Nach Wissen graben und Gefühle finden

Foto: Belinda Helmert: alte und neue Gedächtniskirche, Berlin, Charlottenburg, Breitscheidplatz

Gedanken zur archäologischen Ausstellung in Liebenau, 17.09. Lange Str. 29 ab 11 Uhr

Dokument Einladung zur Ausstellungseröffnung

Näheres über den Verein, die Ausstellung und das Konzept: https://neu.rauzwi.de/startseite.html

Licht in dunkler Zeit

Foucault schreibt angesichts der Heteropie der Räume von der Archäologie des Wissens. Er meint, vereinfacht gesagt, man müsse graben, um das Wissen der Zeit, die Schätze versunkener Kulturen zu bergen. Damit ist recht eigentlich das Aufspüren der Zeit gemeint. Troglodyten, moderne Höhlenforscher also. Zurück zu Platon, dessen Höhlengleichnis den umgekehrten Weg weist, heraus aus dem Dunkel ans Licht. Allerdings fordert er Gewöhnung, denn wie das Sehen in der Finsternis leicht geblendet wird durch einfallendes Licht, so haben wir Tagträumer und Forscher so unsere Nöte, im Dunkeln zu sehen.

Foucault meint ferner, dass Wissen einer Grabung entspricht. Nicht erst seit Schliemann wissen wir, dass wir Spuren verwischen, während wir anderes Bergen. Es geht vieles verloren, wenn man nicht gründlich sediert. Nach welchen kriterien also isolieren und selektieren wir? Es gibt so etwas wie subversives Wissen, das gefährdend wirkt wie eine Erosion. Daher belässt man dieses Wissen bei Fachleuten. Esoterisch, genau genommen, nach innen gewendet.

Foto Belinda Helmert: Blick durch ein offenes Fensterauge der (Wilhelminischen) Gedächtniskirche auf Berliner Hochbau-Gerüste

Was bedeutet Grab ?

Dies führt zu einem anderen Verständnis von Grab und Gräbern. Nicht nur Gedenkstätte oder Wallfahrtsort sahen unsere Vorfahren darin. Ein Grab ist nicht nur Ruhestätte in einer ausgehobenen Grube. Eine Wurzel ist das Lateinische sepulcrum. Es stammt zwar von sepelio Ruhestätte, doch konnten damit auch Verbrennung und Massengräber gemeint sein. Die Hellenen sprachen vom Kenotaph kenotáphion, in denen iemand lag. Es waren Gedenksteine für jene Toten, die irgendwo verschollen, jedenfalls deren Leichnam nicht mehr aufgefunden wurde. Grave bedeutet im Englischen zwar Grab, aber gleichfalls feierliche und schwere Musik. Im Französischen ist la tombe weiblich, kennt jedoch ein Partizip tombé, womit Gefallener gemeint ist und stellt die Substantivierung von fallen dar. Die für viee beeindruckensten Gräber stellen die Pyramiden dar. Die hat auch damit zu tun, dass man im alten Ägypten den Tod als das eigentliche Leben und Ziel aller irdischen Existenz betrachtete. Im Norddeutschen Raum sind aus der vorchristlichen Epoche nur Hünen- oder Hunengräber bekannt. Fester Bestandteil ist ein Megalith, den man auch Dolmen nennt und die meistens aus der Jungsteinzeit stammen, das in Nordwesteuropa erst im sechsten Jahrtausend einsetzt. Wir vergessen rasch, dass die Evolutionsgeschichte des Menschen nicht einmal eine Sekunde im Verlauf eines Tages entspricht, den die Erdgeschichte genommen hat, ganz zu schweigen von der kosmischen Genealogie. Letztere vermittelt uns ein Gefühl von Ewigkeit, in der es bei Gräbern auch geht. Hünen sind Riesen und unser Wissen gleicht oft dem von Zwergen auf den Rücken eines Riesen. Bezeugt ist das Gleichnis erstmals bei Bernhard von Chartres um 1120.

Romantisieren: Sinn- und Spurensuche im Grab

In der Romantik erlebte Gräber-Symbolik ihre Hochkonjunktur. Mitunter wie bei Novalis (ein Pseudunym Freidich Hardenbergs, das neues Land oder Brachland bedeutet) bezog sie sich auf das Mittelalter. In seinem Essay „Die Christenheit oder Europa“ erachtet er es als eine Annäherung an das goldene Zeitalter, weil der mittelalterliche Mensch (worin das Wort Mittler steckt) noch nicht in sich zerfallen, durch den Verstand von der Natur entfremdet und damit näher bei den heiligen Ursprüngen des Glaubens war. Romantisieren, so Novalis, bedeutet für ihn Aufspüren, Wiederfinden und Neubelebung des ursprünglichen Sinns. Sein ihm oft attestierter Totenkult ist eigentlch ein Ausgraben von elementarem Leben. Dem Unbekannten und Unaussprechlichen eine Würde verleihen, sagt er auch.

Kindliches Zutrauen schreibt Novalis unseren Ahnen zu, bevor der Buchstabe Gesetz wurde und die Heilige Schrift auf Herz und Nieren der Logik unterzogen wurde. Lassen wir uns noich berühren von einem Grab, dem Grab eines Unbekannten? Glauben wir nicht schon lange, alles über sein Leben zu wissen, sämtliche Atome aufgespürt und vermessen zu haben und damit sein Rätsel gelöst? Novalis verweist darauf, wie wichtig es ist zu staunen und wie gefährlich, verengend und damit auch verachtend, das Leben, auch das der Toten, in Zahlen aufgehen zu lassen oder Moleküle. Es gleicht dem Facettenauge eines Insekts: Ein Fenster im Fenster unter Millionen Fenstern.

Foto Belinda Helmert, im Inneren der neuen Gedächtniskriche. Jesusfigur samt 5000 blauer Mosaikfenster .
Architekt Egon Eiermann anl. des Mauerbaus 1961. (https://wuestenrot-stiftung.de/betonwaben-kaiser-wilhelm-gedaechtnis-kirche-berlin/)
Die Berliner tauften die Berliner das Dreigestirn aus Gotteshaus, neuem Turm und Turmruine spöttisch „Puderdose, Lippenstift und hohler Zahn“.(https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2021/12/60-jahre-neubau-berlin-kaiser-wilhelm-gedaechtniskirche-egon-eiermann.html

Tod als Bräutigam, Grab als Hochzeitsbett

Eine Geschichte, die uns das Wesen von Grab und Verjüngung näherbringt, sind die Bergwerke von Falun. Auf der Suche nach einem Kristall findet der ehemalige Seemann und jetzige Bergmann Elis nicht mehr zurück und der Schacht wird sein Grab. Viele Jahrzehnte später findet man ihn und die einst von ihm zurückgelassene Braut Ulla ist die einzige, die ihn identifizieren kann: nach 50 Jahren im Vitriolwasser ist die Zeit spurlos an ihrem Bräutigam vorbei gegangen. (https://www.projekt-gutenberg.org/etahoff/falun/falun001.html)

„Es war anzusehen, als läge der Jüngling in tiefem Schlaf, so frisch, so ohne alle Spur der Verwesung seine zierliche Bergmannskleider, ja selbst die Blumen an der Brust.“

In zahlreichen Mythen wie dem Griechischen sind Schlaf, Traum und Tod Brüder mit fließenden Übergängen. Kafkas einziges Drama – das nur wenige kennen – „Der Gruftwächter“ (er beziht sich literarisch auf Hamlet, historisch auf den Tod des k. u. k. Kaisers Franz Joseph I) bedarf es einen Wächter, damit die Toten ruhen können und sich nicht unter die Lebenden mengen. (https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/gruft/gruft.html)

„Gespenster sind nicht transportabel“ heißt es. Und der Wächter bittet darum:

„Laß nicht vor mir das Grab vermauern, zu dem ich strebe.“

Weshalb dunkles Mittelalter ?

Je nach Region werden verschiedene Zeitabschnitte als „dunkel“ bezeichnet. Die Bezeichnung dunkles Mittelalter birgt ein Missverständnis. Die Menschen glauben, es sei ein Rückfall in Barbarei, verglichen mit der Hochkultur der Griechen und Römer nach dem Zerfall dessen Reiches. Gemeint ist jedoch die Quellenlage für das frühe bis hohe Mittelalter, während das späte Mittelalter, einsetzend mit Friedrich Barbaross (Friedrich II) bereits die Grundlagen für die Renaissance schuf. Nietzsche vergleicht ihn, den Kaiser und aufgrund seiner Bildung stupor mundi, das Staunen der Welt) mit Marc Aurel: zu der Zeit wussten die Herrscher viel, Bücher waren selten (und schwer zu tragen), sie mussten sich eigene Gedanken machen und die fremden gut im Gedächtnis bewahren.

Foto: Belinda Helmert, Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, Detailaufnahme

Gräberfund in Liebenau

Die Gräberfunde in Liebenau stammen meist aus dieser dunklen Zeit, oft aus der sächsischen Jahrundert (https://de.wikipedia.org/wiki/Altsächsisches_Gräberfeld_Liebenau). Die Funde der Niedersachsen als ein germanisches Volk dokumentieren eine Übergangszeit, kulturell (vor der Christianisierung), politisch (vor der Machtübernahme der fränkischen Merowinger und Karolinger) und waffentechnisch (das Hiebmesser Sax verhalf den Sachsen zur ihrem Namen). Die heute eher unscheinbare Gemeinde Liebenau war ein Zentrum sächsischen Aktivitäten zwischen dem vierten und dem neunten Jahrhundert. Wissen wir aber aufgrund der Toten vom Leben der Menschen? Sicherlich, der Historiker wird von den dynastischen Linien, den Askanier (Stammsitz Aschersleben) und den Wettinern (Stammsitz Wettin) sprechen und der Literat auf Kleists Drama „Die Familie Schroffenstein verweisen,, welches den Zwist der beiden Familienzweige zum Ausgangspunkt nimmt.

Foto Belinda Helmert, Berliner Gedächtniskirche, Bogen. Architekt Franz Schwechten,1891–1895, Neoromantik

Totschlagen aus Versehen

Barnabe, die Tochter der Totengräberwitwe Ursula ruft:

„Dränge durchs Grab, wenn die Posaune ihm ruft.

Ewiges Glück: daß sich die Pforte ihm weit

Öffne, des Lichts Glanzstrom entgegen ihm wog.“

(http://www.zeno.org/Literatur/M/Kleist,+Heinrich+von/Dramen/Die+Familie+Schroffenstein/4.+Akt/3.+Szene)

Das Paradox zu formulieren, bleibt ihrer Mutter vorbehalten: „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“

(http://www.zeno.org/Literatur/M/Kleist,+Heinrich+von/Dramen/Die+Familie+Schroffenstein/5.+Akt/1.+Szene)

Wir wissen wenig von uns selbst. Das ist das Credo von Kleist, Novalis und auch Kafka. Und auch: wir brauchen ein anderes Geschichtswissen, um den Atem der Geschichte zu verstehen und zu fühlen. Wie die Metapher besagt, ist etwas Organisches in ihr und etwas Sinnhaftes, das nach sinnlicher Anschauung verlangt.

Foto Belinda Helmert: Berliner Gedächtniskirche vom 10. Stock (Café) des Upperwest aus

Grablied

Der Beginn von Nietzsches Grablied aus „Also sprach Zarathustra“ zweiter Teil (es folgt bezeichnenderweise auf das Tanzlied, womit er an den Brauch des Totentanzes in der Renaissance erinnert) lautet:

„Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“

(www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Also+sprach+Zarathustra/Zweiter+Teil.+Also+sprach+Zarathustra/Das+Grablied)

Der letzte Satz des Kapitels lautet: „Und nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen.“

In der Götzendämmerung schlägt Nietzsche andere Töne an:

„Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? … Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens,…“

Am Ende steht der Tod Gottes, der Verlust des wahren Glaubens und des Respekts vor dem Tod, dem Leben unserer Ahnen, von denen wir meinen, alles zu wissen und überwunden zu haben. Doch wir werden Gott nicht los, so lange wir noch an die Grammatik glauben. (https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/goetzend/chap004.html) heißt es in „Götzendämmerung, Kapitel Die Vernunft in der Philosophie, V.

Wir werden den Tod nicht los, nichts, was wir mit Sprache zu enthüllen versuchen, denn, so auch Novalis in „Monolog“: die Sprache ist größer als wir, spricht uns und auch das Unaussprechliche.

„Der lächerliche Irtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen sie spräche um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich nur um sich selbt bekümmert, weiß keiner.“

(https://www.berndoei.de/wp-admin/post.php?post=3672&action=edit)

Wie mit der Sprache verhält es sich auch mit den Toten, den Gräbern, den Göttern.

Foto Belinda Helmert, Gedächtniskirche(Ruine seit zweitem Weltkrieg) und Hotel Upper West (2017 fertiggestellt)

Grab-Auferstehung als Desertation

Meine literarische Gedankreise endet bei Wolfgang Borchert und seiner Gechichte „Jesus macht nicht mehr mit“ – eine Allegorie auf den Krieg. Zitiert sind hier nur Anfang und Ende (nachzulesen auf https://www.projekt-gutenberg.org/borchert/andiedie/chap005.html)

„Er lag unbequem in dem flachen Grab. Es war wie immer reichlich kurz geworden, so daß er die Knie krumm machen mußte. Er fühlte die eisige Kälte im Rücken. Er fühlte sie wie einen kleinen Tod. Er fand, daß der Himmel sehr weit weg war.“

Jesus tetet Gräber aus, die man für andere (Soldaten) aushebt. Er liegt dem Tod Probe.Irgendwann hat er die Lust verloren, wieder aufzustehen und zu den Lebenden zurückzukehren. Das ist Befehlsverweigerung im höheren Sinn.

„Der Alte findet, er sieht so sanft aus. Seitdem heißt er Jesus. Ja, sagte der Unteroffizier und machte eine neue Sprengladung fertig für das nächste Grab, melden muß ich ihn, das muß ich, denn die Gräber müssen ja sein.“

Man mag an Dilthey denken, den Lebensphilosophen, der in seinem Band 1865 in „Das Erlebnis und die Dichtung““ über den Stand der Wissenschaft sagt:

„Die Wissenschaft muß erkennen, daß dies Verfahren auf einer Illusion beruht. Der Gang unserer historischen Forschung und strengen Erkenntnis ist dem viel ähnlicher, welchen Hippel in einem künftigen Roman zu applizieren versprach: er wollte einmal rückwärts, immer tiefer in die Vergangenheit hinein, vom Tode der Geburt, von den Folgen den Ursachen entgegen seinen Weg nehmen.“

(https://://archive.org/details/daserlebnisunddi00diltuoft/page/272/mode/2up?q=Illusion)

Foto Belinda Helmert, alte (Turm ehemals 113 m) und neue Gdächtniskirche neben Upper West (118 m)

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