Markant: Goethe bezog Position zum Kindsmord; der Grundstein der Gretchenfrage in „Faust I“ war damit bereits gelegt. http://www.goethezeitportal.de/wissen/projektepool/goethe-schiller-co/sturm-und-drang/timeline.html

Foto Bernd Oei: Straßburger Münster, rosafarbener Sandstein der Cathédrale Notre-Dame. Der (Nord)Turm ist mit 142 mder zweithöchsten in Frankreich. Zum Vergleich: das Ulmer Münster ragt 161 m und der Kölner Dom 157 m in die Höhe.https://www.visitstrasbourg.fr/de/entdecken/highlights/das-strassburger-muenster/

Straßburger Münster, Hauptportal https://www.visitstrasbourg.fr/de/fiche-sit/F223007269_das-munster-von-strassburg-strasbourg/

Begegnung mit Lenz, die Sache mit dem Arsch

Kurz nach Herders Abreise fand Goethe die Gesellschaft des ankommenden Lenz. Zusammenkünfte u.a. von beiden Dichtern des Sturm und Drangs sind im Haus bei Josef Daniel Salzmann, einem Straßburger Juristen und Philosophen, verbürgt. Goethe schrieb im Frühjahr „Willkommen und Abschied“, das 1775 veröffentlicht wird. Die erste Zeilen der Ballade lauten: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! / Es war getan fast eh gedacht; /Der Abend wiegte schon die Erde, /Und an den Bergen hing die Nacht„: https://www.youtube.com/watch?v=7LIzcS-jL9M

Goethe selbst nennt es in „Wahrheit und Dichtung“ autobiografische Widergabe seiner stürmischen Beziehung zu Friederike Brion, jener Pfarrerstochter, die Lenz gleichfalls begehrte und die Goethe sitzenlies. Das Mädchen, damals achtzehn- und neunzehnjährige Mädchen gilt als Muse seiner Sesenheimer Lieder. Goethe bekannte sich moralisch schuldig, Lenz versuchte die im August 1771 unglücklich Verlassene zu trösten, doch die Frau blieb bis zu ihrem Tod 1813 unverheiratet. Die Beziehung zu Goethe währte nur neun Monate, doch sie veränderte nachhaltig ihr Wesen. https://www.dw.com/de/das-elsass-und-goethe/a-40053100

Zumindest eine Urfassung von „Götz von Berlichingen“ entstand, auf die sich Lenz auch in seinem Essay bezieht. Das Drama wurde 1773 vollendet und erlangte kurz darauf eine Uraufführung in Berlin. Es gilt neben dem darauf erschienenen „Werther“-Roman unbestritten als Meisterwerk des Sturm und Drang. Ebenso unbestritten ist, dass Goethe von der Heftigkeit der Leidenschaft erschreckt, die literarischen Figuren leiden und sterben lies und selbst vorzug, genussvoll und harmonisch zu leben. Daher markiert es einen Wendepunkt des frühen Stürmers und Drängers zum reifen Dichter der Klassik.

Straßburger Münster, Bauzeit 1176 bis 1439; la cathédrale. Kathedra (gr.) bedeutet lediglich Sitz und verweist auf eine katholische Instititution. Ein Dom kann, muss aber nicht katholisch sein. Ein Münster hat ein angegliedertes Kloster. Letztlich hängt die Bezeichnung von der Region ab.

Foto Bernd Oei. Die Kathedrale verfügt über eine Außenlänge von Außenlänge gesamt: 112 Metern https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fburger_M%C3%BCnster

Foto Bernd Oei: Straßburger Dom aus der Ferne. Er wurde u.a. während der Französischen Revolution,im 2. WK und der Bilderstürmerei stark beschädigt. Lange galt er als höchstes Gebäude Europas. Ein Südturm hat nie existiert. https://www.gettyimages.de/fotos/strassburger-m%C3%BCnster

Im „Götz von Berlichingen“ areitet sich der junge Schriftsteller an einem historischen Ereignis ab udn sptitzt es drastisch sowie dramaturgisch zu. https://www.studysmarter.de/schule/deutsch/drama/goetz-von-berlichingen/

Da schrie der Amtmann oben heraus, da schrie ich wieder zu ihm hinauf, er sollte mich hinten lecken …“ In seinen Lebenserinnerungen drückt sich der über 80-jährige Ritter Götz von Berlichingen geradezu vornehm aus, als er sich an einen Streit mit dem Mainzer Amtmann in Krautheim erinnert. Goethe macht daraus in seinem Schauspiel „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ 1773 : „Vor Ihro Kayserliche Majestät, hab ich, wie immer schuldigen Respect. Er aber, sags ihm, er kann mich im Arsche lecken!“ Wohlgemerkt im Arsch, nicht am Arsch. Bei der Belagerung der Burg fällt der sogenannte „Schwäbische Gruß“ im dritten Akt http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Dramen/G%C3%B6tz+von+Berlichingen+mit+der+eisernen+Hand/3.+Akt

Zwar behält Goethe (wie Lenz in „Die Soldaten“) die kanonisierte Einteilung in Akte bei, verzichtet aber bereits auf klar gegliederte Szenen. – Pikanterweise spielt auch hier ein gewisser Kaufmann eine Nebenfigur. Goethe reizt der innere Konflikt: Der junge Götz von Berlichingen versucht es zunächst mit dem Fürstendienst, für den Markgrafen von Ansbach zieht er in die Schlacht und verliert dabei seine rechte Hand. Seine eigenen Leute schießen sie ihm weg, im friendly fire. Seitdem will er niemandes Knecht mehr sein oder einem anderen Fürsten dienen. Seine Prothese wird zum Dingsymbol der Zeit: eisern und zugleich verstümmelt. https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag6808.html

Haus Kammerzell, Münsterplatz in Straßburg um 1900 Es stellt das bekannteste profane (Fachwerk)Gebäude der Stadt dar (https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fburg#/media/Datei:Strassburg_um_1900_(cropped).jpg) Die Grundmauern stammen aus dem Jahr 1427. In der aufwendigen Schnitzfassade finden sich Motive aus der Bibel, der griechisch-römischen Antike und des Mittelalters. Das Haus steht auf der Nordseite des Münsterplatzes (Place de la Cathédrale), seitlich vom Straßburger Münster. https://www.visitstrasbourg.fr/de/entdecken/highlights/grande-ile/

Goethe lebte 1770/71 in der Straße alter Fischmarkt Nr. 36 unweit der westlich gelegenen Petite France und der östlich situierten Wilhelmskirche, deren angrenzendes Pfarrhaus Büchners Wohnsitz wurde (Karte: https://mapcarta.com/de/W24912879). Er wohnte im zweiten Stock https://www.europeana.eu/de/item/9200518/ark__12148_btv1b10202755v

Foto Jean Marc Pascolo, Goethehaus in Strassburg, Alter Fischmarkt.

Wetterwendisch

Goethe setzt mit seinem ersten Bühnenwerk neue Maßstäbe und nebenbei einem nahezu vergessenen Ritter vom Neckar ein Denkmal. Er thematisiert darin den verlorenen Wert der Ehre, der Standhaftigkeit und Unbestechlichkeit, womit er eindeutig Kritik an den herrschenden Verhältnissen äußert und der Romantik mit ihrer Mittelalter-Nostalgie Vorschub leistet. Aufgeben kennt dieser Mann ebensowenig wie diplomatische Winkelzüge oder Ränkespiele der Politik. Man möchte das Werk zugleich eingebettet in Idealismus und Realismus sehen. Götz steht für eine Umbruch- oder Wendezeit, die auch Goethe erlebte, denn seine Epoche wurde vom Sturz des Ancien Régime, der Aufklärung und der Französischen Republik mit nachfolgenden Napoleonkriegen geprägt.

Das Drama enthält einige bemerkenswerte Attribute wie wetterwendisch im dritten Akt („Das Glück ist wetterwendisch„). Allerdings liegt hier die lateinische Quelle nahe, denn Homer sagt: „Fortuna homini plus quam consilium valet.“ Wie oft Goethe sich anderswo bedient und umformt, mögen Spezialisten beantworten. Es ist nicht verboten, Gedanken zu verdeutschen.

Goethe geizt nicht mit volkstümlicher Philosophie „Wo viel Licht ist, da ist auch starker Schatten“ im ersten Akt, sowie zeitlose Gedanken à la „Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer.“ (1. Akt). Wo Lenz bereits atemlos wird, triumphiert bei Goethe das Verständliche und Ausgewogene. Harmonie zeichnet sein Werk bereits im aufwühlenden Sturm und Drang aus. Das alles spricht keineswegs gegen den Dichter aller Dichter, vielmehr für seine Popularität und Erdverbunenheit, die einem Lenz, einem Kleist oder einem Hölderlin abgingen.

Büchner wurde keine 24 Jahre, Lenz 41 (davon seit 1777 krank), Goethe hingegen über 82 und durchlebte daher drei Generationen und literarische Epochen.

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