Der Skeptiker redet mit allen, der Dogmatiker nur mit sich selbst

Lampenladen

Foto Blinda Helmert, nächtliche Beleuchtung im eigenen Liebenauer Laden, Nienburg durch LED-Lampenkünstler Maik Dräger, Binnen (https://www.etsy.com/shop/maikelhandmade): Lampen mit Charakter ….

Einer der prägenden Sätze, die jeder kennen sollte, lautet: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.“ (Odo Marquard)

„Ein Leben ist zu wenig“, sagt Greogor Gysi, nach seinem aktuellen Programm gefragt, womit er sich auf den Titel seiner Biografie bezieht. Wir brauchen lange, um die zu werden, die wir sind, um uns freizuwschwimmen von Fremdeinfluss und Fremdbestimmung. vita brevis est, so lehrt es schon Plutarch, das Leben ist (zu) kurz, um es zu verschwenden. Weil es so kurz ist, muss die Kunst umso länger sein: um das Leben zu leben brauchen wir (lebens)lang Kunst, eine Abbreviatur dafür gibt es nicht.

Odo Marquard lebte lange (1928-2015). Als Autor kurzer, unterhaltsamer, an Literatur heranreichender Essayist, blieb er Skeptiker, aber einer von der guten, der bejahenden und der fruchtbaren, nicht der nörgelnden oder wiederkauenden Sorte. Eine seiner beliebten scharfsinnigen Fragen, die zum reflektierten Denken anregen sollen, lautete:

Wieviel Einheit ist nötig zur Vielheit ?

Diese Frage ist trotz ihrer Ansätze bis heute noch nicht hinreichend und tief genug beantwortet. Selbst Marquards gewähltes Vorbild Pyrrhon mit seinem wohl populärsten Vertrer Cicero waren begnadete Individualisten, die jede Form von Dogmatismus verwarfen. Pluralisierendes, perspektivisches Denken war ihre Form von Revolte gegen das, was man heute establishment heißen könnte. Kunst, um auf anfängliches Zitat zurückzukommen, schließt Philosophie ein (Adorno: „Philosophie ist eine traurige Kunst“) – sie kann und will denken, das macht ihre Tragik aus, gerade im Zeitalter der erleuchteten Universalisierung, mit mit der Digitalisierung nahezu gleichzusetzen ist.

Foto Blinda Helmert, nächtliche Beleuchtung im eigenen Laden, Nienburg durch Lampenkünstler Maik Dräger, Binnen

„Je erfolgreicher die Universalisierung, desto nötiger ist die Pluralisierung,“ (Zitat Odo Marquard)

So halten Universalitätsphilosophen fest an dem Seienden als lehrbare intersubjektive Einheit; Pluralphilosophen, zu denen Skeptiker wie Lebensphilosophen gleichermaßen gehören, suchen stattdessen zwischen den Extremen zu vermitteln und dabei die wohltuende Balance auf der Schaukel zu finden (die Metapher ist Montaigne entlehnt, gleichermaßen skeptischer Phyrronist).

Einheit wie Ware, Geld, Handel, Transfer kompensiert ästhetische Pluralisierungen; d.h. die Koexistenz von globalen Denken und lokalem Handeln, nach denen alle so lang, laut und anhaltend schreien, so dass die Stimmmen ungehört verhallen. Dabei verkommt selbst Menschenwürde zur bloßen Ware.

Marquard rät zur Pluralisierung durch Liberalisierung. Er, der homo philosophicus wirkt als Katalysator:

„Keine Zeit hat so viel Vereinheitlichung erfahren und zugleich so viele Freiräume geschaffen wie die Moderne“.

In seinem wohl bekanntesten Werk „Apologie des Zufälligen“, spricht sich Marquard sich für eine Abkehr vom Prinzipiellen aus. Mehr Bodenständigkeit bitte.

Foto Belinda Helmert Liebenauer Lampenleuchten durch Maik Dräger

nachträglicher Ungehorsam

Wenn es eine, wie in Pandemiezeiten bestenes erptrobten, ja perfektionierten vorauseilenden Gehorsam gibt, dann doch sicher auch sein Gegenstück invers:

„Unsere Nichtkrise ist die eigentliche Krise unseres Denkens“.

Die Rede ist von der schleichenden wie subtilen Krise der Erwartung, die zu Reisgnation bishin zur Abstumpfung oder direkt in die Hysterie führt. Grund dafür liefert die zunehmende Schwierigkeit des Jasagens gegenüber der Negationslust, der verloren gegangenen Leichtigkeit des Seins. Man möchte dem staunenden Erdenbewohner in Gestalt des übersättigten Zivilisationsbürgers zurufen: Deine Übelstandsnostalgie der Wohlstandswelt hat die Werte unserer Vorfahren (die deinen Wohlstand schufen) überholt.

Die Moderne krankt seit Werther an Übererwartung, Anspruchsdenken, Weltgelungenheitsfieber (ein kleiner Neologismus darf oder muss sein). Das alles negiert  die faktischen Fortschirtte in Medizin, Chemie und redet die Eisenbahn schlecht. Arme deutsche Bahn, was hast du nur verbrochen, dass dein Ruf dir entgleist ist? Machen wir etwa die Cola-Flasche dafür verantwortlich, wenn wir beim Trinken von einer darin unmherirrenden Wespe gestochen werden?

Foto Belinda Helmert: Deckenbleuchtung mit Stuck und Heizlüfter beim Vietnamesen im Viertel, Bremen

Dialektisch betrachtet führt die Entlastung des Negativen nicht zum Positiven, sondern verführt zur Negativierung des Entlasteten. Das war im Misstrauen bzw. in der Sekpsis gegenüber den segnungsreichen. medizinische Errungenschaften zu bemerken, angefangen vom Mißtrauen gegen die Apperatemedizin bis hin zum Injektionsstich. Nun ja, zumindest wähnte Marquard dies, denn das Panik-Verhalten in der Pandemie hat er nicht erleben müssen.

Suspekt erscheint, dass der faktische Rückgang von Seuchen und physischer Leiden in moderner Gesellschaft durch psychische Leiden kompensiert wird. Zumindest im kulturerschlaffenden Westen mit seinen geclonten Werther-Leidensfiguren. Misantrophen allerorten. Man beginnt sich seiner Lebenslust und dem Vertrauen in die eigenen Gene bzw. Immunsystem zu schämen und zu grämen. Wie formuliert es Marquard?

Foto Belinda Helmert: Laufenten von Entertainer Peter Schaaschmidt im Garten Liebenaus (https://hardi-schaarschmidt.de/category/laufenten/)

Ja-Sager Kultur fördern die Tyrannei

Ja-Sager Kultur fördern den Rechts-Extremismus, der stets in despotischer Anpassung mündet (bitte nicht mit NS verquirlen, wenngleich auch diese auf das Element der Assimilation basiert). Nein-Sagen fördert Widerstandskultur: Steht auf, wenn ihr Haltung habt und tragt sie vor. Macht euch angreifbar. Nicht polemisch, sondern den Diskurs fördernd, die offene Diskussion, den friedlichen Schlagabtausch suchend.

Schon klar, die 68 er Intellektuellen (mehr diejenigen, die den Schein erweckten) hegten eine romantische Sympathie für Revolutionsdiktaturen. Am Ende stigmatisierten die flower power Kinder den Fortschritt. Sie experimentierten mit Drogen und suchten dort ihre Erweiterung, nannten sie nicht mehr Inspiration, sondern Transformation. Heute darf man im Gender-Wahn nicht nur zwischen männlich oder weiblich wählen, sondern sogar unentschlossen bleiben, also bunt, quasi eine permanente Metamorphose.

Foto Belinda Helmert: Musikalischer Lampengruß

Wie halten es die Gutmenschen, wenn sie über den Kapitalismus die Nase rümpfen (Geld muss verdient werden, damit man es spenden kann) und dabei unemphatisch kritiklos Ja zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sagen. Mögen sie auch aus Prinzip nur Geld verdienen, damit es andere nicht tun, aus purer Lust am Genuss (dem wahren Hedonismus) tun sie es nicht. Aus Prinzip sagen sie Ja zur Regierung und Nein zur Verantwortung oder gar zur Scham.

Jeder Fortschritt zeigt seinen Januscharakter: die Beseitigung von Übel erzeugt neues Übel (bestes Beispiel liefert die Gentechnologie), man will ja doch nur die totale Kontrolle (früher den totalen Krieg). Merkt niemand, dass der Nutzen rapide sinkt, je größer der Aufwand wird? Im Zeitalter der Risikovermeidungsgesellschaft sieht sich zunehmend der Angepasste belohnt, der dahinter stehende Mensch als Individuum jedoch bestraft. Es gibt Analysen, die belegen: Mut zum Risiko (nicht Harakiri) steigert gesundes Lustempfinden.

Ja, es gibt sie, die Verknappung der Ressourcen, aber es gibt weder eine Wissenschafts- noch Sinnkrise. Der Wechsel unserer Ressourcen ist geradezu ein historisches Kontinuum. Unsere neue Lebensqualität steigert nur die Jammerrate; die Jungen von heute erweisen sich weder als krisenresident (mangelde Resilienz) noch als krisengeheuer (übersteigertes Nesthäkchen und Hotel Mama Syndrom).

Einsamkeit Voraussetzung zum besseren Miteinander

Marquard rät zur Philosophie der Kompensation: Mut zur eigenen Bürgerlichkeit. Dabei entstehen durchaus keine diskrusiven Entitäten, sondern die Vielheit der Teilnehmer wird dann überflüssig, wenn Konsens als das non plus ultra gilt. Einheit(sbrei) löscht Vielheit aus, weil das Allgemeine das Besondere zum Ver- stummen bringt. Das Unbehagen am Fortschritt führt zur Umwertung des Hyper-Optimismus der Aufklärung. Wir befinden uns derzeit in einer Sackgasse namens Zukunftsangstneurose, in der ein Weltklimagipfel den anderen jagt.

Solitude und Solidarität, diesen Zusammenhang betont auch Camus, u.a. in seiner Parabel über einen Künstler, der hinter seinem gemalten Werk und damit einer leeren Leinwand, verschwindet. Macht uns Einsamkeit per se zu besseren Menschen? Nein. Aber Einsamkeitssfähigkeit bildet die Voraussetzung, mit anderen besser umzugehen. Angefangen von mir selbst über die Empathie, zuletzt auch der oben beschriebenen Lebenstauglichkeit im Sinn der bejahten Lust am nicht nur Über- sondern endlich wieder am Erleben. Erleben will gekonnt sein. Leben ist Kunst.

Erlebniskunst geht aus Einsamkeit hervor. Vermassung fördert Vereinsamung. Dieses lownly in the crowd durch Anonymität ist nicht gemeint. Die Aufdringlichkeit der Leiber jedoch zeigt: zuviel physische Nähe führt zu psychischer Distanz. Die einsame Masse bedeutet: Ausschluß der Ungleichheit. Die Homogenität (alles darf, aber nichts kann) verhindert vor allem eines: das selbstbestimmte Leben. Eigene Einmaligkeit ist nur und damit exklusiv in der Einsamkeit erfahrbar.

Man hat sich daran gewöhnt, zu surfen, zu zoomen, der Präsenz Adieu zu sagen. Die Verlagerung der Ferne in Reiselust, Faszination für Fremdes ist einem Eintauchen ins Netz gewichen. Das Internet, Idole, Influencer. Eine trügerische Nähe., die an Selbstbetrug und nicht nur fake news, grenzt.

„Der Anfall des Nahen wird ersetzt durch die Ferne“.

Ein kurzer, unaufgregter Satz, ein Statement, das des Gedankenexperiments lohnt. Einsamkeitsbedarf wird zur Einsamkeitsnot stilisiert. Aus Einsamkeit erwächst Mündigkeit, Bildung,  Spiritualität, Zivilcourage, Entscheidungslust. Was wir jedoch zunbehmend sehen ist Agonie von alldedem. Daher zum Abschluss die Kernfrage: was ist (Marquards) Formel-Prinzip Vita brevis.

Foto Belinda Helmert, Erleuchtungsfieber aus Treibholz

Der Mensch führt eine temporale Doppelexsitenz

Weil die Kürze des Lebens zu Kompromissen zwingt (im positiven Sinn zum Balancieren), sind absolute Sprünge unmöglich. Wir sind mehr denn je aufeinander angewiesen, um wir selbst sein zu können. „Der arme Verschwender“ (Romantitel von Ernst Weiß) kommt einem in den Sinn:

Wir machen das Leben kurz durch Verschwendung.“

Das bedeutet ein Versäumnis von Leben durch Mimekry, die biologische „so tun als ob“ Mentalität. Wir haben den Genuss verlernt, denn die temporale (virtuelle und virale) Existenz begünstigt den Zwang zur Schnelligkeit und damit zur Flüchtigkeit. Muse Fehlanzeige. Zukunftsbezogen wie wir sind, vergessen wir darüber die Gegenwart. Man mag dies gegen die Bindung an die Langsamkeit ausspielen, denn aus zuviel Nostalgie wächst vergangenheitsbezogene Realitätsverleugnung.

Der Mensch ist ein Mitnehmen der eigenen Trägheit in die Schnelle.“

Foto Belinda Helmert: Hoch die Lampe und mit ihr die hellsichtigen Einsichten.

Es erscheint paradox: je schneller die Zukunft voraneilt (in bits und bites), desto mehr Vergangenheit (Euros) müssen wir in die Zukunft des Höhlenbewohners (der sein smart home zu Hause nicht mehr verlässt) mitnehmen. Unser Verhalten ist eine Verzeitlichung, ein Experiment von Multitemporalität, die in Simultanität erstarrt. Obschon wir alle zu petrifizierten Mumien vergreisen, so scheint sich kaum jemand mit dem eigenen Tod (dem existientiellen Sichverhalten zum Tode) auseinandersetzen zu wollen. Alles wird ausgeklammert und vertragt. Statt Muse folgt Hektik und aus dieser Panik. etwas zu verpassen. Oder etwas falsch zu machen. Vor allem davor, dass etwas verloren gehen könnte. So schrumpft der Mensch zu einem Zwerg, ein Zeitmangelwesen, dessen Grunderfahrung die Knappheitserfahrung ist.

Ästhetischer Erfahrungsverlust, so nennt man das wohl. Die Erfahrung des Verschwindes, der individuellen Wahrnehmung, der persönlichen Begegnung durch die virtuelle, die digitale Welt. Man muss den PC nicht verteufeln, wenn man das Leben nebenbei noch lebt und besser noch, es liebt. Wo es misslingt, werden wir zu hatern, denn durch die Mediatisierung verskalven Menschen sich gebetsmühlenartig vorgetragenen Informationen (es müssen durchaus keine fake news sein, allein die Unilateralität erschreckt und nichtet). Der sich selbst verskalvende Mensch sucht Befreitung im Krieg. Er fordert für den Frieden die Bewaffnung und damit den Sieg über den oder das Böse. So war es seit dem elften September 2001 gefühlt: Krisen in Dauerbeschallung in Permanenzschleifen. Imaginäre oder reale Apokalypse. Wie oben erwähnt: nicht die Cola Flasche zur Wespe machen.

Abschließender Gedanke: Durch zunehmende Innovationsgeschwindigkeit wächst Veralterungsgeschwindigkeit. Weltfremdheit wächst bei gleichzeitiger Globalisierung und Datenvernetzung. Was schrumpft ist die Würde des Menschen. So gesehen und erlebt. Täglich. In Überdosen. Mit Marquard:

Es kommt darauf an die Erde auf Erden zu akzeptieren wie sie ist.“

Foto Belinda Helmert. Ausstellung mit Maik Dräger zur Halloween. Ein jeder mag seine Lampen leuchten lassen in der Nacht.

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