Stopfkuchens Erbe

Foto Bernd Oei: Ringerbrunnen in der Altstadt Braunschweigs, „Sack“ aus Bronze von Jürgen Weber 1975. Der Brunnen ist aus rotem Meißner und grauem Lausnitzer Granit- ein Sinnbild für Symbiose und poetischen Realismus.

Wilhelm Raabe (1831 geboren) gilt neben Theodor Fontane (1819) und Theodor Storm (1817) als bedeutendster Vertreter des poetischen Realismus. Zahlreiche seiner Werke entstanden in seiner dritten Wahlheimat Braunschweig, wo der Schriftsteller 40 Jahre lebte. Dabei entwickelte er eine auffallende wie anhaltende Vorliebe für gesellschaftliche Außenseiter. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern dominiert in seinem Spätwerk die Skepsis gegenüber der Moderne. Dies deutet sich bereits in einem seiner heute populärsten Werke an: „Stopfkuchen“, der 1891 in einem Leipziger Verlag (Deutsche Roman-Zeitung) erscheint. Der Berufsschriftsteller lebt zu dieser Zeit in seiner dritten Braunschweiger Wohnung, der Leisewitzstraße 7 nahe dem heutigen Bahnhof. https://www.braunschweig.de/literaturzentrum/museum/raabe-in-braunschweig.php

Außenseitertum

Er ist das Aushängeschild eines Geächteten: dick (Spitzname Stopfkuchen), scheinbar einfältig, der auf einen verrufenen Hof ein Eremtiten-Dasein fristet und zudem den Dorfbewohnern als Hauptverdächtiger in einem Mordfall dient. Der Schein, wie so häufig bei Raabe, trügt. Der einfache und zugleich verkannte Held verbindet dabei humorvoll pragmatische Kompetenz, um im Leben (Daseinskampf) zu bestehen und Idealismus, um darüber hinauszuschauen, d. h. humane Werte zu etablieren, die in seinem hartherzigen Umfeld verloren gegangen sind.

Raabe experimentierte viel, und probierte sich in diversen Gattungen aus, die er zunehmend mischte. So trägt sein im Mai 1891 abgeschlossener Roman den Untertitel Eine See- und Mordgeschichte“ , doch neben Elementen eines Kriminal- trägt er ebensoviele Merkmale eines historischen Romans. Zahlreiche Werke des Vielschreibers waren der Geldnot geschuldet, so dass der akribische Künstler in ihm mit der Qualität unzufrieden blieb; „Stopfkuchen“ hielt er für eines seiner gelungensten Veröffentlichungen.

Es fällt auf, dass vier der sechs Hauptpersonen Einzelgänger sind : Stopfkuchen, der alte Quakatz, seine Tochter und der nachweisliche Täter Störzer. Drei der vier Sonderlinge stehen einander nachhaltig bei und schaffen sich, jeder auf seine Weise, einen eigene, teilweise imaginäre, Lebenswelt. Der isoliert Bleibende Briefträger Störzer indes lädt schwere Schuld auf sich.

Foto Bernd Oei: Burghof mit Löwendenkmal am östlichen „Sack“, einer der fünf Traditionsinseln Braunschweigs. Der Löwe ziert das Stadtwappen und ist Symbol Heinrich des Löwens seit dem Jahr 1166. https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_burgloewe.php

Ächtung als Leitmotiv

Der Ich-Erzähler Eduard, der schon lange in Südafrika ansässig ist, besucht noch einmal sein deutsches Heimatstädtchen. Auf der Rückfahrt schreibt er an Bord seine Erlebnisse nieder, vor allem die langen Gespräche mit seinem Jugendfreund Heinrich Schaumann, genannt „Stopfkuchen“. Dieser lebt mittlerweile als Eigentümer eines Bauernhofes, dessen Vorbesitzer zu der Zeit, als beide jung waren, einen sehr schlechten Ruf besaß, weil man ihm einen nie aufgeklärten Mord nachsagte. Stopfkuchen hat mehr von den Vorgängen in dem Städtchen mitbekommen, als Eduard vermutet. Letztlich entlarvt der plumpe Außenseiter den wahren Täter, wodurch ihm eine Rehabilitation bei den Dorfbewohnern gelingt.

Nach seiner Rückkehr in die alte Heimat erfährt er, dass sein ehemaliger guter Freund, der Landpostbote Störzer, gestorben ist. Er findet nur noch den Aufgebahrten vor. Im Lauf der Ermittlungen lernt Eduard viel über seinen dicken und gehänselten Schulkameraden Heinrich Schaumann, und damit Vorurteile zu hinterfragen. Schon damals hatte Stopfkuchen die Rote Schanze fasziniert, ein Hof außerhalb der Stadt, der aus zwei Gründen bei den Dorfbewohnern verrufen ist. Der Hof war verkommen, sein Eigentümer eines nie aufgeklärten Mordes verdächtig. Zwischen beiden besteht ein Zusammenhang; der Hofbauer der roten Schanze verwahrloste aufgrund seiner Ächtung und mit ihm sein Gut. Stopfkuchen bringt ihn wieder zu alter Blüte und löst den Fall, womit eine posthume Rehabilitation gelingt. Außerdem gelingt ihm eine liebevolle Beziehung zur Tochter des Geächteten, Valentine Quakatz.

Stopfkuchen alias Heinrich Schaumann (nomen est omen) ist nach dem abgeschlossenen Studium zurück auf der Schanze, wo er sich mit Valentine angefreundet hat; er hat sich Wissen angeeignet, um den Hof wieder zur Blüten zu verhelfen. Zusammen mit Valentine erledigt der „faule“ Stopfkuchen die vernachlässigten Geschäfte gut und söhnt neben bei den Schwiegervater mit der Gemeinde aus. Die späte Genugtuung ist daher ein wiederkehrendes Motiv.

Auf 34 Kapiteln verschränkt Raabe zwei Fälle mit der „roten Schanze“: Den Justizirrtum des Pächters Andreas Quakatz, den jedermann verdächtigte, den Viehhändler Kienbaum erschlagen zu haben und Ereignisse aus dem Siebenjährigen Krieg, als Schweden die Schanze aufwerfen, um das Dorf Maihofen zu beschießen. Der doppelte Handlungsstrang ist charakteristisch für den Erzähler. Das gilt auch für die Interaktion für Gerüchten als vermeintlicher und tatsächlicher Wirklichkeit, Schein und Sein.

Foto Bernd Oei: Braunschweig Schlossplatz, klassizistische Fassade mit Quadriga samt wagenlenkender Stadtgöttin als Abschluss und Reiterdenkmal des Herzogs Friedrich Wilhelm. https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_residenzschloss.php

Charaktere

Eduard

Über den Chronisten erfährt der Leser nicht einmal seinen Familiennamen. Der einleitende Satz ist charakteristisch: „Es liegt mir daran, gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf.“ http://www.zeno.org/Literatur/M/Raabe,+Wilhelm/Romane/Stopfkuchen.+Eine+See-+und+Mordgeschichte

Eduard entstammt dem Kleinbürgertum, Sohn eines Postbeamten, der sich zum Philister bildet (eine Raabe nicht ganz geheuere Spezies, obschon er selbst zum Philistertum neigt). In der Jugend wird ihm der Landbriefträger Fritz Störzer ein väterlicher Freund, den er oft auf seinen Arbeitswegen begleitet. Die Schilderungen des Außenseiters für die nie geschaute exotische Natur und für fremde Länder bilden nicht nur dessen träumerischen Ausweg, mit der tristen Realität zurechtzukommen, sondern wecken auch Sehnsucht und Abenteuergeist in dem pubertierenden Jungen.

Eduard entwickelt Freundschaft mit Heinrich Schaumann, ohne ihn gegen die Anfeindungen seiner Klassenkameraden entschlossen zu verteidigen. Die Gegensätzlichkeit wird durch ihre Physiognomie visualisiert: der „Stopfkuchen“ ist dick, der Chronist auffallend dünn. Sie lässt sich charakterlich weiterführen: Eduard ist von sich überzeugter, als er es sein dürfte, Stopfkuchen dagegen geerdet und bescheiden. Während der Erzähler glaubt, alles zu wissen, ist sein Gegenüber skeptisch und hält zudem mit seinem Wissen zurück. Vor allem aber weiß sich Eduard in einem fremden Land zu behaupten, indem er alles seinen Wünschen anpasst, während der Freund aus Jugendtagen sich durch Beharrlichkeit in der Heimat bewährt.

Als Student verlässt der Chronist Heimat für das Studium der Medizin, arbeitet danach als Schiffsarzt, bevor er ein erfolgreicher Schafzüchter im Burenland Südafrika wird. Dort heiratet er und wird Vater zahlreicher Kinder. Die Motive seiner Rückkehr sind ihm selbst nicht klar; im Verlauf der Erzählung gerät er in Selbstwiderspruch. Erst die Rückkehr lässt ihn die verachtete Heimat, mehr noch den bewunderten Störzer und den unterschätzten Heinrich verstehen.

Bezeichnend ist auch der Schlussgedanke des Chronisten, dessen Selbstverständnis erschüttert wurde: „zu aller froh-unruhigen Gewißheit„. eine solche bleibt mit dem poetischen Realismus, der sich der objektiven Darstellung verpflichtet sieht, unvereinbar. Immerhin hat Eduard seinen Jugendfreund vollkommen verkannt als „dümmsten, gefräßigsten,dicksten und faulsten von uns“ und auch den väterlichen Postboten falsch eingeschätzt.

Andreas Quakatz

Andreas Quakatz personifiziert den gebrochenen, zugleich störrischen Mann. Er ist zur Jugendzeit Eduards und Heinrichs durchaus fleißiger Bauer auf der Roten Schanze und hat einige Knechte. Die unrechten Beschuldigungen der Dorfbewohner, Mörder des angesehehenen Viehhändlers Kienbaums zu sein, basieren auf einen heftigen Streit vor seiner Ermordung und einige lose Indizien. Die infame Insultation Beschuldigung fördert sein cholerisches Temperament, er beginnt zu trinken und verliert sich in abstrusen Gerichtsprozessen wider der Verleumdung. Durch sein Verhalten fördert er Misstrauen und Graben zu den Dorfbewohnern und erreicht damit das Gegenteil von dem, was er will: seinen guten Ruf wieder herstellen.

Andreas duldet allein Stopfkuchen als Freund seiner Tochter auf der Roten Schanze, die dieser liebevoll „unseren Kasten“ nennt. In Heinrichs Abwesenheit erleidet Quakatz einen Schlaganfall und siecht wie sein Lebenswerk, der Hof, dahin. Er fixiert sich auf die Anschuldigungen und damit die erlitteneu Schmach. Das Motiv der Unschuld verkehrt sich in eines der Eigenverantwortung; seine Aggression schlägt in Selbsthass und Selbstmitleid um. Als Stopfkuchen seine Tochter heiratet, erlebt er durch die Hochzeit, wie man die Dorfewohner für sich gewinnen kann. Sein Starrsinn trägt daher Mitschuld an der Ächtung.

Valentine Quakatz

Als einziges Kind erbt Valentine naturgemäß die Roten Schanze. Auch sie leidet unter der unfreiwilligen Isolation von den Kleinstädtern, die ihr Vater durch sein Verhalten verschärft. Einziger Freund der „Wildkatze“ ist der Außenseiter Hermann, der das wenig gewinnbringende Äußere nicht weiter beachtet. Valentine, struppig und scheu, fremdenfeindlich verwandelt sich zu einer freundlichen, zahmen  und liebevollen Ehefrau. Schlüsselerlebnis für beide wird, dass sie „Stopfkuchen“ nach einer Prügelei mit den ihn verfolgenden Mitschülern in die „Rote Schanze“ hinein lässt. Sowohl sie als auch der Hof verschmelzen zur rettenden Insel. Vorher hat allerdings der dicke Heinrich sich für sie eingesetzt hat. Beide werden zu Verbündeten, indem sie sich wechselseitig die Anerkennung schenken, die ihnen Gleichaltrige vorenthalten. Beide sind Außenseiter durch Äußerlichkeit und getrübte Urteilkraft ihrer Umgebung, die sich rasch zu Vorwurf und Vorurteil auswächst. Ihre Liebe wird durch die gemeinsame Arbeit, sich auf dem verwilderten Hof in ein geordnetes Verhältnis zurückkämpfen zu müssen, gestärkt. Da sie im Gegensatz zum alten Qaukaz nicht nachtragend sind, leben sie Humanität vor.

Kienbaum

Kienbaum, aufgrund seiner Avancen im Dorf als Hahn Gockel apostrophiert, ist ein gewinnsüchtiger Viehhändler und Hagestolz. Ähnlich eines Aristokraten, der sich auf seine Herkunft aus besten Familienkreisen etwas einbildet, blickt er auf das Gesindel herab, zu dem er auch den Postboten Störzer zählt. Grundsätzlich bedarf sein sadistischer Charakter jemanden zum Quälen. Bereits auf der Militärschule sorgt der Privilegierte dafür, dass Störzer besonders viel leiden muss. Ins Bild des Egomanen passt, dass Kienbaum eine Frau schwängert, ihr danach jede Unterstützung verweigert und auch sie demütigt. Er und der Postbote bilden äußerlich ebensolche Antinomien wie die pubertierenden Eduard und Heinrich.

Fritz Störzer

Sein Leben ist nach den herrschenden sozialen Verhältnissen vorgezeichnet Fritz Störzer stammt aus einfachem Haus ohne Möglichkeiten eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Sein Posten als Landbriefträger in Wind und Wetter erscheint symptomatisch: er ist immer in Bewegung, eine nomadische Existenz und immer nur ein Laufbursche, nie dazugehörig. Als Ausgleich für seinen begrenzten Lebensraum erfindet er sich Geschichten bzw. spürt dem Erlesenen mit ausschweifender Einbildungskraft nach. Sein einziger Bewunderer ist das ihn begleitende Kind Eduard, auf den sich die Sehnsucht auszubrechen und enge Grenzen zu überschreiten, überträgt. Mit Heinrich verbindet Störzer Ausgrenzung und Demütigung eines unangepassten Schülers. Im Gegensatz zu Stopfkuchen verdrängt er nur seine Aggression, die sich aufgestaut in einem, allerdings ungewollten, Totschlag entlädt: der Steinwurf erinnert zudem an die biblische Auseinandersetzung von David mit Goliat.

Störzer prägt Eduard in seiner Funktion des Ersatzvaters, da er ihn mit seinen Büchern und Wissen über Afrika infiziert. Der ferne schwarze Kontinent (das Thema Kolonialismus taucht in Raabes Erzälungen des öfteren auf, z.B. in Fabian und Sebastian, Abu Telfan, Zum wilden Mann) bildet eine Steigerung zur Roten Schanze, die gleichfalls ein Fluchtort, allerdings keinen utopischen, darstellt.

Heinrich Schaumann

Ebenso wie Störzer für Eduards Auswanderung verantwortlich ist, weckt Kurator Schwartner in Stopfkuchen das geschichtliche Interesse am Siebenjährigen Krieg und den Wunsch, Herr der Roten Schanze zu werden. Aufgrund seiner schlechten Schulnoten (Raabe war selbst ein ungenügsamer Schüler und bestand seine Matura nicht) wird er als geistig minder bemittelt betrachtet. Die Pädagogen versagen, denn sie scheuen sich nicht, Heinrich zu diffamieren, . „Und am Morgen in der Schule hatte mich Blechhammer mal wieder wissenschaftlich zum abschreckenden Beispiel verwendet als Bradypus. Ich kann ihn heute noch nicht nur zitieren, sondern lebendig auf die Bühne bringen, mit seinem: ›Seht ihn euch an, ihr andern, den Schaumann, das Faultier. Da sitzt er wieder auf der faulen Bank, der Schaumann, wie der Bradypus, das Faultier. Hat fahle Haare wie welkes Laub, vier Backenzähne. Klettert langsam in eine andere Klasse – wollt ich sagen: klettert auf einen Baum, auf dem es bleibt, bis es das letzte Blatt abgefressen hat. Schuberts Lehrbuch der Naturgeschichte, Seite dreihundertachtundfünfzig: kriecht auf einen andern Baum, aber so langsam, daß es ein Jäger, der es am Morgen an einem Fleck gesehen hat, auch am Abend noch ganz in der Nähe findet. Und dem soll man klassische Bildung und Geschmack an den Wissenschaften und Verständnis für die Alten beibringen!“

Eduard muss erkennen, dass er sich wie alle anderen in seiner Person getäuscht hat. Inzwischen scheint er nicht mehr der faule und unscheinbare dicke Junge, sondern strahlt eine Stärke aus, die von seiner geistigen Überlegenheit herzurühren scheint. Stopfkuchen ist sowohl für das Aufblühen des verwahrlosten Hofes als auch die Aufklärung des vermeintlich heimtückischen Mordes verantwortlich.

Summa summarum begreift der Chronist, dass Heinrich ihm eine immer verborgene Seite besaß, die er stets übersah, weil er den blinden Fleck aller Vorurteile besaß. Die Fähigkeiten wirkten im Verborgenen,  ohne im Freundeskreis zum Vorschein zu gelangen, da der dominante Schülerkreis dies vereitelte.

Die Rückkehr Eduards verschafft Stopfkuchen die Genutruung, den verjährten Kienbaum-Mord aufzulösen. In der bis auf die Kellnerin leeren Gaststube „Der goldene Arm“ berichtet er Eduard, der verblichene Störzer habe ihm anvertraut, Kienbaum versehentlich durch einen Steinwurf im Zorn erschlagen zu haben, nachdem dieser ihn mit der Peitsche gezüchtigt und verspottet hatte. Aus Furcht, seinen Beruf zu verlieren, verschwieg er den Unfall. Neben der Schuld des Totschlags litt er unter den falschen Beschuldigungen des unter Verdacht geratenen Quakatz. Stopfkuchens Geschichte nach erfolgter Beerdigung räumt die Mordverdächtigungen gegen seinen Schwiegervater posthum aus der Welt.

Foto Bernd Helmert: Residenzschloss, Schlossarkaden, Haupteingang in das rekonstruierte Residenzsschloss, Detail. Darunter Fassde mit Quadriga (historischer Streitwagen) https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_quadriga.php

Stil

Raabe gehört zu den Autoren mit Tendenz zu retardierenden Momenten und eingeschobenen Reflexionen, die mitunter abschweifend wirken. Dabei tritt die Handlung zu Gunsten des Gesprächs zurück. Der Ich-Erzähler und Chronist scheint zwar allwissend rückschauend über die Ereignisse zu berichten, doch erweist er sich zunehmend als unfähig, die psychischen und sozialen Verhältnisse zu durchschauen. Durch das Stilmittel der ironischen Distanz liest muss sich also hüten, die Perspektive Eduards zu seiner eigenen zu machen. Es herrscht die Retroperspektive vor; Eduard, mittlerweile Familienvater und Viehwirt im „Burenlande“, schreibt seine Erinnerungen nieder. Immer wieder unterbricht der Erzähler seine Aufzeichnungen, z.B. „Keine Möglichkeit, heute weiterzuschreiben. Das Schiff stößt allzusehr. Hohle See.“

Die erzählte Zeit liegt in der gemeinsam verbrachten Kindheit und Jugend des Chronisten Eduard, quasi eine Rückblende, die sich mit der Aufklärung des Falls überlagert. Handlungsort des Geschehens Mitte des 19. Jahrhunderts ist Maiholzen, einer fiktiven Kleinstadt in Norddeutschland, abgelegen irgendwo zwischen Lausitz und Harz.

Typisch für Raabe: er unterteilt in eine äußere Sphäre, dem Dorf und den damit einhergehenden Konventionen einerseits und eine innere Welt, die sich der Protagonist selbst eingerichtet hat: die Rote Schanze. In ihr konfiguriert Raabe das Außergewöhnliche und Fantasievolle. Ebenso reiben sich Individuum und Kollektiv aneinander und bilden eine weitere Kontinuität in Raabes prosaischem Werk.

Die Vermischung unterschiedlicher Zeitstufen erlangt in diesem vorletzten Roman Raabes ihre Vollendung; sie bildet jedoch kein Alleinstellungsmerkmal in seinem umfassenden Werk. Drei Zeitstufen werden intensiv miteinander verknüpft sind. Die erste umfasst die Wochen, als Eduard sich auf der Schifffahrt von Deutschland nach Kapstadt befindet. Sein Besuch in der Heimat ist Gegenstand der erzählten Zeit. Sie ist aufgeteilt in Stopfkuchens Aussagen und den Bericht Eduards, so dass der Leser achronologische Vorkommnisse zu überblicken vermag und mehr weiß als der vermeintlich auktoriale Erzähler.

Die zweite Zeitachse handelt von den letzten 32 Stunden des Heimatbesuches und Eduards Eindrücken des Wiedersehens mit alten Bekannten. Den dritten Zeitabschnitt formen die fünfundzwanzig Jahre teils gemeinsamer Vergangenheit, welche eine nahtlose Einheit mit den aktuellen Ereignissen bildet. Da Eduard mit Stopfkuchens Erzählungen vertraut ist, amalgamieren sie mit seiner Erinnerung. Die Synthese erreicht damit alle Formen. So kann auch das Zurückgreifen auf Vergangenes problemlos innerhalb der unterschiedlichen Zeitstufen geschehen. Raabe lässt diese Stufen immer wieder in den anderen Zeitbschnitten widerspiegeln.

Räumliche und zeitliche Erlebniskategorie werden eng miteinander verzahnt. Die konkretesten Schilderungen konzentrieren sich auf die legendäre Rote Schanze; das Dorf, die See und das Schiff verblassen hingegen im Vagen. Die einzelnen Orte wirken wie die Zeitschienen übergreifend. die Ordnung entsteht aus Gegensatzpaaren wie Nähe (bedrückende Enge der Gassen) und Ferne (Meer, Südafrika), üppige Vegetation und karges Ödland. Afrika und Schanze und Südafrika sind teilweise utopische, teilweise reale Fluchtpunkte. Bezeichnend ist der Rückzug aus der vertrauten bürgerlichen Welt. Heinrich: „Ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht bei meinem alten Mädchen zu Hause, unter unsern Bäumen, hinterm Ofen, hinter unsern Wällen, kurz im Kasten!

Foto Bernd Oei: Braunschweig, Altes Rathaus, Eingang mit Turm am Langen Hof. Der Altbau wurde zwischen 1894 und 1900 in Neugotik errichtet. https://de.wikipedia.org/wiki/Braunschweiger_Rathaus. Mit dem Rathaus beginnt das Stadtvertel Sack, eines von fünf historischen Inseln, von der Oker umgeben.

Aggressionsstau

Verschiedene Formen zurückgehaltener und eskalierender Gewalt prägen die Handlung. Heinrich Schaumann zeigt sich fasziniert vom Krieg, er verleiht seinem Refugium der Schanze mystische Anziehungskraft. Seine Verehrung gilt Preußenkönigs Friedrich II und Prinz Xaver von Sachsen; dieser reformierte in Sachsen durch das stehende Heer die siegreiche Armee, während der alte Fritz im siebenjährigen Krieg kämpfend die Früchte des Erfolges errang. Schaumann (nomen est omen) verweist immer wieder auf die ursprüngliche Bestimmung des Hofes als Befestigungsanlage: eine Kasematte, er zu seinem Bollwerk eines Zuhause gemacht hat.

Der real existierenden Befestigung trägt heute noch das südöstliches Stadtviertel Wolfenbüttels Rechnung: https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/metadata/28954519/1/-/. Sie diente im Siebenjährigen Krieg als Ausgangspunkt für Angriffe auf Wolfenbüttel. Schaumann nutzt sie strategisch für seine Schachzüge gegenüber der Stadtgesellschaft. Er vergleicht sich selbst mit einer Kanonenkugel, die noch in seinem Elternhaus in der Stadt steckt und will als Kind die Stadt angreifen. Er rüstet sich zu diesem Feldzug: „Siehst du, Eduard, so zahlt der überlegene Mensch nach Jahren ruhigen Wartens geduldig ertragene Verspottung und Zurücksetzung heim. Darauf, auf diese Genugtuung, habe ich hier in der Kühle gewartet

Der tödliche Steinwurf Kienbachers durch den an sich biederen und harmlosen, häufig gedemüdigten Postboten, kündigt sich durch verschiedene Zeichen an und überrascht kaum. Bei der Konsolenz an seinem Sarg, wird Schaumanns Aggressionspotential deutlich: Während Eduard in stiller Anteilnahme am Tod seines alten Freundes seine Hand auf den Sarg legt, ballt Schaumann übergriffig und pietätslos seine Faust auf dem Kopfende des Störzers. Mit der Assoziation und Erwartung, dass der dicke Schaumann nur ein gutmütiger und gemütlicher Mensch ist, bricht Raabe.

Foto Bernd Helmert: Reiterdenkmal Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig vor der Schloss-Residenz Braunschweig, ein aus Trümmern rekonstruierter Monumentalbau aus dem Dreißigjährigen Krieg. Beide Kurfürsten starben im Befreiungskrieg gegen Napoleon. Posthumer Triumph: 1814 wurde Braunschweig-Wolfenbüttel als Herzogtum Braunschweig wiederhergestellt. Während der französischen Okkupation verfasste Stendhal, der 1806 bis 1808 als Verwaltungsbeamter in Braunschweig verbrachte, Tagebücher cahiers de Brunswick. Sie liefern detaillierte Eindrücke der Löwenstadt.

Kritik des Spießbürgers

Wie die bewunderten Autoren Jean Paul, Flaubert, Thackary und Dickens, übt Raabe sarkastisch Kritik am Philistertum, das triviale Gedanken hinter vorgetragenem Latein zu verbergen sucht. Sein Sympathieträger Schaumann wird nicht zufällig vom Gejagten zum Jäger. Als Kind gemänselt und als dumm vorgeführt (erinnert sei an Raabes eigene schulischen Misserfolge und Scheitern einer Lehre, hält er sich mit kriminologischen Spürsinn seinen Peinigern später den Spiegel. Er dient daher als seine Identitätsfigur und nicht nur Sprachrohr eigener Anschauungen. Die Enthüllung des wahren Mörders, im Grunde Unfallverursachers, im schlimmsten juristischen Fall totschlägers, gleicht seiner kalkulierte Machtdemonstration gegenüber den selbstgefälligen Bildungsbürgern. Laut Eduard hat Schaumann es vollbracht, „aller Philisterweltanschauung den Fuß auf den Kopf zu setzen“.

Im Werk wird auf die „.Gartenlaubenliteratur“ angespielt, ein pouläres Jourunal, das für das Raabes Lebensunterhalt sorgte, da es seine Schreibübungen, die er selbst nicht für sonderlich geistreich und gekonnt erachtete, bezahlte, wohingegen seine anspruchsvolle Schreibe wenig Zuspruch fand. Man kann in dem Blatt die Neigung zu Verklärung und Idylle sowie Selbstbetrug erkennen. Die Faszination für Geografie von Eduard und Störzer, beides Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem ambivalenten Wunsch, sich von ihr abzuheben, gerät zur Persifage. Geografie, die Wissenschaft von der Oberfläche, von Zahlen und Fakten, erscheint hier als Gleichnis für die Oberflächlichkeit der Dorfbewohner, während Schaumann mit seinem Faible für die Paläontologie in die Tiefe geht. Er ist es auch, der Menschen durchschaut und sich nicht von Titel oder Rang blenden lässt. Raabe protestiert gegen die Mediokrität.

Der erfolgreiche Bauer der Roten Schanz gibt dem einstigen Schulfreund deutlich zu verstehen, dass auch er ihn verkannt hat: „Ihr habt mich nie in der Schar eurer Helden mitgezählt, Eduard. Von euch hellumschienten Achaiern hätte ich nimmer das beste und also auch ehrenvollste Stück vom Schweinebraten in die Hände gelegt bekommen. Wieviel mehr Heroentum unter Umständen in mir als wie in euch steckte, davon hattet ihr natürlich keine Ahnung.“

Raabes Philister-Kritik verdeutlicht: Die Gesellschaftsschicht lässt sich nur von außen objektiv betrachten, um Einfdenluss sozialer Bindung und Prägung zu bemerken. Um zum eigenen Wesenskern zu finden, muss man diesen engen Kreis verlassen: Stopfkuchen gelingt dies weitaus besser als Eduard, der lediglich die Tapeten wechselt, aber im Gepäck seine Vorurteile mit sich führt und kultiviert. Der Autor scheint eine Mittlerposition zwischen freier Entfaltung und Fatalismus einzunehmen, wenn er Schaumann über den Hof und seine Valentine resümieren lässt „Nun, das Schicksal hat’s mir so bestimmt.“

Foto Bernd Oei: Huneborstelesches Fachwerkhaus am Burgplatz. 1524 lies der Rats- und Gerichtsherr das älteste erhaltene Holzhaus der Stadt errichten.Kuriopsum: nach dem Krieg wanderte die Fassade in die damalige DDR. https://de.wikipedia.org/wiki/Huneborstelsches_Haus

Foto Bernd Oei: Veltheimisches Fachwerkaus am Burgplatz. 1573 von dem schwäbischen Adeligen dreigeschossig erbaut. https://de.wikipedia.org/wiki/Veltheimsches_Haus

Die Schanze zwischen Mär und Fakt

Eine ausführliche Inhaltsangabe samt Analyse liefert u.A: https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/stopfkuchen/7474: Besondere Aufmerksamkeit verdient die rote Schanze, da sie sowohl Hinweise auf die Rekonstruktion von Fakten und Objektivität liefert, in diesem Sinne dem Realismus geschuldet bleibt, als auch zur Legendenbildung beiträgt, was der poetischen Erfindungsgabe und dichterischen Freiheit (verbunden mit Symbolkraft) entspricht.

Foto Bernd Oei: Dom St. Blasii, Rückseite, südlicher Burgplatz (Sack). Der ursprünglich katholische Dom aus dem 12. Jahrhundert ist seit der Reformation im 17. Jahrhundert evangelisch (der katholische Herzog verzögerte seine Eingliederung) und Hauptpredigtstätte des Landesbischofs. Heute bekennen sich 45% zur protestantischen und 15% zum katholischen Konfession. https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_dom.php

Die Schanze erweist sich als Sammelpunkt merkwürdiger bzw. anrüchiger, die Harmonie der Stadtbewohner störender Ort, der als Raum bisweilen magische Kräfte und eine Aura entfaltet. Auch hier oszilliert Raabe geschickt zwischen Wahrheitsfindung bzw. Schutz und Legendenbildung bzw. Gefahr. Für die Außenseiter hingegen bildet er Schutz und gewährt Entfaltungsmöglichkeit der wahren Persönlichkeit.

Foto Bernd Oei: Dom St. Blasii, Seitenansicht.Mitten im Dreißigjährigen Krieg bestätigt Schwedenkönig Gustav II. Adolf 1632 die Rechte und Freiheiten der Stadt Braunschweig. Die kreisförmige Stadt beschreäkte sich damals noch auf die umfließende Oker und die Befestigungen bzw. Mauer, die 5 Inseln. Im Gegensatz zu Wolfenbüttel blieb Braunschweig von dem Schweden verschont bzw. wurde nicht eingenommen. In der Gruft ruht auch Heinrich der Löwe.

Die Rote Schanze vermengt Zeit und Ort durch oben und unten, nah und fern, innen und außen, so dass sie topografische, geometrische und synthetische Funktionen erfüllt. Der Raum ist allgemein in Raabes Narrativ wichtig, sogar ein Schlüsselmoment, besonders aber in diesem Roman.

Autobiografisches

Analogien zwischen dem Außenseiter Stopfkuchen und dem Autoren fallen auf. Raabe hat in seinem Roman einige autobiografische Elemente einfließen lassen. In seiner biographischen Skizze merkt er an, er sei froh davor bewahrt geworden zu sein „ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden“. Schaumann äußert sich gegenüber Eduard sehr ähnlich, wenn er sagt:  „Ich wußte es ganz genau, daß ich weder das Katheder noch die Kanzel und den Richterstuhl je besteigen werde! Auch zur praktischen Ausübung der Arzneikunst reichte meine Kenntnis der Osteologie doch nicht aus.“

Sowohl Raabe als auch Heirnich Schaumann gehen im bürgerlichen Bildungssystem vorerst unter und haben in den Augen ihrer Mitmenschen versagt. Sie verweigern sich des ihnen zugedachten Brotberufes, können sich später aber in der Gesellschaft rehabilitieren und finden Anerkennung. Mehr noch, sie entlarven die Hypokrisie des Bürgertums an. Schaumann tut dies über seine Enthüllung des wahren Täters, während Raabe dies in seinen Romanen erreicht, die das Thema Wahrheit und Verklärung behandeln. Als Nachkomme eines Postangestellten spiegelt sich Raabe jedoch auch in Eduard wider und hinter dem fiktiven Maienholzen wird Wolfenbüttel (der Ort seines eigenen Scheitern) sichtbar. Auch ihre Tätigkeit als Chronisten verbindet die Erzählfigur und den Romancier der „Chronik der Sperlingsgasse“. Es könnte sein, dass Raabe sich selbst zwischen den beiden Protagonisten sah.

Foto Bernd Oei: Burg Dankwarderode, Seitenansicht Der Bau entstand im 12. Jahrhundert als Inselburg. https://de.wikipedia.org/wiki/Burg_Dankwarderode

Foto Bernd Oei: Burg Dankwarderode, Frontalansicht mit Burgplatz, dem Zentrum welfischer Macht, kulminierend in Heinrich dem Löwen, der sowohl die Burganlage als auch den Dom St. Blasii errichten lies (natürlich in kleinerer Form als Basilika). https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_burg_dankwarderode.php. Im Inneren der Burganlage befindet sich der Original-Steinlöwe des Löwenmonumentes.

Eulenspiegelei

Es ist immer ein Vorrecht anständiger Leute gewesen, in bedenklichen Zeiten lieber für sich den „Narren zu spielen, als in großer Gesellschaft unter Lumpen mit Lump zu sein.“

Foto Bernd Oei: Eulenspiegelbrunnen mit Euen und Meerkatzen aus Bronze von Arnold Kramer, 1906, angelehnt an eine Anektode in Braunschweig. Einzig überlebendes Relikt aus der Vorkriegszeit am „Bäckerklint“, das Ende des Altstadtmarkts. https://regionalheute.de/braunschweig/serie-braunschweig-deine-strassen-baeckerklint/

Foto Bernd Oei: Eulenspiegelhaus am Kohlmarkt in der Altstadt Braunschweigs, Fußgängerzone, dem Viertel „Sack“ zugehörig. https://www.braunschweig.de/tourismus/ueber-braunschweig/sehenswuerdigkeiten/_kohlmarkt.php . Der Anblick, der sich Raabe bot, der 1870 in die Stadt zog, war freilich ein anderer. https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Stadt_Braunschweig#/media/Datei:Braunschweiger_Messe_um_1840_-_Kohlmarkt.JPG

Braunschweig ist eine Stadt, in der Till Eugelspiegel mehrfach wirkte, in dem Brunnen und Häuser an ihn erinnern. Wie Schaumann ist er ein Schalk und ein gewitzer Außenseiter. Die im Zeitalter des Realismus stark aufkommende Wissenschaft bildet ein weiteres zentrales Motiv im Roman, dem Raabe gespalten gegenübersteht. Er ist weder naiver Fortschrittsgläubiger noch überzeugter Traditionalist, der die Industrie verteufelt . Sein eigenes Interesse, etwa für die Fotografie (die mancher Maler verachtete oder als Bedrohung empfand) dokumentiert dies.

Die Erforschung der Heimat und Erkundung der Geschichte nimmt im Realismus Raabes einen zentralen Platz ein. Dazu zählt seine Vorliebe für Kriegshandlungen und die Paläontologie. Dem Forscherdrang und der unvoreingenommenen Neugier ist es zu verdanken, dass die Wahrheit spät ans Licht kommt. Das temporäre Verschweigen zeugt von menschlicher Größe. Über allem steht bei dem Schriftsteller der humoristische Humanität und nicht Rechthaberei oder rigider Moralismus. In dieser lausbubenhaften Haltung liegt die Eulenspiegelei Raabes begründet.

Schaumanns Fossilienkunde hinterfragt die Engstirnigkeit und Trivialität seiner Mitwelt, zu der auch Eduard gehört. Die Beschäftigung mit alten Knochen widerspiegelt Raabes Interesse für Runen und Mystik; generell achtet er die vergangenen Zeitalter. Sein Sprachrohr (vielleicht sogar alter Ego) Heinrich wie er selbst und gewinnen dadurch Einblicke in die Tiefen der Vergangenheit, aber auch die Abgründe in der Gegenwart. Symbolisch stiftet die Paläontologie eine Allianz mit seinem späteren Schwiegervater, der dem einzigen Besucher und Freund seiner Tochter seinen Fund eines Mammutskeletts zeigt.

Raabes Realismus basiert auf die Interaktion von Verhüllung und Enthüllung, Rätsel und Lösung. Nichts scheint, wie es ist angeblich gebildete Leute erweisen sich als leicht beeinflussba; sie irren sehr schnell und gründlich. Ein erstes Beispiel über Wahrheit und Täuschung liefert Eduards Beschreibung des glücklichen Paares Heinrich und Valentine: „Vor Jahren hatte ich weggeguckt; diesmal sah ich genau hin, wie sich die zwei den Arm um die Schulter legten und sich aneinanderdrückten und sich einen lauten Kuß gaben.“

Auch das ist Eulenspiegelei. Die Nähe zu Schopenhauer ist offenkundig, da dieser vereinfacht postuliert: der Mensch betrügt sich selbst, indem die Natur ihn nur erkennen lässt, was er erkennen will, so dass er freiwillig tut, was die Natur von ihm verlangt: durch den Trick der vermeintlichen Selbstbestimmung überlebt das Ganze oft auf dem Verderben des Einzelnen.

Foto Bernd Oei: Burgplatz mit Burg Dankwarderode, Löwendenkmal, Dom St. Blasii und Alten Rathausturm. Das alte Sackrathaus vor der Burg bestand vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Der Ringerbrunnen (Titelbild) hat den ehemaligen Rathausbrunnen ersetzt.

Fluch der Tat – Enthüllung nackter Tatsachen

Niemand kann die Enthüllung Störzers als Täter Kienbaums härter treffen als Eduard. Er rechtfertigt noch am Grab seine Wahl. „Du konntest nichts dafür; aber du bist eben unter deiner Hecke liegengeblieben, Heinrich!« sagte ich. »Ich aber bin mit ihm gegangen, gelaufen, habe mit ihm seinen trefflichen Tröster, den Le Vaillant studiert! Und wenn mich ein Mensch von seinen Wegen auf die meinigen hingeschoben und mich nach Afrika befördert hat, so ist dieser hier, mein alter, guter Freund, mein ältester Freund Friedrich Störzer es gewesen. Möge er sanft ruhen!“ Heinrich erwidert pietätslos: „Er war ein halber Idiot, aber er war ein braver, ein guter Kerl. Na – denn ruhe auch meinetwegen sanft, grauer Sünder, du alter Weltwanderer und Wegschleicher! Nun laßt endlich aber auch mich aus dem Spiel…“

Sein Verdacht, der sich durch das späte Geständnis bestätigt, erregt Störzer, als dieser bei der Beerdigung seines Schwiegervaters dem Toten verweigert, ein Häufchen Erde auf den Sarg zu schütten. „Es hatte niemand außer mir, auch meine Frau nicht, im Kreise um das Grab des Bauern von der roten Schanze bemerkt, daß eben etwas Absonderliches geschehen sei, daß einer die drei Schaufeln für den Toten mit dem Zeichen Kains auf der Stirn verweigert habe.“

Typisch für Raabe sind literarische Querverweise und Paraphrasierungen, mitunter auch Zitate. So spielt Heinrich auf Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ an, die gleichfalls einen ungesühnten Mordfall zum Inhalt haben.

Am Tatort gesteht Störzer seine Schuld, die kein Gericht je verfolgt hat, weil die Städter es auf den Quakatz abgesehen hatten: „Ja, ich bin’s gewesen, und ich habe es die ganzen langen Jahre getragen, daß ich es gewesen bin, und daß sie nach mir vergeblich gesucht haben.“ Im Gespräch um Schuld und Reue beteuert Störzer, „es war gegen die Natur.“ Schließlich habe er noch nie Glück oder Erfolg gehabt, sondern sein Ziel stets verfehlt. Ironie der Geschichte. Als er den Stein nach seinem Peiniger warf, wusste der Postbote nichts von den Folgen des Steinwurfs. „Die eine Nacht zwischen dem einen Abend und dem einen Morgen hat es gemacht, daß mich mein Gewissen doch verhältnismäßig in Ruhe gelassen hat.“

Foto Bernd Oei: Burg Dankwarderode, Treppe und Vestibül, Detail. nach einem Brand wurde das mittelalterliche Gebäude zu Raabes Zeiten zwischen 1887 und 1906 als Neuerrichtung im neuromanischen Stil rekonstruiert. Die Treppe führt zu einem imposanten Rittersaal, der für Veranstaltungen genutzt wird.


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