Niemand verheimlichte diese Verbrechen – Nachruf auf Pablo Neruda

Foto Belinda Helmert: Herbstliche Blumen im eigenen Garten in Liebenau

Mehr Demokratie wagen

Vor 50 Jahren, am 23. September 1973, verstarb einer der bedeutendsten Lyriker der Welt, die Stimme Chiles: Pablo Neruda, der seinen Namen einem von ihm glühend bewunderten, global betrachtet jedoch weitgehend unbekannteren Dichter, entlehnte: dem Tschechen Jan Neruda.

Netfali Ricardo Reyes Basoalto, diesen Namen dürften nur Kenner der Cantos dem Nobelpreisträger zuschreiben. Man darf sagen, dass mit ihm eine Ära sich dem Ende zuneigte, in der Dichter oder Philosophen noch Gehör und sogar Gewicht fanden. In der es zur Massentrauer und Kondolenz bei der Beisetzung kam. Invers lässt sich behaupten, dass es noch Dichter gab, die sich nicht scheuten, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, Verbannung auf sich zu nehmen und ihr Leben zu riskieren. Weniger dramatisierend formuliert: die es wagten, Politik und Poesie zusammen zu denken. Unwillkürlich kommt der Gedanke Willy Brands auf: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Vorweg: Ja, auch er fehlte, etwa in seiner, aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Bewunderung für Stalin, dem er nach Erhalt des Stalinpreises 53 eine Ode widmete, die im Band „Die Trauben und der Wind“ aufgenommen wurde. Doch er war sich nicht zu schade, zehn Jahre später seinen Fehler einzugestehen: in „Memorial von Isla Negra“. In der Bundesrepublik, damals schon selbstgerecht, war Neruda als „kommunistischer“ Dichter verpönt. In den USA natürlich erst recht. Kluge Kollegen wie Hans Magnus Enzensberger hielten es dagegen für falsch, Neruda zu verdammen. Dazu passend drei Zeilen aus Enzensbergers “Warum Gedichte leicht sind“ „Fang einfach von vorne an, obwohl zigtausend Verse dir im Kopf herumspuken.“

Foto Belinda Helmert, Herbstliche Blumen im eigenen Garten

Bürgerkrieg, Kommunismus und Frühling

1904 wurde Neruda als Sohn eines Lokomotivführers nahe Santiago geboren, im Jahr des Friedensvertrages von Chile mit Bolivien. Den Arbeitern und dem einfachen Volk stand er immer nahe. Erst seit 1945 war er Mitglied der Kommunistischen Partei. 47 verbot das Militärregime die Partei und damit den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Neruda musst das Land, seine Heimat, verlassen.

Du mein Volk, ist es wahr, dass im Frühling mein Name an deinen Ohren klingt? Volk, das mich wiedererkennt, als wäre ich ein träger Strom, der vorbeifließt an deiner Tür.“

Nicht gleich am Anfang, doch schon bald, bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, bekannte sich der chilenische Weltbürger zu den Werten der Menschlichkeit. Seine Epoche war die der Kriege und des scheinbar unaufhaltsamen Triumphzugs des Faschismus (nach Salazar in Portugal kamen in den Dreißigern Hitler, Mussolini, Franco an die Macht. )„Kommt seht das Blut in den Straßen.“ Der Dichter war einer der ersten, als Europa wegsah oder wegsehen wollte, indem er auf die Gräueltaten Francos verwies. Der Spanische Bürgerkrieg hatte Neruda zweifelsohne geprägt und sein politisches Handeln, mit dem er vielen Verfolgten das Leben rettete, motiviert. Als Konsul und Botschafter besaß er vor dem Zweiten Weltkrieg die Gelegenheit dazu. Danach wurde er selbst ein Verfolgter.

Foto Belinda Helmert: Blumengrüße aus Liebenau

Anderseits lernte Neruda seine wichtigsten Freunde wie Anna Seghers und Louis Aragon im Kampf gegen die Falange und den Faschismus kennen. Er trug Spanien als zweite und Frankreich als dritte Heimat im Herzen. Eine seiner Elegien lautet:

Zwischen den beiden Schwertern aus Leben und Sterben. Über dem Himmel breitet sich ein so großes Schweigen der Symbole, dass man nur den Flug stummer Vögel hört. Das Blei ihrer Federn lastet auf der schwarz weißen Landschaft…“

Die Verbindung von Surrealismus und Kommunismus ist ein bekanntes Phänomen, v.a. in Frankreich. Übersetzt und gelesen wurde Neruda Anfang der 50er Jahre zuerst in der ehemaligen DDR und zwar dank der Kontakte, die er im Spanischen Bürgerkrieg zu antifaschistischen Schriftstellern und später in Mexiko zu deutschen Exilschriftstellern wie etwa Anna Seghers hatte. Neruda war seit 1945 Mitglied der bald darauf verbotenen kommunistischen Partei Chiles. (https://www.youtube.com/watch?v=jXRD8wVWKrU). Doch schien, nach zwischenzeitlichem Hoch, vom Ende her betrachtet, sein politischer Kampf aussichtslos.

Frankreich im Herzen

In seinem Interview in „Fragmente zu einem Porträt“, das vor allem sein Verhältnis zu Frankreich beleuchtet (https://www.youtube.com/watch?v=jXRD8wVWKrU) betonte Neruda, er wäre kein Symbolist. Ferner, dass seine Generation, durch Frankreichs Kultur geprägt, zugleich sich von seinem Einfluss zu befreien suchen müsste, um seinen eigenen, lateinamerikanischen Weg zu gehen. Auf die Frage nach denen, aus seiner Sicht, größten Künstler des 20. Jahrhunderts, nannte er Ruben Dario („der bedeutendste Modernist der letzten zwei Jahrhunderte“) als Begründer des Indigenissmo und Pablo Picasso, weil er die Einfachheit und Leichtigkeit in die Zeit zurückbrachte.

Er bewunderte besonders Verlaine, Rimbaud und Mallarmé für ihre formale Virtuosität (die bald sein eigenes Werk kennzeichnen sollte) und die „Kreativität der Menge“ in Paris. Er wurde Zeitzeuge als die goldene Zeit des Montparnasse begann. Er war zwanzig, als die „zwanzig Liebensgedichte“ (20 poemas del amor y una canción desesperanza) veröffentlicht werden und es klingt, als habe er schon zwanzig traurige Lieben hinter sich, so gefühlsintensiv lesen sich Zeilen wie diese im canto II:

Von der Sonne fällt eine Traube auf dein dunkles Kleid … so dass ein blasses blaulich Volk, eben aus dir geboren, sich aus dir nährt“.

Die Normandie, in der er nach dem Krieg im Exil lebte, hielt er für ein zweites Isla Negra an der Pazifikküste.

„Ich wohne am Meer, beinahe schon im Meer. Alles lernt man von Zeit und Meer und jeder Tag öffnet die Flügel“.

Er wurde auch aus Frankreich ausgewiesen auf Druck der chilenischen Regierung. Auch Spanien, Italien, Deutschland wiesen ihm im Kalten Krieg die kalte Schulter.

Foto Belinda Helmert: Herbstliche Blumengrüße aus Liebenau

Allende ante portas

In meiner Zeit war damals ein Regime an der Regierung, das geradezu mit Hysterie die Verfolgung von Unschuldigen betrieb.“

Nerudas pointierter Satz über die Regierung von Eduardo Frei, den die Amerikaner in ihrer Angst vor einer Ausweitung des Kommunismus gegen seinen Freund Salvador Allende unterstützten, erinnert an die Maßnahmen heutiger Regierungen, die mit aller Macht Widerstand und Demokratie brechen wollen.

Allendes Wahlsieg des demokratischen Sozialismus sowie seiner Partei, der Unidad Popular, fiel in die Zeit 1970-73. Ein Grund für sein Scheitern durch einen erneuten Militärputsch unter General Pinochet waren wirtschaftliche Gründe. (https://www.planet-wissen.de/kultur/suedamerika/chile/pw-wb-chile-geschichte-100.html) Die Verstaatlichung der Bodenschätze und Enteignung ausländischer (meist amerikanischer) Großunternehmer – 80 % des chilenischen Nutzlandes befanden sich in der Hand von 4,2 % der Grundeigentümer – erwies sich als strategischer Fehler. Allende nahm sich das Leben oder wurde durch die näher rückenden Militärs in den Tod getrieben. Neruda, der seinen Wahlkampf unterstützt hatte musste abermals seine Heimat verlassen.

Foto Belinda Helmert: Herbstblumen im eigenen Garten

Die Liebe, so Neruda, soll uns vor dem Tod (und dem Verlangen zu töten) retten. Mit einem Kuss glaubte er sagen zu können: „Es gibt keine guten Mörder“. Das führte ihn zu dem Schluss: auch die Guten dürfen nicht Kriege führen, auch die Guten nicht die Bösen töten. Eines seiner vielen Gleichnisse lautet: „Auch wenn du alle Blumen abschneidest, so kannst du doch nicht den Frühling töten.“

Der Herbst jedoch wurde sein Feind, wenn man es allegorisch sieht. Ein Symbol für die politische Hilflosigkeit wurde das Santiago-Fußballstadion im Herbst 73, wo die Journalisten Zigtausende Gefangene (einstige Mitglieder der UP) Pinochets „bestaunten wie exotische Tiere im zoologischen Garten“ – sie durften nicht mit den zum Tode Verurteilten Oppositionellen der Militärjunta sprechen. Diesen schwarzen Tag erlebte die Stimme Chiles bereits nicht mehr.

(https://www.youtube.com/watch?v=jXRD8wVWKrU)

Foto Belinda Helmert, hausgemachtes Blumenparadies

Die Heimat: eine schwarze Insel, ein Haus im Meer

Der seinerzeit meistgelesene Autor Lateinamerikas schrieb über seine Heimat:

Chile ist ein Blütenblatt aus Meer und Wein und Schnee und meine Stimme umgibt dich gleich natürlichem Wasser der Erde.“

Alles war ihm lebendig und Gegenstand von Dichten. Die Elemente Feuer und Wasser blieben allgegenwärtig. Sein Haus auf Isla Negra, 110 km westlich von Santiago gelegen, wurde zum Sammelort von Kuriositäten und musste aufgrund von politischen Beben (Plünderung durch die Militärjunta), aber auch Naturgewalten (Seebeben) zweimal komplett neu errichtet werden. Eine besondere Beziehung pflegte Neruda dabei zu den unscheinbaren Muscheln und Mollusken:

Ihr habt mich gefragt, was spinnt das Schalentier zwischen seinen goldenen Füßen, und ich antworte euch: Das Meer weiß es. Ihr fragtet mich, was erwartet in ihrer durchsichtigen Glocke die Molluske? Was erwartet sie? … Ich will es euch sagen, daß das Meer es weiß, daß in seinen Muscheln endlos das Leben ist wie der Sand, zahllos und rein, und zwischen den blutgierigen Traubengebilden hat die Zeit eines Blütenblatts Härte geschliffen, die Helle des Medusensterns, und abgeperlt der Korallenfasern Gezweig aus einem Füllhorn unendlichen Perlmutts.“

Aus dem Gedicht „Die Rätsel“, gleichfalls aus dem Canto General, Der große Ozean (X) (http://www.planetlyrik.de/pablo-neruda-der-grosse-gesang/2012/09/)

Vergleiche mit dem Leib einer Frau und den Elementen der Natur sind nicht neu, doch Neruda gelangte darin zur Meisterschaft. Metaphern bzw. Stilblüten wie „in der Traube grünen Dunkelheiten“ (aus dem Gedicht „Ewigkeit“) fließen zuhauf aus seiner Feder. Dabei streifte er den Surrealismus nur, die Bilder sind originell und gefühlsnah. Der Kontinent mit seinen Ur-Elementen wird zum lyrischen Abbild der Politik, aber auch des weiblichen Körpers, doch alles ist mit Sehnsucht verbunden und mit der Utopie der Liebe, die auch im Frieden liegt. In Nerudas Zeit machte der Begriff „linksgerichtet“ noch einen Sinn. „In deinen Träumen reist dein Herz“ – einem Sammelband mit hundert Gedichten – schrieb der vielgereiste Weltbürger unaufhörlich gegen den Abschied an. So heißt es in „Seit du gegangen bist“ :

und nicht gesagt hab ich der Worte duftenden Hauch, die ich im Munde trug,“

(http://www.biderundtanner.ch/annot/564C42696D677C7C393738333633303937313837327C7C504446.pdf?sq=2)

Im Gedichte „Wenn du mich vergisst“, das charakteristisch in seiner poetischen Schlichtheit ist, lauten die Anfangszeilen:

Betrachte ich den kristallenen Mond, den roten Zweig des säumigen Herbstes an meinem Fenster, berühre ich beim Feuer die ungreifbare Asche…“

(http://www.adversusreloaded.de/t189076f46464-Pablo-Neruda.html)

Es ist ein typisches Neruda-Gedicht, das kaum einer Erklärung bedarf, trotz seiner kunstvollen Reihung von Bildern und das trotz allem mehr ist als eine reine Liebeserklärung. Man spürt, durch die Einbettung der Landschaft und insbesondere des Meeres, dass für Neruda jede Handlung, selbst das Lieben, politisch ist.

Dies gilt für die Schlusszeilen aus „Die Nacht auf der Insel“:

beim Erwachen gab dein Mund, eben dem Traum entkommen, mir den Geschmack von Erde, von Meereswasser, von Algen, vom Grund deines eignen Lebens, und ich erhielt einen Kuss, benetzt von der Morgenröte, als käme er mir vom Meer, das uns hier umspült.“

Foto Belinda Helmert: Floraler Charme des Herbstes

Spirituelle Erweckung am Großen Berg

„Der große Gesang“, Canto general, erschienen in Mexiko (Neruda verlebte dort zwischen 40 und 43 drei Jahre als Konsul) gibt Lateinamerika ein eigenes Gesicht und wirkt daher identitätsstiftend und politisch, z. B. der Machu Picchu (Großer Berg in der Quechua-Sprache) Zyklus. Die 231 Gedichte enthalten in ihrem zweiten Teil „Alturas de Macchu Picchu“ zwölf über das Weltkulturerbe der Anden. Die letzte Zeile aus „Die Höhen von M.P.“ endet mit „Sprecht mit meinen Worten und meinem Blut“ (Hablad por mis palabras y mi sangre.) Zweifellos gehörte die Besichtigung der höchst gelegenen Ruinenstadt der Welt zu den persönlichen Sternstunden des reiseerfahrenen Dichters. Auch das raue Klima, das Menschen, hier zu wohnen, nicht abschreckte, beeindruckte ihn sehr. Zudem die Armut der Indios, die eigentlich Herren ihres Landes sein sollten, doch seit Ankunft der Spanier zu Sklaven herabgesunken waren.

Je mehr die Wirtschaftskraft Chiles florierte, desto breiter wurde die Kluft zwischen Reich und Arm. … Doch die Streiks und Proteste wurden brutal unterdrückt durch das Militär, das eine zentrale Rolle im Staat innehatte.“

Unter diesem Aspekt kann man verstehen, dass Neruda sich lebenslang für einen realen Sozialismus einsetzte. Aus der Zeit des Kalten Krieges rührt, dass man ihn in der ehemaligen DDR verehrte, in der Bundesrepublik erst durch die Verleihung des Nobelpreises 71 kurz vor seinem Tod von ihm Notiz nahm. (https://www.deutschlandfunk.de/ich-bekenne-ich-habe-gelebt-100.html) Auch wenn nicht alle seine politischen Verse frei von Polemik blieben wie im Fall von Im „Gesang auf die Rote Armee bei ihrer Ankunft vor den Toren Preußens“: 

Etwas geht vor in der Welt, wie ein Hauch, den zuvor wir in den Wogen des Pulverdampfs nicht verspürten.“

(http://www.planetlyrik.de/pablo-neruda-der-grosse-gesang/2012/09/)

Dennoch bleibt festzuhalten. Nerudas Einsicht, vielleicht besteht das Leben darin, den Tod zu vergessen, ist so schlicht wie ergreifend, wenn man seine Aussage pazifistisch versteht als Plädoyer für die Menschlichkeit und die Liebe, die nicht nach Gründen fragt. Gedanken, wenngleich im Zorn geboren, im Angesicht des herrschenden Imperialismus der Vierziger Jahre (denn der Canto General ist eine Frucht dieser Vor- und Nachkriegszeit) verkündet Neruda immerwährende Wahrheiten, an die wir eingedenk der eigenen Politik, dem schmälichen Versagen der Deutschen in aktuellen Krisen (die einseitige Verurteilung der Geimpften, hernach der Kriegsgegner und zuletzt der Kritiker einer faschistoiden Israel-Politik) denken sollten:

Hinter des Vaterlandes Morgen fand ich die Blutstropfen meines Volkes. Niemand verheimlichte dieses Verbrechen. Dieses Verbrechen wurde vollzogen in des Vaterlandes Mitte.“

Wir dürfen wie Neruda nie aufgeben, für den Frieden, für die ausgleichende Gerechtigkeit und für die Würde des Menschen, selbst über sich und sein Schicksal bestimmen zu können, festzuhalten, auch wenn derzeit alles gegen die Liebe zur Erde spricht.

Eine Auswahl seiner Gedichte bietet auch die Seite https://unertraeglich-leicht.blogspot.com/2007/09/pablo-neruda.html

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