Philosophie ist Heimweh

Foto Belinda Helmert: Gusseiserner Ein- und Ausgang zum Hildesheimer Dom St. Maria Himmelfahrt, 872 geweiht

Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb, überall zu Hause zu sein.“ So steht es im Allgemeinen Brouillon, Aphorsimus 118. Das besagt dreierlei: erstens, die Sache des Denkens ist weder konfessions- noch zeit- oder ortgebunden, sondern ähnelt einem Schweben. Zweitens: um zurückzukehren oder zu wissen, was Heimat ist, muss man vorher in die Fremde, also aus sich heraus gegangen sein. Ein zu Hause sein macht nur Sinn im Zusammenspiel mit einer vorher erfahrenen Fremde. Drittens ist Philosophie Selbsterkenntnis (dem delphischen Orakel entlehnt), denn was anderes soll einem Menschen „eigen“ sein als sein Selbst.

Sehnsucht ist ein zentrales Motiv der Romantik. welcher der mit 29 Jahren verstorbene Friedrich von Hardenberg angehörte. Diese kommt im Verlangen nach Unendlichem und Absoluten, der Verschmelzung von allem was ist, zum Ausdruck. Alles ist organisch in der Welt, etwas Totes gibt es nicht, doch der Tod wohnt in allem, was wird. Philosophie ist folglich von einem parosdoxlen Bedürfnis angetrieben, in Einklang mit der Welt und der Wirklichkeit bei sich zu sein. Philosophieren ist ein Streben nach Erkenntnis des Grundes und einer Vereinigung von Sinnlichem und Übersinnlichem.

Wir bleiben dabei und fragen: Was ist damit – Philosophie ein Heimweh? … Ein solcher Trieb kann Philosophie nur sein, wenn wir, die philosophieren, überall nicht zu Hause sind. Wonach steht das Verlangen dieses Triebes? überall zu Hause zu sein — was heißt das? Nicht nur da und dort, auch nicht.“ (Heidegger, Gesamtausgabe Band 29, § 2, Bestimmung der Philosophie)

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Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom, Bernwardtür, älteste figürlich geschmückte Bronzetür des Mittelalters. Die zweiflüglige Pforte datiert aus 1015 und befindet sich heute im Westflügel des nach der Kriegszerstörung rekonsrtuierten Weltkulturerbes der UNESCO.Sie war ein Auftrag des sächsischen Bischofs Bernward, der zahlreiche Kunstwerke und Reliquien für den Dom erwarb. https://www.dom-hildesheim.de/de/content/die-bernwardt%C3%BCr

Foto Belinda Helmert: Bernwarttor, 4,72 m hoch und zweimal 1,85 t schwer, vorwiegend Kupfer und Blei. ie beiden Löwenköpfe als Türöffner symbolisieren die weltliche und die kirchliche Macht. Die linke Bildfolge zeigt acht Motive aus dem Alten Testament, die rechte acht aus dem Neuen. Im Bild zu sehen sind die Heiligen Drei Könige, die dem Jesuskind ihre Gaben darbringen. https://de.wikipedia.org/wiki/Bernwardst%C3%BCr

Die Welt romantisieren

Der Begriff oder die Metapher Heimat ist auch Bestandteil der letzten Strophe der „Hymnen an die Nacht“ des Dichterphilosophen: „Unendlich war die Erde / Der Götter Aufenthalt. / Und ihre Heimat / Reich an Kleinoden.“ Die eigentlich und ursprünglich poetische Welt wurde durch einen prosaischen Geist und die Profanisierung zunehmend arm, in ihrer Nüchternheit armselig. Sie wurde um das Beste beraubt, was sie besaß: ihre Seele.

Schaut man sich die Roboter, Funktionäre, Marionetten und Gliedermenschen von heute an, die in zunehmender Digitalisierung und Technoklogisierung weitgehend die Landschaft bevölkern, sie sogar regieren, dann kommt man an Novalis Kerngedanken nicht vorbei: Erstens, alles, was ideal ist, muss real werden, der Traum den Weg zum Herzen finden und von dort in einer Tat münden. Danach möge unser Leben immerwährenden Gottesdienst gleichen, eine sinnerfüllte und nicht auf materiellen Erfolg reduzierte Lebensführung nach sich ziehen. Drittens muss der Mensch von Grund auf romantisiert werden: Ich-Sein bedeutet Authentizität, Autarkie und Autonomie.

Wieder im Anderen beheimatet sein (nicht nur im eigenen Haus), die Idee, sich im Gegenüber zu spiegeln ist Teil des Romantisierens an sich. Der Tod als das romantisierende Prinzip des Lebens dient allein der Selbstbesiegung und Selbstsüberwindung ist. Was ist gemeint, wenn Novalis, die Welt romantisieren will? Mit Romantisieren meint er konkret eine Rückführung von Einzelwissen und Wesen auf das Ganze, die einer ursprünglichen Sinnfindung dient. Der Verlust bildet die Voraussetzung für jene Konstruktion, die im Paradox mündet, der Tod sei Genesung bzw. Befreiung von einer Krankheit. Mit Krankheit ist vornehmlich das Spalten im Urteil und der Trennung von Leib und Seele gemeint bzw. Subjekt und Objekt.

Indem ich dem Gemeinen einen höheren Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimes Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ (Fragmente und Studien, Aphorismus 37)

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom, Mittelschiff, Detail.

Potenzierung

Uns ist längst die Ehrfurcht vom Leben verloren gegangen. Der tiefere Sinn unserer Existenz erschließt sich nicht mehr. Die Welt geht nicht in Zahlen auf. Etwas beschreiben oder datenmäßig zu erfassen, zu berechnen, bedeutet eben nicht, das Geschehen zu verstehen oder gar zu würdigen. Die frühromantische Mystik, die mit dem Rationalismus der Weimarer Klassik kontrastiert, bildet in der Gedankenkette von Friedrich von Hardenberg keine Ausnahme. Er spricht vom Plus- und Minustod, weil er von der Komplementärfuntkon aller Antinomien überzeugt ist. Man stirbt den Plustod im Himmel, und kommt auf die Erde; invers führt der Minustod zum Verlassen der Erde und ins Himmelreich. Orphische Lyrik ist die Folge. Ein Ton, dem Rilke und Trakl folgen – der Novalissound.

Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Dies gelingt, indem der Mensch sein niederes, bloßen Egoismus verpflichtetes Selbst entgegentritt und aus sich selst ein höheres Selbst generiert . Novalis spricht von Potenzierung: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert.“ (Fragmente und Studien, 37)

Foto Belinda Helmert: Dominnenraum. Nach der Komplettzerstörung infolge des amerikanischen Bombenangriffs vom 22. 3. 1945 wurde der ursprünglich vorromanische Dom bis 2015 wiederaufgebaut. Der Hildesheimer St. Marien gehört zu den ältesten Steinkirchen Deutschlands.

Philosophie ein Kompaß der Freiheit

Reflexion ist Selbstdurchdringung des Geistes. Reflexion stellt eine ursprüngliche Identität in Trennungen verkehrt dar. Wenn die Reflexion sich selbst reflektiert, kann sie (wie ein zweiter Spiegel in einer Art Spiegelkabinett) die Verkehrung aufheben. Wenn das Gefühl den Stoff der Reflexion – das Sein—gibt und die Reflexion die Form, entfaltete sich die Philosophie als gedachter Zusammenhang von Denken und Fühlen. Beim Urteilen wechseln bezogen auf das Ich Subjekt (reflektierendes Ich) und Objekt (gefühltes Ichsein) ständig hin und her. Für Novalis ein Schweben, das FReiheit ermöglicht, weil es nicht in Konvention, Rollendenken oder Paradigma (Dogma) erstarrt.

Foto Belinda Helmert: Dom, Radleuchter Hezilos – mit über 6 m Durchmesser größter seiner Art aus dem Mittelalzter. Der unter Bischof Hezilos errichtete Leuchter verbildlicht die Stadt Gottes Jerusalem. Er befindet sich wie Bernwarstürm Taufbecken und Tintenfassmadonna im westlichen Langhaus des Doms. https://www.dom-hildesheim.de/de/content/der-heziloleuchter

Foto Belinda Helmert: Dom-Innenraum, Mittelschiff. Die Neugestaltung erfolgte unter Priorität der Schlichtheit und Helligkeit. Für den Boden fand der Dresdner Elbsandstein Verwendung. https://www.dom-hildesheim.de/de/neugestaltung

Romantische Ironie

Das ununterbrochene Wechselspiel zwischen gegensätzlichen Elementen zeigt sich in den ständigen Unterbrechungen der Bühnenhandlung durch Zuschauer, Schauspieler oder den Dichter. Hardenbergs bester literarischer Freund F. Schlegel: „Es wechselt Bild und Seyn. Das Bild ist immer das Verkehrte vom Seyn.“

So bleibt Philosophie nur eine Kunst und progrediert nicht zur Wissenschaft, soll diese aber überwachen. Kunst formt Dinge an sich, Philosophie die Ideen aus; letztere ist Darstellung der absoluten Welt, erstere Vorstellung und konkrete Anschauung. Ästhetik, d.h. Philosophie der Kunst ist notwendiges Ziel des Philosophen, der in dieser das innere Wesen seiner Wissenschaft wie in einem magischen und symbolischen Spiegel schaut .Hardenberg gebraucht die Metapher Spiegel in Bezug auf Kunst, an der Stelle, an der er mit Schlegel über Universalpoesie reflektiert: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universal-poesie … Sie will … das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, … Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen demDargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ (Athenäum, Fragmente).

Foto Belinda Helmert: Dom, Kopfreliquiar des heiligen Bernward im Südquerhaus. Der mittelalterliche Domschatz gehört zur besterhaltensten und damit wertvollsten aus dem deutschen Mittelalter. piphanisusschrein aus dem 12. Jahrhundert im Nordquerhaus Restauration Während der Restauration bis zu seine Rückkehr 2013 wurden die meisten hochwertigen Reliquien und Schätze im Metropolitan Museum New York aufbewahrt ausgestellt.

Foto Belinda Helmert: Dom, Christussäule (Berwnwardsäule) im Südquerhaus in der Nähe der Kopfreliquie aus dem Jahr 1020. Die spiralförmige Säule zeigtauf 3,80 m Höhe in 28 Szenen das Leben Christi und ergänzt damit die Motive der Bernwardtür. https://www.hildesheimer-geschichte.de/die-kirche/die-hildesheimer-kirchen-1/christuss%C3%A4ule/

Foto Belinda Helmert: Dom, Taufbecken aus Bronze, 13. Jahrhundert unter Hezilosleuchter. https://de.wikipedia.org/wiki/Bronzetaufe_(Hildesheimer_Dom)

Wissenschaft ist nur eine Hälfte. Glauben ist die andere

Jeder Mensch besteht noicht nur aus Körper, Geist und Seele, sondern auch drei ich-Formen, die sich aus seiner Stellung zur wahren Religion (seinem Glauben), der Kunst (seinem Empfinden) und der Philosophie (seinem Reflexionsbewusstsein) ergeben. Religion ist eine Mischung von Poesie und Tugend.Das absolute Ich kann man auch das absolut synthetische Ich nennen.“ („Fragmente und Studien“, 10)

Glauben ist indirekt wundertätige Kraft. Durch den Glauben können wir in jedem Augenblick Wunder tun für uns … Glauben ist Empfindung der Erwachens und Wirkens und Sinnens in einer anderen Welt, doch das goldene Zeitalter ist hier. Es liegt immer im Jetzt, dem gelebtenb Augenblick.

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom St. Marien Himmelfahrt, Fensterkreuz. Bei Wiederaufbau des Doms nach alten Plänen mussten auch alle Fenster und Türen neu gebaut werden. Seit der Weihung hatte die Kathedrale zahlreiche Veränderungen erlitten. https://de.wikipedia.org/wiki/Hildesheimer_Dom

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom St. Marien, Gusseisen, Ein- und Ausgang

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