Prosaische Poesie – ist Religion philosophisch zu retten?

Foto Belinda Helmert: Weihnachtsmarkt Nienburg, Weser. Stelzenlauf der Engel

„Hier haben wir die Religion, innerhalb welcher der vernünftige Geist der Inhalt ist.“ (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Die Religion der geistigen Individualität, S. 14. zitiert nach https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10045990?page=14)

Angeregt von meinem philosophischen Gesprächspartner, der im Gegensatz zu mir eine Verbindung zu Gott bzw. einer Religion als das älteste Weltauslegungsmodell gefunden hat – die Rede ist von dem Aphoristiker Rolf F. Schütt – nehme ich Weihnachten als Anlass über den Wert oder Sinn des Philosophierens über Religion zu gedenken. Der Verständlichkeit willen wird auf die Montage komplexer Zitate verzichtet.

Foto: Nienburger Weihnachtsmarkt, Stelzenlauf der Engel im Rahmen des Adventszaubers. Das Weihnachtsfest ist eine deutsche, von der Romantik nicht zu trennende „Erfindung“. Die christliche Kirche Roms hat seit 336 n. Chr. Weihnachten den 25.12. mit der Geburt Christi gleichgesetzt. Damit fiel er mit dem römischen Bauernfest Saturnalia, das zu Ehren von Saturn zur Wintersonnenwende begangen wurde, zusammen. (https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2021/12/weihnachten-historisch-wie-das-fest-zu-dem-wurde-was-es-heute-ist).

Gottesidee als Kitt

Waren auch die großen Philosophen alle religiös, so darf man doch selbst bei dem entlaufenen Katholiken Heidegger (Heine möge das Plagiat verzeihen) nicht darauf wetten, dass die heutige Flaute an herausragenden Denkern auf den zunehmenden Atheismus der letzten zwei Jahrhunderte zurückzuführen ist. Ebenso wenig kann daraus die Konklusion gezogen werden, der Religion sei schlichtweg von den Naturwissenschaften der Rang abgelaufen worden. Die entscheidenden Ursachen bleiben unerklärlich wie in der Quantenphysik oder unbefriedigend wie in der Ethik und Moral. Möglicherweise haben die letzten Philosophen `vom Schlage Benjamins und Adornos auch in der Gottesfrage nur den Kitt für ihre diversen Gesellschaftstheorien gesucht oder gar missbraucht. Habermas soll immerhin eine Audienz beim Papst gefunden haben. Hier geht es aber nur um die Frage, ob die Gottesidee etwa dem Frieden zuträglich ist oder sozialen Werten wie Empathie oder der Tugend förderlich ist. Das aber sind Randgänge, mariginale Ausläufer der Gottesidee.

Die Gottesidee soll darum von der reinen Glaubensfrage ebenso wie der Konfession losgelöst betrachtet werden, um philosophisches (Kern)Gebiet nicht zu verlassen. Der Bruch zwischen den beiden Töchtern desselben Geistes, wie sie die Romantiker noch empfanden, begann mit Kants Theodizeefrage, die erstmals in Frage stellte, ob Gott wirklich die beste aller möglichen Optionen gewählt und damit die bestmögliche Welt geschaffen habe, da er doch das Böse zulasse. Ob man die Antwort des tiefgläubigen Königsberger eine Vernunftreligion mit dem Gottesverständnis als regulative Idee nun annimmt oder nicht, seit ihm und der Aufklärung allgemein mussten sich Theologen als auch Philosophen mit den zunehmend präziseren physischen Erklärungen für das Weltgeschehen auseinandersetzen.

Foto Belinda Helmert: Weihnachtsengel auf Stelzen, Detail. Hegel bezeichnet Engel in Vorlesungen zur Ästhetik III als eine „unstimmige Figur“, da sie zum einen endlich und beschränkt, zum anderen aber erdichtet ist. Das konvergiert mit seiner Schilderung des ambivalenten Wesens des Deutschen, den er als Volk „zügelloser“ als auch „knechtischer“ sieht als jedes andere. Doch für Hegel kulminiert bekanntlich auch Freiheit in der Einsicht in die Notwendigkeit.

göttlicher Transmissionsriemen: Entwicklungshilfe

Auch die Entwicklung des Protestantismus als eine weitgehend von Mysterien und Mystik befreite Weltanschauung half nur, den schleichenden Prozess zu verlangsamen, der spätestens mit dem letzten Systementwurf Hegels seinem Ende entgegensah. Schopenhauer trennte bereits die christliche Idee des Mitleidens von einem interesselosen Naturwillen an sich und operierte, wenngleich auf dünnem Eis, auf der Basis von Darwin und der Evolutionstheorie.

Die Frage nach der Schöpfung spielt dennoch eine untergeordnete Rolle. Man mag sie höhere Intelligenz oder Kreationismus nennen (schon Platon sprach von einem göttlichen Uhrwerk und einem Handwerker, einen Demiurgen), das Dilemma bleibt in seinem Kern bestehen: könnten wir Religion als die älteste Welterklärung einfach leugnen, liefe das auf die Verleugnung der spezies homo sapiens hinaus. Die Welt geht weder in binomischen Formeln, noch Molekülen oder DNS Aminosäuren auf: selbst komplexe Proteine – Leitern eskamotieren die Idee eines höchsten gewollten vernünftigen Prinzips nicht. Einstein lapidar: Gott würfelt nicht. Er selbst wunderte sich darüber, dass Physiker in Naturgesetzen keine Wunder mehr entdecken wollten und sich mit einem reduzierten (beweisbaren) Wahrheitsbegriff begnügten, der Falisfikation.

Foto Belinda Helmert: Weihnachtsengel, Detail. In „Geschichte der Philosophie“ bezieht sich Hegel auf Weihnachten in Form der Menschwerdung Gottes und die absolute Würde des Menschen (der Idee nach). Er spricht von umfassender Freiheit, die nur aus der Würde heraus gestaltet zu werden vermag.

Zwischen Opium und Gerichtssaal

Jaspers, um nur einen prominenten Christen als Zeugen aufzurufen, verdünnte die Religion, wenn er sie Chiffre der dritten Dimension heißt und sie mit spirituellem Bewusstsein (ein Sinn für das Übersinnliche) gleichsetzt. Von Nietzsche, der die Vorstellung eines allmächtigen Zeugen nicht ertrug, der bis in seinen letzten Winkel hineinzuleuchten vermochte, ist an dieser Stelle zu schweigen. Nicht, weil er Unrecht besaß, als er in einer seiner zahlreichen paradoxen Aphorismen den Tod Gottes verkündete (dieser bezog sich auf den de facto aufkommenden Nihilismus und eine unhaltbare alte orthodoxe Religionspraxis). Ebensowenig wie Marx Gott in Opium aufgehen lassen wollte oder konnte, so suchten beide und zuletzt Freud im Unbewussten nach einer Loslösung irdischer Fragen von metaphysischen Gründen. Voltaires Bonmot, wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, kreist ebenfalls um seinen Nutzen für den Menschen.

Die Frage, ob Gott bzw. Religion wie ein imaginärer Gerichtshof eher nützlich sei für den Menschen, etwa, um ihn besser beherrschen zu können, gibt jedoch keine befriedigende Antwort auf die prima causa, der Existenzfrage.

Religion ist, soweit die konsistente Gelehrtenmeinung, keine mit Gefühl (die Vernunft des Herzens) hinzureichend beantwortete Definition oder gar Explikation. So klug Pascal auch war, als er die Wette auf Gott als eine win-win Situation beschrieb und so weise seine Metapher um die Gewissheit im Herzen auch sein mag, die Gottesfrage bliebe immer noch eine individuelle Wahl, dieser Empfehlung zu folgen. Die Frage, ob Gott mehr nutzt als schadet, präziser, die Religion aus historischen Gründen entbehrlich für die moderne Gesellschaft ist, greift zu kurz. Nur darum führt der Weg zurück zu Hegel.

Foto Belinda Helmert, Weihnachtsengel auf Stelzen. Engel kommen sowohl im Tanach als auch im Koran vor. Bereits in Meapotamien dienten sie zur Verbildlichung des Zwischen-Reiches bzw. der Mittlerstellung von göttlichem und menschlichem Sein. 1921 erwarb Benjamin das Gemälde des von ihm verehrten Paul Klee Angelus Novus und erkannte darin die Dialektik der (paradiesischen) Geschichte (https://www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom-100.html).

Die unmessbare Wahrheit

Hegel wusste, dass die Wahrheit in der Wirklichkeit nicht messbar ist, sich aber mit ihr decken muss, da sie wirkt. Wahrheit gilt ihm seit der „Phänomenologie des Geistes“, Kapitel Die offenbare Religion (1808) als Verwiklichungsgrund bzw. als Wirkungsmacht. Er setzte von Anfang an dialektisch eine wirkliche Wahrheit (der Gegenwart) einer wahren Wirklichkeit (der Idee) gegenüber und dies, weil er den heutigen main stream, die Ästhetik, zwar wissenschaftlich nahm, aber für unzureichend hielt, um die Welt als Ganzes zu denken. Modern gesprochen redet er von Kohärenz und Konsistenz.

Als Romantiker bzw. Idealist (Transzendentalist) sah er eine Verbindung zwischen Kunst als der Poesie der Religion, der Religion selbst und der Philosophie als deren Prosa. Er sah eine Trinität, wie jeder Gedanke bei ihm in einer solchen ausgeht und zugleich kulminiert (also widerkehrt), dennoch nahm er die Philosophie als absolut absolute und die Religion nur als objektiv absolute Wahrheit. Eine Erklärung, aber keine Begründung, liefert sein Ansatz, Religion bediene sich der Bilder (der Kunst wie Rhetorik Metaphern und Gleichnisse), welche die Philosophie im abstrakten Begriff nicht mehr nötig habe. Es läuft auf die Differenz von die Welt verstehen (mit ihr in Einklang leben) und begreifen (im tiefsten Inneren zu erfassen und zu verändern) hinaus. Religion hält als innere Wahrheit im Menschen, Körper, Seele, Geist in der Balance und stiftet ihm Erklärung, wo seine Sinne ihren Dienst versagen. Philosophie hingegen vermag gar nicht ohne Religion zu sein, ebenso wenig wie ohne Kunst: sie ist historisch und evolutionär jedoch ihre Weiter- und höchste Entwicklung.

Foto Belinda Helmert, Weihnachtsengel in Nienburg. Die Bibel erwähnt neben Luzifer als gefallenen Engel Michael, Gabriel und Raphael erstaunlich wenige Engel mit Namen. Seit dem frühen Christentum werden Engel dargestellt und erscheinen in verschiedenen Zusammenhängen und Funktionen. Mit der Zeit änderten sich die Darstellungen und die Engel wurden zeitgenössischen Idealen angepasst. (https://www.lai.fu-berlin.de/forschung/lehrforschung/symbolische_repraesentationen/gemaelde_und_tragaltaere/gemaelde/gemaelde_des_san_isidro_labrador/engel/index.html)

Religion als Weltbegreifen

Abgesehen von ideologischen Schwächen wie den Islam als Rückschritt und den Protestantismus als die Krone aller Religionen zu werten und naturwissenschaftlichen Lücken, mitunter auch Defiziten, so erkannte Hegel, dass jedes Wort, selbst der Begriff, eine Metapher („transzendentale Einbildungskraft“ ) für den Weltgeist ist. Das Bild des Greifens kann und will er nicht aus dem intellektuellen Antizipieren tilgen. Wozu auch. Gleiches gilt für den nicht minder elementaren Ausdruck Aufhebung bzw. aufheben. Von Offenbarung durch offenbar werden ganz zu schweigen.

Dass Hegel der wohl dynamischste aller Systemdenker ist, dürfte allgemein auf Zustimmung stoßen. Immerhin stand er Materialisten und Gesellschaftstheoretikern (Linkshegelianer) wie Marx genauso Pate für fundamentalen Theologen (Rechtshegelianer). Auch Feuerbachs Psychologismus mit dem Postulat, der Mensch stelle sich Gott nach eigenen Wünschen und Maßstäben vor, gibt dem Urvater des überwundenen Zweifels recht: Es spielt keine Rolle, ob man mit cartesianischer Logik, sprich Mathematik, speziell der Geometrie operiert oder mit Hegels opus spiritus sancti- Ansatz (den real existierenden absoluten Geist nachzudenken und damit im Inneren des Individuums ideal aufzuheben): das Resultat bleibt das selbe:

Ohne Gott existiert kein Denken bzw. ein nur auf das materielle Erfassen und Verarbeiten von Daten reduziertes Konstruieren von Wirklichkeit. Die Welt ist über die Wissenschaft ohne Religion (für Hegel eine spezifisches geisteswissenschaftliches Geschäft des Denkens wie die Philosophie) so nicht zu begreifen, bestenfalls zu verstehen. In diesem Sinn geht uns ein Licht auf….

Foto Belinda Helmert, Nienburger Adventszauber, Detail. Hegel schreibt in „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“, das Licht sei „so schnell wie der Gedanke“ (Kapitel Die Religion des Guten oder des Lichts). Ebenso ist hier von „unendlicher Expansion“ im Raum die Rede.

Urbild von Welt

Was aber ist Gott genau, wenn er zwar Vorstellung und Bewusstsein erzeugt, aber doch kein natürliches Faktum oder gar Totem darstellt. Die uralte Religion denkt sich die Welt als Einheit, also „Ur“gebilde, vor jeder Teilung und Ordnung. So waren vielleicht Selbst und Bewusstsein, wie Hegel meint, vereint, bevor sie durch das Denken gespalten wurden und erst in einer erneuten (unendlichen progressiven als auch regressiven) Denk-Bewegung wieder vereint werden können, jetzt auf höhrem, weil sich seinem selbst bewussten Niveau, in der auch Wissen und Glauben keinen Widerspruch mehr bilden.

Natürlich: in den Religionen himmelt es, in den Göttern götzt es und in den Kirchen menschelt es zuhauf. Man will seit der mit der Aufklärung verbundenen demokratischen Gesinnung keinen allmächtigen Diktator, bestenfalls wie Platon einen gut gesinnten, einen weisen und gütigen Herrscher, der zugleich Handwerker ist (Demiurg). Gott ist aber kein König und der spirituelle oder geistige Gedanke vom geistlichen Amt wie dem päpstlichen, strikt zu trennen.

In den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ (zweiter Teil) skizziert Hegel, das geistige Individuum bedürfe der Religion (verstanden als Bewusstsein von Welt außer mir) für die Entwicklung von Erhabenheit, Schönheit und Zweckmäßigkeit, welche wiederum zur Würde und der sittlichen Ganzheit (Bewusstsein der sittlichen Welt in mir) führen. Er sagt darin mehrfach, Philosophie und Religion stünden auf gleichem Boden, seien nahe verwandt.

Hegel spricht von dem Geschäft mit der Wahrheit im Sinne der Kritik, des reflexiven Vermögens und nicht von einem vorauseilenden Gehorsam oder freiwilliger Versklavung. Von orthodoxem Gehorsam ist folglich nie die Rede, sondern von schrittweiser prozessualer Entwicklung der Freiheit.

Foto Belinda Helmert: Liebenauer Weihnachtsmarkt in der Kulturscheune, Detail.

Freiheit des Denkens und der Selbstwerdung

Er spricht von Freiheit, die nur durch den Gottesbegriff denkbar werde, weil dieser die Macht habe, über die Täuschung der Sinne erhaben zu sein (sich zu erheben). Er sagt auch, das Vernünftige zu schaffen genüge nicht, es müsse sich verwirklichen und dürfe dabeo weder willkürlich noch gewaltsam wahr werden. Die Trinität bestehe im Einklang des Unendlichen (der Bewegung) mit dem Absoluten (der Idee des Vollkommenen) und der Einheit (die nicht erzwungen werden kann).

Die „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ sind leider ein posthum veröffentlichtes Werk und Frucht von zehn Jahren, dem letztem Lebensabschnitt Hegel und seinen vier Vorlesungen an der Berliner Universität Unter den Linden zwischen 1821 und 1831. Sie stellen das letzte Aufbäumen gegen die Trennung oder gar Feindschaft von Religion und Philosophie dar (ancilla- Argument: wer ist wessen Magd?). Hegel führt religiöses Bewusstsein auf ein Gespür für Schönheit zurück (kallistos) und den Begriff als eine dem Volksverstand nicht mehr zugängliche religiöse Sphäre. Es sei daran erinnert, dass religio ursprünglich sorgfältig bedenken bedeutet, von Hegel als erste Weltanschauung überhaupt gesetzt wird.

Foto Belinda Helmert: Erster Advent in der Liebenauer Kulturscheune, Detail.

natürliche, künstliche und offenbare Religion

In ihrem Ursprung wurzelt Religion im Natürlichen, in der Natur; er spricht von Naturreligion. Die natürliche Religion ist Für Sich Sein: „Der Gegenstand selbst wird vergöttlicht.“ Erst mit der Kunstreligion tritt das Volk bzw. der individuelle Mensch hervor, der an eine bestimmte Religion glauben will und sie über Wort, Bild und Schrift abbildet. Konkurrierende Systeme und Hierarchien entstehen, die über die Deutung der Naturgesetze hinausreichen und teilweise ihnen widersprechen. Ganz allgemein wird der Schein als „zufällige Verkleidung“ notwendig.

Erst in der absoluten Religion sind Natur- und Kunstreligion vereint als „wesentlicher Gegenstand des Denkens.“ Dies ist die Quintessenz der höchsten als der offenbaren Religion (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Ph%C3%A4nomenologie+des+Geistes/C.+(CC)+Die+Religion/VII.+Die+Religion/C.+Die+offenbare+Religion). Dialektisch entsprechen die Naturreligion dem Bewusstsein, die Kunstreligion dem Selbst und die offenbare Religion der Synthese, sprich der Aufhebung (doppelte Negation, da beide in verwandelter Form bestehen bleiben).

Foto Belinda Helmert, Liebenauer Advent, Kulturscheune: Bläserchor im Einsatz. Hegel bezeichnet Musik in Ästhetik III als „Aufhebung aller Räumlichkeit“.

Fazit: Religion ist vernünftig

Beide Töchter, Philosophie und Religion, treten über die bloße Sinnlichkeit und Materialität hinaus. Mit Hegels transzendentalem Verständnis ist Religion als vernünftige und bildreiche Ergänzung des Verstandes zu denken, die in ihrer Wahrheitssuche Werte erzeugt und v.a. Bewusstsein schafft. Ein Abstumpfen des religiösen Denkens führt zwangsweise zu einem erstarrten Festklammern an einer Teilwirklichkeit oder Teilwahrheit, die beweisbar, evident oder messbar ist. Vom Zweck als auch von der Entstehung, ja der Ursache her gedacht, dürfen Religion und Philosophie nicht getrennt werden, da sie sich wechselseitig dienen und erhellen. Gott wirkt in diesem Sinne gleichzeitig absichtslos (er will den Menschen nichts abnehmen noch über sie richten), sondern als Identität von Glaube und Wissen, von Poesie und Prosa der Wirklichkeit. Denn am Ende ist Wahrheit nichts anderes als Verwirklichung des Vernünftigen: daher bleibt es irrelevant, ob man an Gott glaubt oder nicht, Kirchen besucht oder ihnen wie Friedhöfen fernbleibt. Gott wird innerlich durch Erinnerung an das geoffenbarte ins Bewusstsein gelangende und zugleich offenbare vor das Bewusstsein tretende Sein.

Foto Belinda Helmert: Erster Advent in der Liebenauer Kulturscheune, Detail. Laut Hegel erscheint das Wahre und Vernünftige stets dann, wenn es auch erscheinen soll, folglich die Zeit reif ist und der menschliche Geist nicht zu unreif, um diese Wahrheit zu begreifen. Vielleicht müssen wird deshalb so lange warten …

In der Phänomenologie des Geistes, Vorrede heißt es: „Wir müssen überzeugt sein, daß das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und daß es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint noch ein unreifes Publikum findet.“ Vielleicht sind die Menschen noch nicht reif genug für die Freiheit.

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