Es ist zu viel Lüge in unserer Literatur

Secco Malerei St. Balii, Braunschweiger Dom

Foto Belinda Helmert: Secco-Wandmalerei in St. Blasii, älteste Kirche Braunschweigs, unter Heinrich dem Löwen als romanische Bailika erbaut.

Der Titel ist ein Zitat Wilhelm Raabes, (1831-1910) aus „Gedelöcke“, die seiner Stuttgarter Zeit (62-70) entstammt, bevor der Berufsschriftsteller aufgrund seiner Befürwortung des Anschlusses Baden Württembergs an Preußen seine erste Wahlheimat verlassen muss und nach Braunschweig übersiedelt, wo er bis zu seinem Tod bleibt. Das Zitat stammt aus der Feder eines Chronisten und Fakten-Sammlers, neben Storm und Fontane dem wohl bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Realismus, der auch als Aufbruch in die Moderne zu werten ist. Im Folgenden wird der religiöse Kontext in Raabes Narrativ hinterfragt, der im Zuge der Säkularisierung und des Historismus für seine Generation von besonderer Bedeutung ist.

Die historische Novelle wird unmittelbar nach Königgrätz (Böhmen) veröffentlicht: mit dem Sieg über den Erzfeind nimmt die kleindeutsche Lösung, Die Gründung eines deutschen Kaiserreich unter preußischer Dominanz ohne Österreich, Gestalt an. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article247857068/Literatur-Als-Wilhelm-Raabe-aus-Schwaben-rausgeschmissen-wurde.html.

Publiziert wird „Gedelöcke“ vom renommierten Braunschweiger Verlag Glaser (Braunschweig ist derzeit ein Verlagszentrum) in der auflagestarken Literaturzeitschrift Westermanns, die neben der Gartenlaube die Haupteinnahmequelle Raabes ist. Wenngleich der Autor die Geschichte zu den weniger gelungenen Erzählungen zählt, die dem Broterwerb dient, verbindet sie Historie mit Humor und humanistischen Bildungsaufrag religiöser Toleranz.

Religion bzw. der rechte Umgang und das maßvolle Handeln (der Spagat zwischen Gottvertrauen und Pragmatismus) spielt in Raabes Gesamtwerk eine markante Rolle. Daher lohnt eine Komparatistik von „Gedelöcke“ mit der apokalyptisch endenden Erzählung „Frau Salome“ und dem „düsteren (schopenhauerischen) Spätwerk „Höxter und Corvey“, einem historischen Roman. Den Anfang soll jedoch das religiös-mystische Motiv in der Vorgänger-Novelle „Else von der Tanne“ bilden.

Foro Belinda Helmert: Quadriga auf dem Braunschweiger Residenzschloss. Mit 25,8 t Gewicht, 9,5 m Länge, 7,5 m Breite und 9,2 m Höhe ist sie die größte Quadriga Europas mit Landesgöttin Brunonia als Lenkerfigur https://www.schlossmuseum-braunschweig.de/das-museum/quadriga

Else von der Tanne: die Ermordung der Unschuld

„Else von der Tanne“ (1864) ist als Hörspiel verfügbar (unter https://www.youtube.com/watch?v=ehV2L4Gdx_s). eine Inhaltsangabe wie zu nahezu allen Raabe-Texten liefert https://de.wikipedia.org/wiki/Else_von_der_Tanne.

Nicht zum einzigen Mal siedelt Raabe seine Handlung im Dreißigjährigen Krieg an (u.a. Höxter und Corvey) – Schlachten gehören zum Repertoire jedes Chronisten und zur deutschen Geschichte, der Werdung einer Nation aus zerstrittenen Fürstentümern. Drei Personen verbindet das Schicksal: den Pfarrer (eine häufig wiederkehrende Figur in Raabes Gesamtwerk) Leutenbacher, die schöne und zum Sterben verurteilte „Hexe“, das Waldmädchen Else und deren Vater, ein Einsiedler und Sonderling. Der Pfarrer hilft den beiden Eremiten, fühlt sich unwiderstehlich zu der Halbwaise hingezogen. Sein Versuch, sie in die Dorfgemeinschaft zu integrieren scheitert: beim Aufsuchen seiner Predigt wird das Mädchen schwer verwundet und erliegt in der vom Vater aus Tannenholz gefertigten Waldhütte ihren Wunden.

Die Motive Außenseiter (von der Gemeinschaft Verstoßener), zwei Sphären (Natur, Zivilisation, weltliche und sakrale Sphäre) bilden gleichfalls wiederkehrende topoi des Erzählers. „Raum und Todessemantik“ lautet der bezeichnende prägnante Titel einer Studie über „Else“. Die Autorin betont darin die Zugehörigkeit zum künstlerischen (poetischen) Realismus, der die objektive Darstellung bewusst durchbricht. https://www.grin.com/document/500531

Die Erzählung spielt kurz vor Heiligabend 1648, symbolisch bedeutsam genug im Harz, wo u.a. der Bocksberg liegt, den Goethe in „Faust II“ zur Walpurgisnacht aufsucht. Eine konkrete örtliche Angabe bildet Magdeburg, ein Schauplatz, dem Raabe bereits in „Unseres Herrgotts Kanzlei“ (1861) Rechnung trägt. Ein Schlüsselerlebnis, zugleich Höhe- und Wendepunkt der Erzählung, ist der 24. Juni Johannistag, der auf den längsten Tag des Kalenders und den Geburtstag des Täufers fällt. Zugleich bildet er achsensymmetrisch einen Kontrast zum 21. Dezember, der längsten kalendarischen Nacht. Im Schneetreiben findet der sich verirrende oder auch den Tod suchende Pfarrer das Ende seines 38 jährigen Lebens. Der Tod des geliebten Mädchens und der seinige koinzidieren mit der Sommer- und der Wintersonnenwende und tragen eine Apokalypse in sich. Auch das Sterben des vereinsamten Vaters kündigt sich an.

Foto Belinda Helmert: Siebenarmiger Leuchter (1190) mit Orgel im St. Blasii Dom, Braunschweig. Die Secco Wandmalerei der romanischen Bailika besteht aus dem 13. jahrhundert, die Farben wurden nach ihrer Wiederentdeckung restauriert, 1880 neu bemalt. 80 % des Originals konnten dadurch bewahrt werden. Der Leuchter erinnert an die Menorah in Jerusalem: Sechs Arme plus ein Schaft wecken die Assoziation des Lebensbaumes und die 7 Tage Genesis.

armer Diener am Wort Gottes

Im langen Untertitel der Novelle ist auch von „armer Diener am Wort Gottes“ die Rede. Sein Versuch, Frieden zu stiften und damit Gottes Platzhalter aur Erden zu sein, erweist sich als Hybris, zumal der Geistliche mehrere Anzeichen von drohender Gewalt übersieht. Aberglaube, Irrationalismus und Verrohung (bedingt durch den langen Krieg) spiegeln sich im Verhalten der gottesfürchtigen, doch die Worte des Testaments missverstehenden Dorfbewohner wider. Der Komplex Verbannte bzw. Ausgeschlossene, das Fremdsein und die feindselige Ablehnung, Xenophobie, bilden die eine Seite der Raabe-Perspektive. Die andere jedoch die Unfähigkeit, Individualismus und Kollektiv zu versöhnen: auch die Außenseiter (hier der Vater Elses) mühen sich wenig um Integration. Der Pfarrer hegt durchaus selbstüchtige Absichten und gibt durch seine Fixierung auf die Jungfrau auch Anlass zu Misstrauen und Hass.

Die Antipodenstellung von tugendsamen und human handelnden Charakteren, vornehmlich Pfarrer (Vorname Friedemann“), Else (aufgrund der Hütte vor der Tanne geheißen) und ihr Vater zu marodierenden Soldaten und eingeschüchterten, traumatisierten Dörflern, die einen Sündenbock für erlittenes Unrecht suchen, scheint klar. Damit verbunden der Unterschied von aufrichtigem Glauben im Herzen und bloßer traditioneller Gottesdienst-Ableistung mit einer Missinterpretation der biblischen Worte (Problem der Exegese, auch eine Form der Lüge).

Foto Belinda Helmert: Siebenarmiger Leuchter, Marienaltar und Secco-Malerei im Altarraum sowie Orgel. Der Altar besteht aus einer polierten Steinplatte (168 cm × 89 cm), die auf fünf Bronzesäulen (Höhe 95 cm) ruht.https://www.braunschweigerdom.de/wandmalereien

Keine Rettung in der Welt

Am Ende bleibt das vernichtend anmutende Resümee: „Es ist keine Rettung mehr in der Welt vor der Welt„. http://www.zeno.org/Literatur/M/Raabe,+Wilhelm/Erz%C3%A4hlungen/Else+von+der+Tanne. Nur geringfügig variiert taucht dieser Satz auch auf in „Des Reiches Krone“ (historische Erzählung, 1870) bezogen auf den Fall des Oströmischen Reiches nach der Einnahme des heutigen Istanbul durch die Osmanen „… es ist keine Rettung mehr für Konstantinopolis, die große Stadt.“ (Schlusskapitel). Die ungeschönte und damit grausame Realität des Krieges wiederzugeben zeichnet die Zugehörigkeit Raabes zum Realismus aus, obgleich er auch mystische, romantische und fantastische Elemente in sein Narrativ einstreut.

Offensichtlich übt Raabe Kirchenkritik am Pietismus: so wollen die frommen Kirchengänger die vermeintliche Hexe steinigen. Sie handeln nach dem Motto nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da und damit invers zur Bergpredigt; zudem entwickelt der heidnische Aberglaube der erklärten Christen seine diabolische Zerstörungskraft. Nicht unwesentlich ein Paradox: Die gottesfürchtigen Kirchenbesucher versuchen die Fremden mit „Zauber“ vom Betreten ihrer Weihestätte fernzuhalten bzw. sie am Verlassen zu hindern; bedienen sich daher jener Hexenmagie, die sie Else zum Vorwurf machen.

Ebenso richtet sich seine Enthüllung inhumaner bzw. bigotter Moral gegen das Bürgertum aufgrund ihrer rigiden Abneigung gegen alles Fremde. Sinngebung und Sinnlosigkeit amalgamieren im Text, der hinsichtlich der Lynchjustiz vor und in der Kirche, an Kleists Erzählung „Die Erdbeben von Chili“ (1806) erinnert. https://www.slideserve.com/emilia/wilhelm-raabe-else-von-der-tanne

Unter dem Aspekt der Prophetie liefert der Schneesturm – die Geschichte ist anachronologisch erzählt und setzt mit ihrem Ende 1648 ein – bereits einen Verweis auf die Apokalypse, als die man den im Mord endenden Kirchensturm und die Hexenverfolgung, bezeichnen kann. Entscheidend bleibt, weshalb der Pfarrer diese menschliche Entgleisung mit dem Willen Gottes in Verbindung bringt: Auf die Worte des Vaters am Sterbebett seiner Tochter »Ich habe sie vergeblich in der Wildnis verborgen – weh, es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt – – um fünf Uhr ist sie gestorben, und der große Sturm erhob seine Stimme im Wald, sie aber hörte dieselbe nicht; – sie ist sicher und lebt; aber wehe uns!« folgt der Absatz:

Jetzt erhob der Prediger von Wallrode im Elend das Gesicht von der Leiche; er ließ die Hand auf den kalten Händen der toten Else liegen und rief: »Jawohl, wehe uns! Es ist geschehen – Gottes Wille ist vollbracht. Er hat seine Hand abgezogen von der Erde, er hat die Völker verstoßen und uns vernichtet; es ist keine Hoffnung und kein Licht mehr in der Welt und wird auch nimmer wiederkommen. Wir haben uns gesträubet gegen seine mächtige Hand und sind geschlichen wie Diebe in der Nacht mit unserm und der[564] Erde letztem Schatz und Edelstein, ihn seinem Auge zu verbergen: Er aber hat uns aufgefunden, über uns gehauchet und uns geschlagen mit der Geißel des Zornes; er hat unser gelachet und gegriffen, was sein war. Wer will sich nun fürder wehren? Es ist nicht nütze und verlohnet der Mühe nicht! Lasset der Sünde und der Schande Strom schießen und brausen! – Wer will noch Dämme bauen gegen des Herrn Willen? Der Herr spottet der Erde, und seinem Lachen lauschet der Antichrist in der Tiefe, stehet und ruft den Seinen: Wacht auf, wachet auf, ihr Fürsten der Nacht! – Der Schein Gottes gehet aus der Welt; stehet zu den Riegeln, ihr Gewaltigen, die Pforten des Abgrundes aufzuwerfen – unser ist das Reich!«

Eine selbstbestimmte Lebensweise oder säkularisierte Aufklärung sieht anders aus. Diese Frage nach dem Wert menschlichen Strebens in der Hoffnung auf irdische Barmherzigkeit ist so alt wie die Frage der Theodizee. Raabe liefert keine Antwort, doch er hinterfragt den Sinn des Lebens und der Ordnung mehrfach.

Foto Belinda Helmert: Glasfenster, Südquerhaus im St. Blasii , Altstadtviertel Sack, 1226 geweiht. https://de.wikipedia.org/wiki/Braunschweiger_Dom

Gedelöcke: Appell zum konfessionsübergreifenden Glauben

Antijüdische und prosemitische Äußerungen halten sich im Gesamtwerk Raabes die Waage. Zudem sollte in einem Roman das lyrische Ich oder der eingeführte Protagonist nicht automatisch mit den Gedanken und Überzeugungen des Autors gleichgesetzt werden. Eine detaillierte Inhaltsangabe bietet https://de.wikipedia.org/wiki/Gedel%C3%B6cke. Den Volltext liefert https://www.projekt-gutenberg.org/raabe/gedeloec/gedeloec.html

Im Zentrum steht die Beerdigung eines Mannes, der die letzte Weihe durch einen Priester verweigert und sich von einem befreundeten jüdischen Vorsänger nach Brauchtum salben lässt. Sowohl Christen als auch Juden lehnen es ab, den Toten auf ihrem Friedhof zu bestatten und zeigen sich von ihrer unmenschlichen, verbitterten Seite. Auch die Intervention eines Regimentschef auf eine militärische Beisetzung in Ehren wird verhindert.

Schon der Beginn deutet an, dass jemand zwischen zwei Stühlen steht und daher nicht zur letzten Ruhe gebettet werden vermag: „Teilweise auf der Insel Seeland und teilweise auf der Insel Amager liegt, wie mancher Schuljunge, aber nicht jeder Gelehrte weiß, die Stadt Kopenhagen, die Hauptstadt des Königreichs Dänemark, wohl versehen mit Fortifikationes sowohl auf der Land- wie auf der Seeseite, eine feine und schöne Residenz, und seit uralten Zeiten durch mannigfaltige Handels- und sonstige Interessen mit Deutschland im, wenn auch nicht zärtlichen, so doch recht angenehmen und freundnachbarschaftlichen Verhältnis.

Die Geschichte spielt in Kopenhagen 1731, die Sprache ist durchgängig altertümlich (und entbehrt daher nicht einer komischen Note). Sehr früh wird deutlich, dass man auf Erden den Wunsch eines Patienten (auch eines Sterbenden) zu respektieren habe; sobald er aber verstorben sei, müsse sich das Begräbnis nicht nach den leiblichen, sondern den geistlichen Bedürfnissen richten.

Foto Belinda Helmert, HolzskulpturSt. Johannis um 1500 im Braunschweiger Dom Blasii, dem zu Ehren Heinrich der Löwe die Stiftskirche errichten lies. https://www.braunschweigerdom.de/architektur.

Es ist eine kuriose Welt

Ein schwarzer Kater, den der Sterbende über alles liebt erweist sich als Unglücksbote und ringt ihm den bezeichnenden Kommentar ab: „Es ist eine kuriose Welt“ – kurios ist die Geschichte, auch der darin enthaltene Symbolismus, dass ein Toter keiner befriedeten Welt angehören darf. Das Militär ist omnipräsent in Raabes Chronologie, was kaum verwundert, da die Geschichte von Kriegen begleitet und geprägt wird. Der Sterbende ist selbst als Soldat aktiv gewesen. Ironie entbehrt seine Berufsbezeichnung Kurator nicht: wörtlich ein Pflegender und Schutzbefohlener, historisch für die ihm anvertrauten Unmündigen. Nach seinem Ableben wird er zum Fall konfessioneller Streitigkeiten. In diese grotesk „jokos“ anmutende Situation der Beerdigung und Exhumierung passt auch die Formulierung „nicht als ein gläubiger Christ, sondern als ein ungläubiger Jud gestorben“ als Argumentation der Lutheraner auf eine ordentliche Bestattung. Invers argumentieren die Rabbiner: wer als Christ gelebt, der könne nicht als Jude aus ihr scheiden.

Die Geschichte ist fast ausschließlich dialoghaft gehalten. Der Freund und Sänger beklagt mit dem Schicksal des Toten auch gleich das eigene, da man ihm aufgrund seiner Hilfe aus dem jüdischen Gemeinwesen verstoßen hat. „Ich bin ausgestoßen worden aus der Gemeinschaft meines Volkes; wenn ich läge, wo der Herr Kurator lieget, so würde es besser um mich bestellet sein.“ Christen und Juden verhalten sich halsstarrig und bockig; daher erscheint auch die letzte Ruhestätte Gedlöckes symbolisch: eine alte Viehweide.

Foto Belinda Helmert: Grabmal des Welfen Heinrichs des Löwen, 1133-95, Gründer St. Blasii und der Braunschweiger und seiner Gemahlin Mathilde Plantagenet von England, 1156-89. https://www.braunschweigerdom.de/grabmal

Wir kommen als Menschen und verlassen sie als Esel

Der aus Island stammende Doktor resümiert angesichts der unrühmlichen Beisetzung: „Wenn ich in Bedacht nehme, wie alt der Mensch werden kann, ohne aufzuhören ein Esel zu sein, so möchte ich mir selber zu einem Greuel werden.“ Raabes Religionskritik, präziser: Konfessionsgebaren, entäußert sich in einer komischen Burleske, die nicht zufällig mit einer Referenz an Apuleius „Der goldene Esel“ endet, einer Metamorphose von Mensch zu Esel und zurück. Kleinbürgerliches Denken scheint der Hauptgrund für Streiterei und Habsucht. Man könnte auch vom Verlust des Ich in der Moderne sprechen, da die traditionelle Gottesnähe im Zuge der naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt weitgehend verloren geht. Das Motiv Tod im Leben, wie es in „Else von Tanne“ leitmotivisch vorzufinden ist, begleitet auch die vier Jahre später abgeschlossene Groteske „Gedeslöcke“.

Foto Belinda Helmert: Christussäue 2000 Jahre Christentum von Jürgen Weber am Sack rund um den Dom St. Blasii. Die Ringe verweisen auf den Wettstreit der drei Religionen, die Lessing in „Nathan Der Weise“ mit der Ringparabel beantwortet. Stier, Adler, Löwe und Engel allegorisieren Markus, Johannes, Lukas, Matthäus.https://de.wikipedia.org/wiki/Ruhf%C3%A4utchenplatz

Frau Salome

Zehn Jahre später entsteht die Erzählung „Frau Salome“, die allerdings erst fünf Jahre später veröffentlicht wird, wiederum bei Westermanns Monatsheften als Fortsetzungsgeschichte. Vordergründig bietet sie einen Vergleich zu schönen jüdischen Frauen, die in Raabes Werk immer wieder auftauchen, etwa in „Die Holunderblüte“ oder das nachfolgend erwähnte „Höxter und Corvey“. Eine Zusammenfassung bietet https://de.wikipedia.org/wiki/Frau_Salome. Der Volltext ist nachzulesen auf http://www.zeno.org/Literatur/M/Raabe,+Wilhelm/Erz%C3%A4hlungen/Frau. Eine fünfminütige Hörprobe mit dem Beginn (erstes Kapitel) liefert https://www.amazon.de/Frau-Salome/dp/B007D3YLY8.

Raabes Tiersymbolik ist kennzeichnend: in „Else“ war häufig von einem Reh die Rede,  in „Gedeslöcke“ finden Kater und  Eselei Erwähnung eine Rolle, in dieser Erzählung hat ein leibhaftiges Gautier seinen Auftritt. Der Handlungsort Harz bzw. Brocken stiftet Nähe zu Heines und Goethes Harzreisen, wobei Goethe auch zu Beginn namentlich Erwähnung findet. Die Neigung Raabes zu paraphrasieren, zu persiflieren oder zur Allusion ist omnipräsent.

Über zwölf Kapitel spielen auch in „Frau Salome“ Außenseiter, „schräge Vögel“ oder radikale Individualisten eine entscheidende Rolle in ihrer Konfrontation mit gesellschaftlichen Konventionen und Normen, die sich gewaltsam entladen. Die eigentliche Haupttperson ist der Jurist Scholten, der zwischen seinen (ehemaligen) Freunden steht, einem Theologen und einem Bildhauer steht, den erstgenannten als genialen Halbgott heroisiert und den Künstler als Verrückten stigmatisiert, am Ende aber sein Urteil revidiert. Die weibliche Seite verkörpern die titelgebende schöne, unnahbare Witwe Salome, eine Baronin, die als Seelenverwandte Scholtens gelten kann und die pubertierende Tochter des Bildhauers, die es nicht erträgt, zum Modell ihres, vom Tod seiner Frau traumatisierten, Vaters degradiert zu werden. Ihr Name Eilike bedeutet Schwertträgerin und die Assoziation zu Johanna von Orléans liegt nahe, angesichts des von ihrem Vater verursachten Brandes, bei dem ein Großteil der Dorfes niederbrennt, so dass man die vermeintliche Brandstifterin lynchen will. Ihr Vater hingegen will mit seinem „tönernen Riesen“ Kunst für die Ewigkeit schaffen, eine Vollkommenheit, wie sie auf Erden nicht zu finden ist.

Foto Belinda Leuchter: Siebenarmiger Leuchter im Dom St. Blasii. Bronze, Ende 12. Jh., 5 m Höhe, 400 kg Gewicht. https://www.braunschweigerdom.de/leuchter

jenes seltsame Suchen der im Gewühl Einsamen

Die erste Schilderung Frau Salomes (Kapitel 3) erinnert an Jesus Einzug in Jerusalem auf einem Esel: „Eine Dame hielt allein in der Einsamkeit, auch auf einem Maulesel, seitab des Weges auf einem Felsenvorsprung, den Blick über das zu ihren und ihres Tieres Füßen schroff sich senkende Waldtal in die Weite gegen Nordosten gerichtet; – regungslos, die Zugel über den Bug des ruhigen Tieres gelegt, das Kinn mit der Hand stützend – eine stattliche Figur – Kraft und Schönheit – schwarze Haare und schwarze Augen und in den Augen jenes seltsame Suchen der im Gewühl Einsamen –“ Die Stelle zeigt zudem, wie sehr und wie präsent die Natur (mit ihr auch die Romantik) im Schreibstil Raabes bleibt.

Die erste geschilderte Begegnung zwischen dem Justizrat und der Baronin, ansgesprochen als „schöne semitische Zauberin“ , findet auf dem Kreuzwege am Blocksberg statt. Die beiden finden über eine schrullige Konversation (in diesem Sinn sind beide Sonderlinge) Gefallen aneinander. Beide sind gebildete Einzelgänger mit Hang zur Ironie; so nennt ihre Spontanbekanntschaft „mein braver germanischer Waldspuk„. Heidnische Anspielungen aus der germanischen und griechischen Mythologie bzw. Philologie sind ein Steckenpferd des Autors, mit denen die Erzählung gewiss nicht geizt.

Foto Belinda Helmert: St. Blasii, Skupturen Dargestellt werden: Christus im Elend, Passionssäule, beides um 1460, https://www.braunschweigerdom.de/christus_im_elend, sowie die Inschrift Gewähre uns Frieden, Bezug nehmend auf Agnus Dei, der Messe und einem Lied aus dem 17. Jahrhundert https://jurtenland.eu/wiki/index.php?title=Dona_nobis_pacem&mobileaction=toggle_view_desktop

Unsere eigenen Wälle brechen über uns zusammen

Nicht wenige der Sätze liesen sich aus dem Text als Motto voranstellen, wie etwa der obige aus dem Munde der (mehrfach so genannt) schönen Frau zu Esel, die an Grillparzers Drama „Die Jüdin von Toledo“ (Uraufführung 1872) erinnert (viertes Kapitel). Der Verlust von Sonne und Licht sowie die verschlungenen Wege nehmen das heranziehende Unheil vorweg, das beide aus ihrer Berg- und Waldidylle in die Abgründe irdischer Welt führt. Details wie der Ruf eines Kuckucks, der mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird, unterstützen diese Prophetie.

Religiöse Motive werden durch Bibel-Zitate (z. B. Matthäus 14,20) wie die Speisung Jesus der Fünftausend mit einem Brot und einem Fisch (5. Kapitel) eingeflochten. Der darauf erfolgende Kontakt mit Querian lässt zwei Vermutungen zu: die Ableitung aus dem Lateinischen Speer, Kämpfer konvergiert mit der Passion des Malers, einen tönernen Riesen künstlerisch zu erzeugen, zugleich stiftet er damit Nähe zu einem Golem. Die zweite Variante bietet der Autor selbst an: Querian ist quer, sonderbar: eine seriöse Karriere erscheint mit solch einem Namen undenkbar.

Die schöne Jüdin selbst wird, nun aus den Augen der pubertierenden Tochter des Bildhauers als „Erscheinung aus einer anderen Welt“ (6. Kapitel) wahrgenommen. In der Folge gerät das Kinde in Verzückung, wenn es der Baronin gewahr wird: sie macht sie zum konkreten Ebenbild ihrer Idealisierung. Das religiöse Motiv der Ikone, das sie an ihrem Vater so verängstigt, ergreift von ihr selbst Besitz: „das Bild der schönen jüdischen Baronin war’s, was sie munter hielt auf ihrem Strohsack.“ (9. Kapitel)

Der belesene Humanist und Philister Scholten hat keine Erfahrung in Erziehungsfragen und sein Patenkind seit der Taufe nicht mehr gesehen. Daher fällt er ein rasches und zu hartes Urteil über den einstigen Schulfreund Querian, den er nach den Wortender Vierzehnjährigen für unzurechnungsfähig erklärt: „Ich meine, ich könnte sterben,[324] ohne daß er es merkte. Er hat mich wieder nackt abgebildet, daß ich mich vor mir selber fürchte“ (6. Kapitel)

Foto Belinda Helmert: Toilettenbesucher, Inventar des Lokals Mutter Habenicht, Braunschweiger Innenstadt unweit des Burgplatzes.

Tollheitsstrudel

Angesichts der Fixierung des Vaters auf seine Kunst und die Ignoranz der Realität Eidikes gegenüber steigert Scholten sich in einen furor und spricht von ansteckender Verrücktheit und Tollheitsstrudel (8. Kapitel). Seine Sorge steigert sich in individuellen Übermut: er will das Kind retten und zu sich nehmen, während der verarmte Vater eine verspätetes Stipendium und eine Reise nach Rom antreten soll, finanziert von Frau Salome. Menschliche Unzulänglichkeit, aus Isolation entstehende Verwirrung und Götzenbilder werden direkt vom Autor angesprochen: auch sein Protagonist ist nicht frei davon.

Da die geistreiche Baronin sich als Kunstmäzenin gefällt Heine anführt, liegt die Verbindung zur Salondame Rahel Varnhagen nahe. Wie diese kokettiert sie selbstironisch mit der Rolle der eitlen Verführerin Saba, die durch den tugendhaften Salomon eine andere wurde. Ihr Haus auf einem, Felsenvorsprung dient als Rückzugsort und Schutz vor der Masse, sowohl ihrer Zudringlich- als auch Gewöhnlichkeit, die babylonische „Verwirrung dort in den Städten“ (10. Kapitel). Die Lichtmetaphorik (hell gut, dunkel böse) wird zur Windmetaphorik: ein Sturm zieht auf. Das Gespräch mit Besuch in Querians Höhle (Atelier) steht bevor. „Grad auf das Dorf zu trieb aber der Sturm die ersten vorbrechenden Funken.“ (11. Kapitel)

Was sich angekündigt und androht, wird am Ende Wirklichkeit und im biblischen Sinn, wer Wind sät, wird Sturm ernten (AT, Hosea 8, Vers 7) kulminiert alles im zwölften, dem Schlusskapitel. Dies gilt für Bibel-Zitate wie: „Die Erde bebte und sie ward bewegt“ (2. Buch Samuel, 22) vor dem infernalischen Brand genauso wie die archetypische Schilderrung einer schönen Frau vor und im Feuer. Eilike wird von Baronin Frau Salome auf einem Grabstein gelegt: sie ist Opfer und gerettet zugleich, als der wilde Mob seine Blutzoll fordert. Kurz zuvor hat der über das Lachen erzürnte Künstler sich, das Kunstwerk und das eigene Atelier in Brand gesetzt, weil er das höhnische Lachen seines ehemaligen Freundes Scholten nicht ertrug. Die Bedeutung des Lachens, zugleich eines gebrochenen Eides, wird in Raabes Erzählung mehrfach betont.

Der Wind hat entscheidenden Anteil daran, dass sich das Feuer ausbreiten kann und welche Richtung es einschlägt, so dass es eine maximale Zerstörung anrichtet. Die Wut der Dorfbewohner führt zur einer Lychnjustiz, die an „Fräulein Else“ nicht ganz heranreicht, aber daran erinnert. Als das Ziel ihrer Verfolgung, die Tochter Querians, ihnen entzogen wird, schlägt Wut schlägt in Resignation um: „Die Menschen aber hatten nicht mehr die Kraft, über ihr Elend zu schreien oder laut zu fluchen; sie beteten und weinten leise oder knirschten leise mit den Zähnen.“

Der Schwerpunkt liegt in „Frau Salome“ weniger auf Außenseitertum und Unvereinbarkeit von gelebter Individualität mit notwendiger oder erzwungene Anpassung an die Gemeinschaft und noch weniger in der Kollision zweier Konfessionen, als im Untergang einer „schönen, behaglichen, anmutigen Zeit„, wo das Gesetz, das Corpus juris noch Geltung besaß. Die Unvereinbarkeit von Tradition und Innovation begründet Raabes Kulturpessimismus, die in Schopenhauer Nahrung findet.

Foto Belinda Helmert: Speiselokal Mutter Habenicht, Außenfassade, Detail. Feuerbach-These lautet: Der Mensch ist, was er isst. Demnach projiziert der gebrechliche Mensch sein Wunschbild von Allmacht in Gott. http://www.mutter-habenicht.de/

Höxter und Corvey

Zehn Jahre vor „Das Odfeld“, das Bezug nimmt auf die Vewürstung des Klosters Amelungsborn im Siebenjährigen Krieg unmittelbar vor seiner Geburtsstadt Eschershausen, nimmt Raabe in „Höxter und Corvey“ (1875 veröffentlicht) Bezug auf die Brandschatzung sakraler Bauten nach dem 30jährigen Krieges im Weserbergland und damit seiner Heimat. Höxter ist zur Zeit der geschilderten Ereignisse im Dezember 1673 (wie in „Das Oldfield ist die erzählte Zeit äußerst knapp bemessen) , in der die Franzosen ins Land einfallen und die Rekatholosierung vorantreiben, Hauptstadt des Territoriums der Fürstabtei Corvey. Eine Zusammenfassung liefert hier https://welterbewestwerkcorvey.de/welterbe-corvey-zeitreise-17-jahrhundert-wilhelm-raabe-hoexter-und-corvey/ nebst Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6xter_und_Corvey. Der Volltext ist einsehbar unter https://www.projekt-gutenberg.org/raabe/hoexter/hoexter.html. Über die Geschichte der weltlichen Stadt Höxter und des Bistums bzw. Klosters Corvey informiert https://www.hoexter.de/portal/seiten/hoexter-und-corvey-eine-geschichte-908000317-22101.html. Dabei wird deutlich, dass bis ins 17. Jahrhundert hinein natürliche Grenzen wie Wälder, Flüsse, Seen noch eine Bestimmung für die Staatsbildung waren. Dabei nimmt sich der Autor einige dichterische Freiheiten heraus.

Foto Belinda Helmert: Eulenspiegelhaus am Kohlmarkt (1758) mit Glockenspiel. der Kohlmarkt jedoch viel älter und bildete schon im 10. Jahrhundert eine der frühen Siedlungen Braunschweigs. Im Dachgeschoss des Hauses Kohlmarkt 10 , einem ehemaligen Bürgermeisterhaus, befindet sich ein Till Eulenspiegel-Glockenspiel. Dort ist auf einem Trägerbalken ein Hinweis auf Till Eulenspiegel zu lesen. https://www.komoot.com/de-de/highlight/231067

Uhren gehen falsch

Den schrullige Außenseiter mimt in dieser Erzählung abermals ein Rechtsgelehrter: Lambert Tewes. Über dessen historischen Streit mit dem antisemitischen Fährmann und Bürger Hans Vogedes, seinem Antagonisten informiert https://hgv-hhm.de/unter-des-teufels-vorbehalt.html. Ein Pastor und eine Jüdin spielen auch in dieser ausgeschmückten Anekdote eine zentrale Rolle. Der Geistliche erweist sich als hartherzig seinem Neffen gegenüber: er verzeiht ihm nicht, dass er sein Studium abgebrochen hat und verwehrt ihm das Gastrecht.

Auch das Thema des Sündenbocks kehrt wider, indem die wütenden, von den Franzosen geplagten Bürger, ihren Ärger an Unschuldigen auslassen. Dies gilt auch für die Brandschatzung eines jüdischen Hauses. Dieses Schicksal erlitten auch die jüdischen Bewohner Braunschweigs während der Reformationszeit (1546); ihre Rückkehr ereignet sich zwei Generationen nach den Übergriffen in Höxter. Lambert verteidigt die jüdische Familie, von denen er die schwerkranke Frau auf der Fähre kennengelernt hat, mit Fäusten und mit Worten. Die wenigsten Christenmenschen sind tolerant oder frei von religiösen Vorurteilen. Das ganze Land ist zerstritten und sittliche verwahrlost. So will der hartherzige lutherische Pastor die Juden ausräuchern.

Schon zu Beginn heißt es daher sinnbildlich: „In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung; Sankt Peter und Sankt Kilian zeigten falsch, Sankt Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern stand das Werk ganz still; nur auf Stift Corvey, eine Viertelstunde abwärts am Fluß, befand es sich noch in geziemlicher Ordnung und hatte sich auch eine Hand gefunden, die es darin erhielt und es zur rechten Zeit aufzog. Es schlug vier Uhr am Nachmittage auf dem Turme der Abtei.“

Die Antipodenstellung betrifft daher nicht nur die Menschen Lambert und Hans, sondern vor allem die Orte Höxter (profan) und Corvey (sakral). Der Fluss bildet die Grenze als fließenden Übergang, das Floß ein Symbol der Bewegung innerhalb des Reiches. Die Benedektinerabtei, im Mittelalter noch ein Leuchtturm der Christianisierung, wurde kurz vor Einsetzen der Handlung (1667) stark beschädigt; mit ihrem Neuaufbau setzte zugleich die Gegenreformation ein. Corvey unterstand dem fürstlichen Bistum von Münster, hatte also keinen rechtlichen Bezug zum protestantischen Höxter, das später Hauptstadt des Bistums werden sollte, bevor es zu Westfalen kam.

Die Irrungen und Wirrungen deuten sich daher bereits in und mit der Zeitangabe der verschiedenen Uhren an, ein Kaleidoskop der zersplitterten Deutschen Gebiete (Teil des Heiligen Reiches Deutscher Nation), das weit davon entfernt ist, eine Nation zu bilden. Zudem herrscht bei Einsatz der Handlung wie in „Else von der Tanne“ Unwetter vor: „Schweres Regen- und Schneegewölk wälzte sich über den Solling.“ Der geschichtliche Rahmen und soziokulturelle Hintergrund macht vor den Individuen nicht halt: alle handelnden Personen werden mit ihrer Religionszugehörigkeit identifiziert: diese ist wichtiger als ihr Pass.

Foto Belinda Helmert: Gedenkstein zu Füßen der St. Martini 12. bis 13. Jahrhundert für die Bombardierung am 15. Oktober 1944 brannten der Dachstuhl und das Westwerk vollständig aus. Unmittelbar vor und hinter der Kirche befinden sich der Altstadt- und der Eiermarkt. https://de.wikipedia.org/wiki/St._Martini_(Braunschweig)

Erkenntnis macht frei, Bildung fesselt, Halbbildung stürzt in Sklaverei

Sklaverei beginnt im Kopf und wurzelt im Vorurteil bzw. mangelnder Erkenntnis. Dicke Mauern beherrschen nicht nur das Stadtbild Höxters, sondern geben auch eine vortreffliche Metapher für das Innenleben seiner Bewohner ab. In Anlehnung an den Mythos des Fährmann Charon und die Überquerung des Hadeszufluss Styx wird der Leser auf den Tod vorbereitet. Mit der von den Franzosen zerstörten Brücke geht auch der Verfall der Zivilisation und Rückfall in Barbarei (Religionskriege) einher. Auch die ersten gesprochenen Worte sind überaus sinnbildlich. Der Benedektinermönch sagt bezüglich des mürrischen Fährmanns zu der alten Jüdin: „Der Gott Abrahams knöpfe dem Schlingel da drüben die Ohren auf“. Er erweist ihr konfessionsübergreifend Respekt.

Das letzte (Kapitel XV) schließt mit wörtlichen Rede „Na, noch ist’s Zeit«. Diesmal spricht der neue Fährmann zu Lambert, der Höxter verlässt und nach seiner Meinung Bürgermeister werden soll. Zeit und auf das Richtige hören – die Zeichen der Zeit verstehen – bilden den übergeordneten Rahmen der Geschichte.

Foto Belinda Helmert: Torbogen des alten Rathauses, Viertel St. Martini in der westlichen Alstadt. Die Braunschweiger Elle misst 57,07 cm und galt bis 1871.

eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Willen haben muß

Der Chronist lässt keinen Zweifel an der „Verwirrung des Gemeinwesens“ in „Huxar an der Weser“ (II). Hans Vogedes schimpft die greise Jüdin eine Hexe und hat nur Verachtung für sie über. Nicht nur er, auch der Onkel von Lars zeigt sich unmenschlich in seiner Grobheit. Beide halten sich aber für gute Christenmenschen. So rechtfertigt der Pastor von Sankt Kilian Gewalt mit den Worten „Der Herr wandelt dennoch auf den Wassern. Er wird’s wohl zwingen.“ Die lutherische Bürgerschaft ist überzeugt, dass „ein Hauffen Juden alle in bürgerlichen Häusern allda wohnen, ihren Wucher treiben und dennoch der Stadt nichts geben!« (III)

Der ungenannte Chronist vergleicht den Zustand der Menschen in der Welt mit denen von Kindern, die geführt und geleitet werden müssen. Er vergleicht auch das Leiden der Deutschen unter den Franzosen mit jenem der Juden, die unter beiden zu leiden hatten und heroisiert das kleine Judenmädchen, als es das verschmutzte Haus zu reinigen beginnt, so wie er die Trümmer ihres Dorfes mit jenen des Tempels von Jerusalem vergleicht.

Lateinische Verse – das verfluchte welsche Galgenlateinisch„-, Hinweise auf die Bibel und altdeutsche Sprache charakterisieren auch diese Erzählung Raabes. Das vierte Kapitel endet mit dem Gedanken „Es ist eben eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Willen haben muß. Unsere Väter haben es uns nicht anders gelehrt!“ Der Sinn der Geschichte ist der, dass sie keinen hat. Weder lernen die Menschen aus den Fehlern der Alten noch zeichnet sich am Horizont die Entwicklung zum Besseren, Vernünftigeren, Gütigerem ab. Die Gerechtigkeit muss ruhen. Um es mit Schopenhauer, den Raabe zu dieser Zeit bereits eifrig konsultiert, zu formulieren:

„Die Philosophie kann nirgends mehr tun, als das Vorhandene[343] deuten und erklären, das Wesen der Welt, welches in concreto, d.h. als Gefühl, Jedem verständlich sich ausspricht, zur deutlichen, abstrakten Erkenntnis der Vernunft bringen …. Denn wir sind der Meinung, dass Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntnis der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können …“ (Die Welt als Wille und Vorstellung,  Band 1, 4. Buch , § 53)

Foto Belinda Helmert: Der Rufer von Bodo Kampmann auf der St. Magnikirche stammt aus dem frühen 11. Jahrhundert, womit sie älteste Braunschweigs ist und bildet heute den Mittelpunkt des Stadtviertels Altewiek. https://www.magni-kirche.de/magni-kirche/kirchenhistorie/

»Wie die Engel schlafen sie«

Das Unheil nimmt rasch Fahrt auf. Die in ihrem Hass fanatischen Bürger Höxtersr, Protestanten, wollen die Benedektiner und noch weniger die Juden dulden. diese üben sich in Nachsicht und stoischer Gleichmut: „Es hat alles seine Gründe in dieser Welt„. (Kapitel VII). Notfalls greift man selbst zur Waffe und „das alte Spiel“ beginnt von neuem: der Krieg und seine „Tumulanten„. Indes schwingt sich Lambert auf, das Erbe von Quintus Horatius Flaccus – besser bekannt als Horaz – zu übernehmen und stürzt sich, den römischen Dichter zitierend, in das Handgemenge. Wo Engel schlafen, müssen Studenten wachsam sein.

Nachdem die Lutheraner die katholischen Pfarrer durchgeprügelt haben, rotten sie sich zusammen im Feldzug auf die Juden. Der Erzähler spricht von Rotte und Pöbel. Der Schlusssatz des zehnten Kapitels lautet: „gegen Mitternacht, der Wind sich legte, so brannte das Haus des Meister Samuel ruhig und ohne weitere Gefahr nieder. Man ließ es brennen.

Der inzwischen greise Benediktinermönch Heinrich von Herstelle, kein Freund des Studenten, erzählt diesen notgedrungen von seiner Vergangenheit, als er unter Tilly der Katholischen Liga an der Front diente. Die Grenzen zwischen Schlachtfeld und Kloster schwinden, lösen sich am Ende auf. Auch die Sprache der kampferprobten Männer Gottes ist derb wie die der Soldaten. Über Heinrich erzählt Raabe vom Dreißigjährigen Krieg. Die alte Jüdin stirbt in der Brandnacht, die einem Pogrom gleicht, ihre Töchter und Enkelinnen jedoch überleben dank der Zivilcourage von Lambert. Als der Mob niedergeschlagen ist, erwartet ihren Rädelsführer Hans Vogedes eine harte Strafe. Doch kann Gerechtigkeit siegen, wenn sie Gewalt dazu bedarf? Raabe beantwortet dies mit einem Gleichnis: „Wann die Hochwasser sich verlaufen haben, dann hängt der Schlamm noch für lange Zeit an den Büschen und überdeckt Wiesen und Felder, und es bedarf mehr als eines klaren Regens und heitern Sonnenscheins, um das Land der Wüstenei wieder zu entledigen.“ (Kapitel XIV).

Foto Belinda Helmert: Raabe-Denkmal vor der St. Magni Kirche in Braunschweig samt Inschrift Hütet Euch fernerhin, Eure Hand zu bieten, noch mehr der Ruinen zu machen“. https://www.der-loewe.info/heftiger-streit-um-das-raabe-denkmal

Raabe spricht vom Flügelschlag der Geschichte, er vermeint jenes Schicksal, das den individuellen Willen Grenzen auferlegt. Demzufolge hält er den modernen säkularisierten Gedanken, das jeder seines Glückes Schmied sei, für anmaßend. Die Nähe zu Schopenhauers universalen Willen der Natur wird dadurch spürbar: wo immer der Mensch richtet, entsteht Leid. Er spricht von der Hingabe an die Illusion, sein Leben selbst führen zu können. Außerdem gebraucht er, angesichts der wiederkehrenden Kriege die Allgeorie vom Kleid des Friedens, das, während wir es vorne flicken, hinten wieder aufreißt. Die Allusion auf Penelopes Kleid ist gegeben.

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