Foto Belinda Helmert: Decke im Speiselokal Mutter Habenicht, eingeklemmt zwischen zwei hohen Gebäuden, einem aufragendem Backsteinbau und der feudalen Gründerzeitfassade des Wäschehauses Carl Langerfeld inmitten der Braunschweiger Innenstadt.
Die Vernunft ist eine Marionette des Urwillens titelte Karl Gauhofer, stellvertretender Ressortleiter im Feuilleton der Tageszeitung „Die Presse“ in Wien, anlässlich des 150. Tdoestages von Arthur Schopenhauer (1788-1860). Er schreibt, die Vernunft sei eine Marionette des Urwillens (Ding an sich), und was sie aufgeregt zappeln lässt, ist die nützliche Illusion, sie sei autonom. https://www.diepresse.com/595865/philosophie-die-vernunft-ist-eine-marionette-des-urwillens. Demnach sind wir alle Gefangener unsewrer Vorstellungswelten, die einem absoluten (Natur)Zweck dienen.
Geschlechtsliebe
Ohne es zu benennen, bezieht sich Gaulhofer dabei auf folgendes Zitat:
„Das uneingeschränkte, exakte Befolgen aller Normen und Vorschriften der Staatsgewalt macht den Menschen zu einer Marionette, die – überdrüssig – irgendwann ihre Fäden abschneidet und sich entweder Schlaftabletten oder eine Schrotflinte kauft… .“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Buch 4, § 44, Metaphysik der Geschlechtsliebe). Demzufolge dient der Mensch dem Staat, der wiederum ein Produkt des Naturwillens ist, wobei einzelne Staaten sich selbst zerstören, während das Große und Ganze gedeiht. Vielleicht ist gerade Deutschland das „Bauernopfer“ der listigen universellen Historie. Am anschaulichsten aber wird das „puppets on the string“-Motiv bei der angeblich freien Liebe, die doch nur eine „Notgeburt“ darstellt.
So bemächtigt sich die Natur nicht nur des Geschlechtstriebes als effiziente Methode der Fortpflanzung, sondern sie macht den Menschen auch irrtümlich glauben, er sei es selbst, der sich das Objekt der Begierde aussucht. Dabei ist er nur eine Marionette, ein ausführendes Glied des Naturwillens.
„Alles nur, um, dem überall souveränen Willen der Natur gemäß, der Gattung auf das Zweckmäßigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des Individuums.“ (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung/Zweiter+Band/Erg%C3%A4nzungen+zum+vierten+Buch/44.+Metaphysik+der+Geschlechtsliebe)
Foto Belinda Helmert: Braunschweiger Kunstatelier, Schaufenster. Dali-Puppe
Musik als unmittelbarer Wille
Demnach kommt in der Musik dieser Wille unmittelbar zum Ausdruck und zwingt die Hörer (auch sie unterwerfen sich ihr im Glauben, freiwillig zu handeln) und zwingt sie zu empfinden. In § 39 seines Zweiten (als Ergänzung gedachten, aber eigenständigen) Teils aus „Welt als Wille und Vorstellung“
„Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.“ (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung/Zweiter+Band/Erg%C3%A4nzungen+zum+dritten+Buch/39.+Zur+Metaphysik+der+Musik)
Musik als höchste und sublimste Form der freien Künste verlangt eine aktive und nicht bloß eine erleidrende Haltung; eine Empathie, zu der nur homo sapiens befähigt ist. Der Dialog mit ihr ist entscheidend: Wissenschaft braucht keinen Rezipienten,: „Kunst verlangt die Mitwirkung des Beschauers“. Da sie einem natürlichen Ordnungsprinzip der Harmonie folgt, geht sie sowohl über die subjektive Vorstellungskraft als auch auch die objektive Darstellungskraftder Wissenschaft hinaus, weshalb sie „mehr als alle Wissenschaften zu offenbaren vermag“. Schopenhauer erfindet für ihre Synthese, die Hegels Absoltem gleichkommt, die Bezeichnung „empfindendes Wissen“ . Diese ist in der Musik am höchsten potenziert.
Foto Belinda Helmert: Kunst-Atelier in der Braunschweiger Innenstadt
Dass Musik als unmittelbarer Wille wirkt und nicht nur Wirkung erzeugt, legt Schopenhauer bereits in „Die Welt als Wille und Vorstellung Teil I, Buch 2, Kapitel. 28, fest. Im Kapitel 36 ergänzt er ihren Telos (Zweck, Absicht) „Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntnis der Ideen; ihr einziges Ziel Mitteilung dieser Erkenntnis.“
Musik ist die „universale Sprache, die zum Herzen spricht“; ihr Inhalt ist Melodie, der Form nach ist sie Rhythmus und dem Zweck nach synthetisierende Harmonie, der Idee nach ist sie Metaphysik. Der Charakter von Musik besteht aus Proportionen, die mit Geschwindigkeit und Vibration einhergeht. Aus ihnen heraus bilden sich die Tempi, die Schopenhauer mit den metaphysischen Prinzipien Entzweiung und Versöhnung analog setzt. In § 39 schreibt er.
„Weil die Musik, nicht gleich allen anderen Künsten die Ideen der Objek-tivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt, wirkt sie unmittelbar und die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers ein.“ (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung/Erster+Band/Drittes+Buch)
Die Welt als Wille und Vorstellung I ist in vier Bücher unterteilt: Die Vorstellung, unterworfen dem Satz vom Grunde, der Wille unterworfen dem Satz vom Grunde, die Vorstellung unabhängig des Satz vom Grunde und der Wille unabhängig des Satz vom Grunde.
Die Welt als Wille und Vorstellung II ist gleichfalls in vier Teile gegliedert: die Lehre von der anschaulichen Vorstellung, die Lehre von der abstrakten Vorstellung, die Ergänzungen zur Vorstellung unabhängig des Satz vom Grunde und Ergänzungen zum Willen unabhängig des Satz vom Grunde.
Foto Belinda Helmert: Braunschweiger Kunstatelier, Innenstadt.
Wir gleichen Stachelschweinen
Für Schopenhauer unterscheidet sich Talent vom Genie dadurch, dass nur letzterer sich in den Dienst des Naturwillens und damit der absoluten Kunst zu stellen weiß – für ihn war es Zeitgenosse Beethoven und nicht der mit mehr Talent ausgestattete Mozart. Die von Kant übernommenen vier Kategorien des Denkevermögens (der Vernunft) schreibt Schopenhauer auch dem Akkord zu, der höchsten aller Harmonie-Formen. Der normale Mensch besteht laut Schopenhauer 2/3 aus Wille und einem Drittel aus Intellekt – beim Genius verhalten sich die Proportionen invers. Der Durchschnittsmensch hingegen gleicht einem wilden Tier. Wir kennen ihn bisweilen nur im domestizierten Zustand. (Aphorismen, Von dem, was sich einer vorstellt).
Unter Verwendung der Stachelschwein-Parabel verdeutlicht Schopenhauer, dass wir weder zuviel Nähe vertragen noch zu viel Isolation: im ersten Fall quälen wir uns pieksend, im anderen Fall (er)frieren wir. https://www.projekt-gutenberg.org/schopenh/stachel/stachel.html. Zitiert aus „Parerga und Paralipomena„:
Nicht die Realität sondern allein die Vorstellung macht unser Sein. Obgleich Gustave Flaubert erst über seinen Freund Turgenjew Schopenhauer 1863 zu lesen beginnt, kommt zeitgleich niemand seiner Philosophie, die Welt primär als Vorstellungskraft und die Wirklichkeit als konstruiertes Produkt der Idee (Illusion) zu konstituieren so nahe wie der französische Romancier. Auf diese Analogie in Zusammenhang mit „instinktivem Pessimismus“ kommt als erster Nietzsche in zu sprechen. (Nachlass, Herbst 1885). So wandelt sich der romantische Glaube an Liebe, Zukunft, Freiheit und Selbstbestimmung zur Philosophie des Neins, dem Nihilismus und der Weltverneinung. Mit einem Wort: Kulturpessimismus.
Foto Belinda Helmert: Mutter Habenicht, Speiselokal in Braunschweiger Innenstadt. 1870 von einem Klempner-Ehepaar errichtet. https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article229261492/Mutter-Habenicht-fuellt-seit-150-Jahren-die-Baeuche-der-Stadt.html
Da brat mir einer einen Storch
Im zweiten Band Kapitel 42, schreibt Schopenhauer über Leben und Gattung: „In Delfft ließ sich, bei einer heftigen Feuersbrunst, ein Storch im Neste verbrennen, um seine zarten Jungen, die noch nicht fliegen konnten, nicht zu verlassen.“ http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung/Zweiter+Band/Erg%C3%A4nzungen+zum+vierten+Buch/42.+Leben+der+Gattung. Er nimmt es als Beispiel aus der Natur, das eigene Leben dem der Nachkommenschaft unterzuordnen und den freiwillig erscheinenden Tod als zweckhaft zu begründen.
Nichts ist zufällig oder bloß individuell, auch wenn wir oft glauben, es liefe entweder auf eine Frage des Charakters oder des eigenen Willens hinaus. Das Sprichtwort Da brat mir einer einen Storch bezieht sich auf Staunen und Wundern. Schließlich ist der Vogel nicht als Delikatesse bekannt und wurde vermutlich nie verzehrt. Vielleicht auch, weil er in der germanischen Mythologie ein Glücksbote ist. Aus den Sagen wird überliefert, dass er Neugeborene aus der Quelle des Lebens holt und sie den Eltern übergibt. Der Storch ist demnach auch ein Symbol der Fruchtbarkeit. Nistet er auf einem Dach, so sollen die Bewohner Glück erfahren.
Für Schopenhauer galt das Gegenteil von Leibniz, Gott habe die beste aller möglichen Welten erschaffen. „Wir leben nicht wie Leibniz sagte in der “besten aller möglichen Welten”, sondern in der schlechtesten aller möglichen. Wäre die Welt nur etwas schlechter, so könnte man nicht mehr leben.“ Dieser Pessimismus, den man auch als wohl begründeten Sekptizismus bezeichnen könnte, ist der Aufhänger des Artikels von Uwe J. Wenzel in der Neuen Züricher Zeitung „Die schlechteste aller möglichen Welten? „, der sich mit der Theodizee beschäftigt. https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/leibniz-und-schopenhauer-die-schlechteste-aller-moeglichen-welten-ld.127976. Dass sich Schopenhauer aus Voltaires Satire „Candide“ bediente, liegt nahe.
Foto Belinda Helmert: Wasser marsch im „Mutter Habenicht“
Der freie Wille des Wassers
Mit zahlreichen Beispielen aus der Natur belegt Schopenhauer, dass es sich bei der Vorstellung eines freien Willens um eine Mär handelt. Unter anderem: „Die menschliche Freiheit sieht so aus:…. Das ist gerade so, als wenn das Wasser spräche :”Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! Nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! Nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! Nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! Nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! Bei 80 Grad Wärme), tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig ruhig und klar im spielgelnden Teiche.” („Preisschrift über die Freiheit des Willens“, in: Kleinere Schriften II, Zürich 1977, S. 81)
Der Wille allein ist real, material und essentiell, eine sich selbst bestimmende Ursache, die Mutter aller Kausalitäten. Unser Organismus ist für ihn „angeschauter Wille“ und unverfälschtes Wollen, also blinder Naturtrieb. Hingegen ist das Wollen bloßer Affekt und nicht mehr als ein Spiegel der Wasseroberfläche, ein Faktum des Gehirn, welches durch Denken unsere primären Regungen verfälsch in bloße Meinungen und Vorurteile. Demzufolge kann nur das Bewußtsein Originalität und Echtheit beanspruchen, in ihm wirkt ein verdeckter (unbewußter) Wille. Die Täuschung sitzt allein im Gehirn, unserem bewußten Willen, der durch subjektive Vorstellungen verfälschte Urteile abgibt.
Foto Belinda Helmert: Krücken für Riesen -Inventar der „Mutter Habenicht“
„Wir müssen finden, daß dies ist, wie wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder wie wenn der Prinz, im »Triumph der Empfindsamkeit«, aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen“. (Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 1, Buch 1, § 15) Schopenhauer betont hier, dass die Sinnlichkeit einer Krücke für die Vorstellungskraft, die eigentliche Wirklichkeit hinter der Erscheinung und der Schein-Wirklichkeit bildet – womit die Philosophie zugleich die höhere Mathematik darstellt. http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung/Erster+Band/Erstes+Buch. Ganz nebenbei studierte Schopenhauer auch Medizin. Dort erkannte er, dass meistens uns erst der Verlust über den Wert der Dinge belehrt. So etwa die Gesundheit, deren Bedeutung dem Geist erst bewusstwird, wenn sie einem abhanden gekommen ist. Zuigleich illustriert es die Priorität der Materie und der Körperwelt vor dem Geist, den Schopenhauer eine Apendix (Blinddarm) des Geistes erachtet. Das Gehirn ist folglich auch eine Werkstätte, ein Labor aus Nervensträngen, Elektronik der Impulse.
„Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Kaum ein anderer seinner Aphorismen wird so häufig zitiert wie dieser. „Neun Zehntel unseres Glücks beruhen allein auf der Gesundheit“, schrieb der vor 150 Jahren gestorbene Philosoph an anderer Stelle. Dass man dafür auch etwas tun muss, lebte er vor, indem er täglich im Main badete, weil Schwimmen Geist und Leib zusammenhält, wie er fand.
Foto Belinda Helmert: Inventar von Mutter Habenicht. Die Vopo war dem Ministerium des Inneren unterstellt. Der 1. Juli war ihr Gedenktag.
Schopenhauer stammte aus Dresden, geboren in der Heilige-Geist-Gasse 114, wuchs aber, bedingt durch den Umzug der Eltern, ab dem siebten Jahr in Haburg auf und dürfte daher kaum gesächselt haben. Er äußert sich über polizeiliche Willkür polizeilicher Willkür,Menschenrecht verletzung, die er als „doppelte Ungerechtigkeit“ bezeichnet. In Erörterung der Grundprobleme der Ethik schreibt er in seinen „Parega“ -Aphorismen über die Unsinnigkeit des Nationalstolzes, der einen „armen Tropf“ auszeichnet und der dadurch blinder Staatsdiener wird. eben eine Marionette auf der Bühne des Lebens:
Grundrechte und Grundpflichten gehen Hand in Hand: wird das eine beschnitten, so muss auch das andere reduziert werden. Im Gleichschritt marschieren wäre das Letze, was ihm gefallen hätte. Denn für ihn, um auf die doppelte Ungerechtigkeit zurückzukommen, galt: Der Quäler und der Gequälte sind eines. Jener irrt, indem er sich der Qual, dieser, indem er sich der Schuld nicht teilhaft glaubt.
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