Foto: Das Götzenbuch (Ausgabe 1988), Grafiker und Autor Bruno Schulz. Titel der Skizze: Cicero und ihre Truppe. Schulz 1892-1942 lebte in Drohobycz nahe Lemberg, Galizien. Als polnischer Jude hatte er eine „zweihundertprozentige“ Chance auf offener Straße erschossen zu werden, was auch geschah.
Leben in der Bodenlosigkeit, Versinken im Schlamm
Avantgarde, Vorreiter der Moderne, so sagt man. Ausnahmeküsntler wie Kafka oder Joyce. So lobt man den sprachlich und zeichnerisch Hochbegabten, das Genie Bruno Schulz. Sein Schicksal blieb eng mit der Umgebung, seinem polnischen Heimatort und seiner politischen Lage verbunden, der heute zur Ukraine gehört. Polens Schicksal ist für Teilungen und Geheimabsprachen geradezu prätestiniert. Der ferne Osten Österreichs! – Galizien & Lodomerien und die Bukowina.
Aufgewachsen im nationalen Schmelztigel des k. u. k. Vielvölkerreichs der Habsburger, sprach Schulz auch Deutsch. In diesem Mikroskop diverser Ethnien wuchs der Künstler Schulz auf, der sein Auskommen als Werks- und Zeichenlehrer in Drohobycz fristete. Er selbst sah sich als polnischer Jude mit deutschem Bildungshintergrund (u.a. half er bei der Übersetzung Kafkas ins Polnische). Die Russen, welche im Zweiten Weltkrieg die Stadt einnahmen, sahen in ihm nur einen verhassten Polen. Die nachrückenden Deutschen sahen in ihm nur den minderwertigen Juden. Ab 39 stand sowohl auf polnisch als auch semisch die Todesstrafe; die Menschen im Ghetto waren Freiwild für die Soldaten. Im übrigen glaubten auch die damaligen Herrenmenschen im Recht zu sein und Gutes zu tun, wenngleich sie nicht von Demokratie sprachen, sondern unverblühmt von Herrschaft und dem Recht des Stärkeren.
Foto aus dem Grafikzyklus von Schulz, Das Buch vom Götzendienst 1921. Selbstportrait Bruno Schulz
Schulz wurde 1892 in Galizien nahe Lemberg (heute Lwiwm Ukraine, 730 000 Einwohner) geboren, einer multiethisch geprägten Region, aus der zeitgenössiche Schriftsteller wie Joseph Roth, Paul Celan, Leopold von Sacher – Masow, Karl Emil Franzos, Martin Buber oder Hermann Kesten entstammten. Ein versierter Kenner der Region, Martin Pollack (https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Pollack#B%C3%BCcher), Autor des Buches mit dem langen Titel „Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen u. Ruthenern. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina“ nennt die Verklärung dieses leidgeprüften und kulturell so ergiebigen Landstrichs zum einheitlichen Schetl eine nostalgische Weichzeichnung (https://magazin.wienmuseum.at/mythos-galizien). Zerrissen und dem Untergang geweiht war nicht nur Galizien, sondern auch die Seele des Künstlers Schulz.
Der tschechische Autor Milan Kundera, bekannt durch „Die Leichtigkeit des Seins“ rechnet Galzien samt der Bukowina Mitteleuropa zu und spricht von einem entführten Stück Orient „un occident kidnappé“ (https://magazin.wienmuseum.at/mythos-galizien). In jedem Fall kommt der polnischen Heimat im Werk des Grafikers und Romanciers eine Schlüsselrolle zu. Das von der aufkommenden Industrialisierung (u.a. Erdöl) geprägte Drohobycz bezeichnete er als „bodenlose gelbe Pfütze.“ Sein Stil oszilliert filligran zwischen Symbolismus, Expressionismus und Surrealismus. Kafka in polnischer Version; ein Franz, der zu Bruno mutiert. Beide brachten Metamoprhosen und zeitlosen Wandel als auch Umwälzung in ihrer Epoche auf den Punkt.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Drohobycz (Galzien, heute Ukraine) um 1914, die Geburtsstadt und Wirkungsstätte von Schulz. Zischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg hatte der Ort nahe Lemberg ca. 30 000 Einwohner, heute sind es etwa 76 000. (https://www.alamy.com/stock-photo/drohobycz.html?sortBy=relevant). Zuerst wurde Lemberg aber am 3. September 1914 von russischen Truppen besetzt, die das Konstrukt Galizien als hinfällig ansahen und Lemberg zum Teil des Zarenreiches erklärten, bevor 1915 die Stadt von österreichischen Truppen zurückerobert wurde.
Farben sprechen, schreien, torkeln
„Dämmernde Strudel. Was tut die Hand in der gelben Pfütze? Bodenlos. Felder, wiesen, Wege, Gesichter. Studel aus bodenblosen Schmerz. Lehm, Sonne, Nebel. Und Hände. Hände, die in gelben Pfützen versinken. Fahlende Blässe nie vergessener rasender Bilder. Blick ins Unten.“
Eine kurze Textpassage genügt, um zu erkennen, wie Schulz seine Bilder anordnet. zum einen gleichen sie dem Labyrinth der Gassen seiner Heimatstadt, zum anderen wiederholt er viel, arbeitet mit Tiefe bzw. Höhe und reiht Adjektive, manchmal auch Nomen aneinander. Es entstehen Hypotaxen und Metaphern durch Farbe, die wie Bilder sprechen, meist trunken machen. Schulz studierte auch Architektur, brach das Studium ab, als sein Vater krank (schizophren) wurde und das Geschäft, einen florierenden Krämerladen, nicht mehr halten konnte. Der Vater und sein Faible für Vögel wird zu einem Leitmotiv und wieder fließen Märchen, Mythen und Realität ineinander, wie man es später vom magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren her kennenlernen sollte.
Nach der Okkupation 41 durch die Faschisten, lebte Schulz Einzig der Schutz des vielfachen SS-Mörders Felix Landauer (dem Wiener sollte ein langes Leben bei geringer Haftstrafe vergönnt sein), der sich selbst für einen verhinderten Architekten und Kunstkenner sah und den Zeichner und Grafiker Schulz für die Ausgestaltung seiner Villa am Stadtrand engagierte. Für dessen Sohn malte er Märchenfiguren, um zu überleben. Einem brutalen Mörder verdankte Todeskandidat Schulz eine vorübergehende Atempause. Als Gegenleistung musste er die Wände mit einnem Bilderzyklus ausstatten, in dem Schulz die Gesichter ihm bekannter Personen, auch das eigene, einbettete. Das Modell seines illustrierten Märchenwaldes bildete jener Ort des Grauens, in dem Landauer und seine Kollegen zum Spaß Juden exekutierten. Zynische Pointe: Landauer erschoss einen falschen Juden, den Zahnarzt Löwe, den der SS Führer Günther protegierte. Dies führte zum Ehrenduell. Mit den Worten „Du hat mir meinen Juden genommen, also habe ich dir deinen Juden genommen“ liquidierte er Schulz, der 52 Jahre alt wurde.
Dieser hatte als Warnung vor der Diktatur bereits 39 prohezeit: „Im November werden wir alle liquidiert. Die Juden in dieser Stadt verschwinden spurlos wie Wind“ . Er beschrieb die Szene, die man aus Celans „Todesfuge“ kennt: Deutsche Soldaten machen sich einen Spaß daraus, die Juden zu Musik und Tanz zu zwingen, wenn sie eine Straße überqueren wollen und lassen sie stundenlang tanzen, um sie dann je nach Laune zu erschießen oder freizulassen. Totentanz war auch ein Sujet des Malers Goya, dem unbestrittenen Vorbild des Grafikers.
Fechtmeister der Fantasie
Im Ghetto blühte die Fantasie. Nicht nur der Vater von Schulz, der bereits 1915 starb, war ein „Fechtmeister der Fantasie“. Um zu überleben braucht es Hoffnung und die Hoffnung braucht Utopien, deren Nahrung Gerüchte sind. Man fühlt sich an „Jakob, der Lügner“ erinnert, dem Roman des in Lodz geborenen Jurek Becker, in dem es heißt: „Das Ghetto lebt von Gerüchten“. Die Hoffnung, die Deutschen würden den Krieg verlieren und die Russen wiederkommen, konnte jedoch nur einige trösten. Andere wie den Maler und Philosophen Stanislaw Ignacy Witkiewicz (https://de.wikipedia.org/wiki/Stanis%C5%82aw_Ignacy_Witkiewicz), der das „Junge Polen“ vertrat, nahm sich auf der Flucht vor der Roten Armee bereits 1939 das Leben, weil er Stalin noch mehr fürchtete als Hitler. Er und Schulz lernten sich nach dem Ersten Weltkrieg kennen und er setzte sich für die Veröffentlichung des „Götzenbuchs“ beim Lemberger Friedmann-Verlag ein. Der sieben Jahre ältere Witciewicz, der sich auch Witkacy nannte, äußerte sich über das für Schulz so charakteristische Schweben zwischen Fiktion und Realität wie folgt:
Ein Film über Schulz, die Spuren die er hinbterlies, hauptsächlich auch in der Villa Landaue, die heute virtuell wieder nachvollziehbar durch die akribische Arbeit des Filmemachers Benjamin Geissler, liefert dessen Dokumentation: Wer war Bruno Schulz? Dazu gibt es Perspektiven und nicht eine Antwort.
Wer war Bruno Schulz? | Im Focus
Die Zimtläden (1933)
„Im Juli pflegte mein Vater ins Bad zu fahren und mich zusammen mit meiner Mutter und meinem älteren Bruder den weißglühenden und berauschenden Sommertagen auszuliefern. Trunken vom Licht blätterten wir in dem riesigen Ferienbuch, dessen Seiten leuchtend flammten und auf ihrem Grund das bis zur Besinnungslosigkeit süße Fruchtfleisch goldener Birnen bargen.“
So beginnt der Roman „Die Zimtläden“, der eigentlich kein zusammenhängender Roman mit geschlossener Handlung ist, sondern ein Sammelband von Erzählungen, allerdings aus der Sicht eines Kindes und damit autobiografisch erzählt. Der Rezensent der Zeit Fokke Joel schreibt von der „verlorenen Sache der Poesie“, der sich Schulz meisterhaft angenommen habe. (https://www.zeit.de/online/2008/29/bruno-schulz). Schulz schreibt, er habe den Erinnerungen, die keinen Platz in der Chronologie des Erzählens finden, einen Ort zugewiesen; eben den Zimtläden, die sich entfernen, je mehr an sich ihnen nähert. Er nennt dies „Nebengleise der Zeit„. Als das Ideal der Menschwerdung erkennt er die Dialektik des Rückgangs, das sich dem zermalmenden Fortschritt entgegenstellt und das nüchternem Erwachsenwerden in vitale Einbildungskraft umkehrt. Die wahre Reife des Erwachsenen liegt in seiner Kindheit.
Aufgrund der Bedeutung, welche die verlorene Kindheit für ihn einnimmt vergleicht ihn der Zeit-Kolumnist Fokke Joel mit Proust, wozu auch seine Isolation zähle. Dabei war Schulzu so wenig ein unverstandere Sonderling wie Van Gogh oder Kafka und keineswegs ein gänzlich unbekannter oder gar isolierter Künstler. Wie der berühmte Maler verdingte Schulz sich lebenslang zum Broterwerb als Zeichenlehrer und wie die moderne Stimme des Absurden verkehrte er in einem Kreis, der das Judentum spät für sich entdeckte, weil er mit dem orthodoxen Chassidismus nichts anzufangen wusste.
Eine Stilblüte seiner „Zimtläden“ bilden „die endlosen Mauerringe des gelben Hauses“ (van Gogh malte in Arles ein gelbe Haus und lebte in einem solchen) – sie erinnern als Dostojewskis Stereotyp „gelbes Lachen“ ebnso wie an Kafkas mehrfach gebrauchten Ausdruck „gelbe Zähne“ und van Goghs markante Vorliebe für Stoppelfelder und Sonnenblumen.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Stryjiskastraße, die im Roman „Die Zimtläden“ eine Schlüsselrolle einnimmt. Der englische Name für den 1933 veröffentlichten Roman von Schulz lautet „The crocodile street“. Spätestens seit der mit der Neuübersetzung durch Doreen Daume verbundenen Renaissance, die einer Neuentdeckung gleicht, zählt Schulz zu den berühmtesten Autoren der polnischen Avantgarde und die Straße zum Mittelpunkt des jährlichen Schulz-Festivals. (https://www.aleksander-brueckner-zentrum.org/studiengang/exkursion-lublin-bruno-schulz-fest-2022)
„Er geht aber immer von Konkretem aus: Von einer Winternacht, einem Landstreicher im verwilderten Garten, einem versoffenen Onkel, der stadtbekannten Irren oder einem zwielichtigen Stadtteil“, urteilt Literaturitikerin Maja Rettig. (https://literaturkritik.de/id/11772). Schulz beschreibt anfänglich seinen Vater, „einen Fechtmeister der Einbildungskraft“, der auf seinem Dachboden exotische Vögel züchtet, um der stumpfsinnigen Monotonie des Alltags zu entgehen und nicht der Langeweile anheimzufallen. In dem Bild der bunten Vogelwelt lehnt sich Schulz an das verlorene Paradies der Kindheit an. Sein Vater Jakob importiert Eier, man möchte meinen die Zweck- und Sinnlosigkeit an sich und brütet sie selbst aus. Man spürt, das Patriarchat habe sich überlebt. Oder aber, da ist einer, der noch eine Idee hat von etwas, einen Traum, vielleicht die „Republik der Träume“ In sich vereint. einer, dem dem Grau der Zeit Farbe verleiht.
„Alt macht der Verlust von Idealen„, heißt es im Roman. Schulz schreibt vom „einsamen Heldentum“ des Vaters, der „die verlorene Sache der Poesie verteitigte„, indem er Vogelhochzeiten veranstaltet und eine Drachenbrut in Gang setzt . Am Ende will er mit seinen exotischen Vögeln davonfliegen, bleibt aber ein Gefangener der Realität. Laut dem Schulz-Kenner und Krakauer Universitätsprofessor Jerzy Jarzebski (der als Achtzehnjähriger Schulz kennenlernte) begann der Grafiker sich erst nach der Begegnung mit der Lyrikerin und Philosophin Debora Vogel 1924 zum Literaten zu wandeln, weil er darin noch mehr Ausdruckskraft und Mythologie als in der darstellenden Kunst vorfand.
Zimtladen, street of crocodiles aus The Cinnamon Shops, Ilustration als Druck. Die englische Version kam 1963 auf dem Markt. Schulz: „Melancholie wirkt langsam, sie ist einsüßes Gift.“ Ob Schulz und Vogel mehr als nur Freunde waren, bleibt spekulativ. Sicher ist, dass sie in dem Grafiker den Literaten weckte.
In der Luft hängende Ereignisse
Geometrie des Verzichts ist ein Begriff von Debora Vogel, einer acht Jahre jüngeren galizische Lyrikerin, mit der er Kafka übersetzte (https://de.wikipedia.org/wiki/Debora_Vogel). vielleicht ist sogar der ihm zugeschriebene Aphorismus „Freier lebt es sich in einer Gesellschaft, in der man nichts darstellen muss“ ihr entlehnt. Vogel gehörte zur ersten Generation von Frauen, denen das Studium an einer polnischen Universität erlaubt war. In jedem Fall ist ihrer Lyrik der Bruch mit einer Erwartungshaltung, damit die kognitive Dissonanz bzw. Katachrese zu eigen, die auch Schulz´Schreibstil prägt. Zeit und Raum fließen auch in ihrer Lyrik (https://sinn-und-form.de/?tabelle=leseprobe&titel_id=6850) ineinander:
Der Zerfall der Zeit zieht unweigerlich den der Werte nach sich. In ihrer Orientierungslosigkeit werden die Menschen entweder melancholisch oder tyrannisch. Nahezu kryptisch wie Traumbilder lesen sich manche Passagen aus „Die Zimtläden“: „Ich fange die Wärme im leuchtenden Blut des Ahorns.“ Man erinnert sich an die Wälder – bei Celan sind es Buchen, bei Schulz Ahorn, bei Chechov Kirschbäume, bei Schulz Ahorn
Auf einer seiner Seiten wird oft mehr gesagt, als andere Autoren auf dreihundert zustande bringen. Es geht um Ereignisse, die keinen Platz mehr in der Zeit finden und „damit in der Luft hängen, heimatlos und verloren„. „Violett ist schwül wie ein vertanes Leben“ lautet der Beginn des Gedichts „Stadtgroteske Berlin“ von Debora Vogel. Man könnte die Werke der beiden Künstler ineinander stellen und montieren, so malerisch sind sie miteinander verbunden.
Cover der ersten Ausgabe von Schulz, Die Zimtläden, der in Polen nach nahezu zehnjähriger Entstehungszeit in Druck ging, in Deutschland 1964.
Vogels Einfluss reichte nicht aus, um Schulz´ Prosalyrik zu publizieren. Dies blieb der Mentorin Zofia Nałkowska (https://de.wikipedia.org/wiki/Zofia_Na%C5%82kowska), einer der Gründerinnen der polnischen Akademie für Literatur 1933. Sie studierte Geschichte, Geografie, Ökonomie und Sprachwissenschaft an der „Fliegenden Universität“ Warschaus, einer Bildungseinrichtung der Untergrundkultur während der Zugehörigkeit Polens zum Russischen Zarenreich, die einen wissenschaftlichen Austausch ermöglichten, der unter dem bestehenden Regime offiziell verboten war. Nalkowska wurde die Grande Dame der polnischen Literatur, die bedeutende psychologische Romane schrieb, in Warschau einen berühmten Salon führte und jüngere Schriftsteller wie Witold Gombrowicz und Bruno Schulz förderte.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Wohnhaus von Bruno Schulz in Drohobycz bis zu seinem Tod. Ein Film über diverse Annäherungen anderer Künstler an sein Leben bzw. Werk ist unter https://radiohoerer.info/im-fokus-die-zimtlaeden-oder-wer-war-bruno-schulz/ zu sehen.
Das Sanatorium zur Sanduhr
70 Jahre nach seiner Fertigstellung erfuhr Schulz´zweiter Roman seine erste Würdigung in deutscher Sprache, gleichfalls von der gebürtigen Dortmunderin Doreen Daume, die für ihre Übertragung der polnischen Sprache preisgekrönt wurde (https://de.wikipedia.org/wiki/Doreen_Daume). Bereits 1973 war das Buch als „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ von dem namhaften polnischen Regisseur Wojciech Has, einem Schulz-Bewunderer verfilmt worden. (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Sanatorium_zur_Todesanzeige).
Cover der zweiten Ausgabe von Schulz zweitem prosalyrischen Erzählband, der 2011 deutsch publiziert wurde und der Vergleiche zu Kafka evozierte.
Bildete der vogelzüchtende Vater , der am Ende selbst fliegen wollte, den Kern der Zimtläden, so wird der Vater Jakob, der in einem eingebildeten Krämerladen lebt und von seinem Sohn Josef im Sanatorium, in dem man die Zeit rückwärts laufen lässt, besucht wird, erneut ikonisiert. Das Sanatorium, in dem alles schläft, auch der behandelnde Arzt, bildet eine Chiffre, in der die Wirklichkeit nur den Schatten der Wortes bildet. Auch der Ich-Erzähler löst sich auf und weiß nicht mehr, wo wann was geschieht. Josef (auch Kafkas Landvermesser in Das Schloss heißt so) sucht vergebens Zugang zu dem Arzt Dr. Gotard und erlebt eine grotesk-fantastische (kafkaeske) Traumwelt. „Schuld ist der rasche, von niemanden überwachte Zerfall der Zeit.“
Foto aus dem „Götzenbuch“, 1988: Bruno Sc hulz als Handarbeitslehrer in der Werkstatt mit Schülern, 1934. Er war auf den Broterwerb angweisen, empfand die Arbeit jedoch als lästig, da sie ihm Kraft raubte, die seinen Romanen eine lange Entstehungszeit aufbürdete.
Zerfallende Zeit
„Wir sind Buchhalter imaginärer Zeitkonten„. Dieser Satz, ein Aphorismus, scheint die Selbsterkenntnis des Sohnes schlechthin, der sich am Ende fragen muss, ob er selbst bereits schläft und nur erinnert, aber nicht mehr lebt. In seiner magischen Welt ist der Vater übermächtig, aber, anders als bei Kafka, nicht bedrohlich , sondern vom Untergang gezeichnet. Der Vater Jakob flüchtet aus der Realität, in der sich auch der Sohn nicht mehr zurechtfindet.
Die Rezensentin Renate Wiggershaus schreibt 2019 in der Frankfurter Rundschau vom wuchernden Erzählstil und bezieht sich in ihrem Titel „Ahasver in der Eisenbahn“ (https://www.fr.de/kultur/literatur/ahasver-eisenbahn-11420201.html) auf die Legende vom Ewigen Juden des gleichnamigen Romans von Stefan Heym. Sie deutet das Sanatorium, in dem Zeit wie in Thomas Manns „Der Zauberberg“ keine Rolle spielt als Asyl für die Verfolgten, der die Hoffnung als „Träumen mit offenen Augen“ und Zufriedenheit als „leises Glück“ umschreibt. Der Vater wird trotz offensichtlicher Demenz zum Magier und Demiurgen verklärt.
In einer anderen Geschichte, die um die Rückkehr des Erwachsenen Rat in seine Einschulung handelt, werden je nach Leseweise masochistische Neigungen oder eine Analyse der sadistischen Gegenwart erkennbar. Menschen, die ihren Erfolg ihrer Anpassung verdanken, sind vielleicht Idioten oder, noch schlimmer, Scharlatane. In der aktuellen Zeit erscheint es als Verdinest, sich nicht hervorzutun und seine Existenz als die einer grauen Maus zu fristen, weil ein sich Herbvortun als unanständig gelten könnte. Die Grausamkeit, zu der auch Kinder aus Unwissenheit neigen, wird im Erwachsenenalter bewusst vollzogen:
Foto aus dem „Götzenbuch“, Bruno Schulz, letzte Aufnahme, Passbild 1941. Kurz vor seiner geplanten Ausreise aus dem jüdischen Ghetto wurde Schulz am 19. 11.1942 vom SS-Hauptcharführer Karl Günther aus Racheakt auf offener Straße erschossen. (https://www.hoerspielundfeature.de/hoerspiel-ueber-den-autor-bruno-schulz-das-ende-der-traeume-100.html).
Das Götzenbuch
Titelbild Das Götzenbuch von Bruno Schulz, Version Nr. 3
Die dunkle Seite, so wird sie häufig genannt, führt in den Eros. Eros meint im Grunde Lebenstrieb, dem Thanatos als Todestrieb entgegengesetzt. Platon setzt es mit dem Zeugen von Schöne,m und gutem gleich, doch der Eros kan auch, man denke an Lautréamont, das Böse zeugen. Ob Schulz sich als Gnom oder lasterhafter Zwerg sah, kann nur vermutet werden. Im Dialog Josefs mit seinem Vater Jakob, sagt dieser: „Selbst der eigene Sohne verlässt mich und steigt fremden Mädchen in der Stadt nach.“ Doch erscheint die wörtliche Übertragung des Bildes, das einen unterwürfigen Mann und dominante Frauen zeigt, sehr banal. Auch Freuds Libido-Theorie der Kastrationsangst greift zu kurz.
Foto: aus dem „Götzenbuch“, Edition 1988, Undula bei den Künstlern
Es gibt eine Ironie, wie sie sich in Nietzsches Inszenierung mit sich selbst und Paul Rée vor einem Wagen gespannt, den die peitschenschwingende Lou Salomé lenkt, niederschlägt, die an Plantons Wagengleichnis anlehnt. Es gibt ein ironisches Unterwerfungsverlangen und die Ästhetisierung der Demütigung bei Sacher-Masow, einem Literaten aus Lemberg, der ein Foto mit der ihn einen Fuß auf den Nacken setzenden Fanny in Umlauf brachte (https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_von_Sacher-Masoch).
Schulz schreibt in den Zimtläden von der „vertrauten Dunkelheit„; keineswegs ist daher das scheinbar Obskure bei ihm feindlich oder dekadent zu deuten. Ein weitere Selbstaussage von ihm lautet: „Häufiger entsteht Liebeskummer in den eigenen Erwartungen als im Verhalten anderer .“ Der Sündenfall, die Tiefe des Bodenlosen, ist folglich eine Konseuquenz der falschen Selbsterkenntnis oder, um es mit Stendhal zu assoziieren, der Kristallisierungen. Eine Passage aus „Die Republik der Träume“ lautet: „Die ganze Welt began sich mit Schwarz zu überziehen und alle wurden angesteckt.“ Schulz bezieht sich hier auf den kollektiven Todestrieb, der zu Krieg und Eskalation barbarischer Gewalt führte, wobei Schwarz auch die Farben der SS waren.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Der Stamm der Parias.
Auffallend ist die devote Haltung, die den Führerkult und die Sehnsucht nach Autorität illustriert. Dieses Verlangen wohnt dem Mensche zutiefst inne, es kehrt politisch ewig wider und gewinnt in zyklischen Abständen die Oberhand. Dire Männer sind immer fratzenhaft entstellt, die Frauen verkörpern das Schöne, die Eleganz und die Leichtigkeit beim Schreiten.
Das stets widerkehrende Motiv der Verneigung, der Götzendienerei, kommt auch in dem Zitat von Schzulz zum Ausdruck: „Der bewusste Genuss ist eine Verneigung vor dem Besonderen.“ Vor dem Hintergrund eines vielschichtigen Werkes erscheint die simple Gleichsetzung mit „Und ewig lockt das Weib“ bzw. „Die Stunde weiblicher Wollust“ so falsch, wie Wagners Venushügel mit einer eindimensionalen Heroisierung der weiblichen Sexualität gleichzusetzen.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Die verzauberte Stadt II.
Die Kunst wird zumeist als Frau allegorisiert. Erinnert sei auch an Delacroix Gemälde, Die Freiheit führt das Volk an, mit der weiblichen Freiheit. (https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/20054687). Die Skizzen erinnern vor allem an Goyas grotesken Bilderzyklus Los Caprichos.(https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/20054687) Die verzauberte Stadt exitiert u.a. in Cuenca, wo bizarre Felsformationen an Tiere und die Anatomie von Brücken oder Pilzen erinnert. Es ist wahrscheinlich, dass Goya-Bewunderer Schulz davon wusste. Auch das Gleichnis die Vernunft wird im Zeitalter der bestialischen Unvernunft mit Füßen getreten ist möglich. Damals wie heute konnten Künstler in autokratischen Systemen ihre Kritik zur versteckt äußern.
Die Republik der Träume
Unter diesem Titel erschienen die Essays, Briefe und Grafiken von Schulz, ins Deutsche erstmals nach dem Erscheinen von „Die Zimtläden“ übertragen. Zu dieser Zeit gehörte Schulz noch immer, zumindest außerhalb Polens, als ein Talent im Verborgenen. So lautete auch der Titel einer Kritik von Artur lauterbach in der Lemberger Literaturzeitschrift Chwala. Auch das Hörspiel „Das Ende der Träume“ von Matthias Brand 1988 lehnt sich daran an. https://www.hoerspielundfeature.de/hoerspiel-ueber-den-autor-bruno-schulz-das-ende-der-traeume-100.html
Cover der neu aufgelegten Aphorismen und Essay-Sammlung von Bruno Schulz.
Diktaturen entstehen aus der Demokratie. Manchmal schleichend und stets wird ihre Abwesenheit, ja ihre Ermordung geleugnet. Eine, an Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ erirnnernder Essay von Schulz über die Bedeutung der Fantasie in der Kunst lautet „Die Mannequins“. Darin ist von der Bedeutung der Improvisation zu lesen, die im Zuge der décadence-Lyrik Baudelaires, welche die Langeweile für den größten Feind der Menschheit betrachtet, gleichzeitig aber auch als Muse für die Kunst, einer Kriegserklärung an die von monotoner Gleichschaltung sowohl im Faschismus als auch imStalinismus gleichkommt.
Foto aus dem „Götzenbuch“, Titel: Das Götzenbuch II. Die Position der Frau erinnert an Goyas La maja desnuda. Die nackte Maya 1795 (https://de.wikipedia.org/wiki/Die_nackte_Maja), Allegorie einer schönen Frau in zwei VErsionen (bekleidet und unbekleidet) wurde wiederum wurde aufgegriffen und variiert von den Impressionisten Monet 1863 (https://de.wikipedia.org/wiki/Olympia_(Gem%C3%A4lde) und Paul Cézanne.
Um es mit dem 1924 in Warschau geborenen Literaturprofessor und Verfasser der ersten Schulz-Biografie Jerzy Ficowski (https://www.perlentaucher.de/autor/jerzy-ficowski.html) zu sagen (im Audiotext fälschlich Jazerbski zugeeignet): Erotik ist ein Leitmotiv von Schulz, zeigt aber im Expressionismus seiner Zeit üblich, eine Dekadenz auf oder weist auf eine Apokalypse hin. Sein Text, der dem „Götzenbuch“ 1988 entnommen ist, bezieht sich auf die Wiederentdeckung eines erstmals in den Sechziger Jahreninternational wahrgenommenen bildenden Künstlers:
Das Traktat über die Schneidepuppen „Die Mannequins“ sagt aus, dass es keinen neuen Menschen mehr geben kann. Anders als Nietzsche, der einen Übermensch wollte, der sich selbst genügt und aristokratischer Geisteselite entspringt und die Nazis, die von blauen blondäugigen Herrenmenschen schwärmten, hatte Schulz diese visionäre Kraft als Gefahr erkannt, weil sie die natürliche Mittelmäßigkeit abzuschaffen gedachten. Die neuen Menschen, so dachte er, sind die alten in neuen Kleidern oder dressierte, neu geformte Puppen in altem Gewand.
Der philosophische Gedanke kreist um Sinnentstellung: Was keinen Sinn hat, ist für uns nicht wirklich. Die Wirklichkeit wird folglich wie in einem Schneideratelier ständig beschnitten bzw. verkürzt oder geändert. Der menschliche Geist ist unermüdlich, wenn es darum geht, das Leben durch Mythen zu glossieren und die Wirklichkeit der eigenen Vorstellung anzupassen, so dass sie endlich mit Sinn versehen werden kann wie ein zugenähtes Kleid.
Foto aus „dem Götzenbuch“, Hengste und Eunuchen. Die Position der Frau erinnert dabei an das Portrait der damals vierzehnjährigen Marie Louise o Murphy, die später Mätresse von Ludwig XV werden sollte und den Machtkampf gegen die berühmte Madma Pompadour verlor. Das Gemälde aus dem Jahr 1751 stammt von François Boucher und war jedem Kunstkenner vertraut.
Foto aus „dem Götzenbuch“, Das Götzenbuch I
Auch Louis Borges, der argentische Mitbegründer des MAGISCHEN REALISMUS, dessen Schwester eine Malerin war, ein Kenner der Kabbala, kann mit Schulz in Verbindung gebracht werden. Bei seiner umfassenden Bibiliothek, die auch Raritäten umfasste, ist es denkbar, dass er den seinerzeit nicht unbekannten Künstler zur Kenntnis genommen hatte. Die Vermischung von Realität und Fiktion bildet elementaren BEstandteil seines Narrativs. In der Episode von Schulz, die den Vater Jakob als Ornitologen zeigt, ist es am Ende das einfache und grobschlächtige Stubenmädchen Adele, die alle Vögel als unnütz betrachtet und die liebevoll umsorgten Kreaturen mit Fußtritten aus der Dachkammer verscheucht. Fantastischer Realismus und grotesker Humor können nur von Gleichgesinnten verstanden und goutiert werden. Die große Masse stößt er ab
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