Melancholica

Foto: Belinda Helmert, Stadtkirche Bartholomei, Detail Das nach dem verheerenden (absichtlich gelegten) Stadtbrand 1570 aus Bruchstücken neu errichtete Gotteshaus stammt tw. aus dem frühen 18. Jahrhundert. (https://de.wikipedia.org/wiki/St.Bartholom%C3%A4i(Wunstorf))

Seit einigen Jahren stehe ich im Austausch mit einem Kollegen, der sich auf Aphorismen versteht und unter „WAS GILT NOCH VON EUROPÄISCHER PHILOSOPHIEGESCHICHTE?“ mir Denkanstöße gibt. Einige seiner Gedankenspiele mache ich hier mit meinen Antworten öffentlich. Es sei vorausgeschickt, dass er überzeugter Christ ist und wie ich Nietzscheaner. Grundsätzlich teilt er nicht meine Überzeugung, dass es für Philosophen nichts mehr zu sagen oder zu tun gibt, da sie exkludiert sind aus der hypermodernen, in meinen Augen denkfeindlichen, Gesellschaft. Ich habe mir in zwei Teilen erlaubt, seine Gedanken kursiv voranzustellen, ein mir passend erscheinendes Bild aus Wunstorf dazwischenzustellen und meine Replik darunter zu setzen.

Das „Neue Testament“ der Christen bringt den Armenpropheten Jesus und verheißt das Himmelreich gegen alle Weltreiche.

Foto Belinda Helmert, Portal der lutherischen Stadtkirche St. Bartholomaei in Wunstorf und Eingang zum Turm – seit 1840 ohne Geschosse

Von einstigen Weltreichen sind nur noch Trümmer übrig, den Reichen hat die Armenphilosophie nicht geschadet. Marx glaubt, der Glaube an das seligmachende Himmelreich vertage nur die Revolution. Neben dem vielzitierten „Religion ist das Opium des volkes“ (keineswegs Opium für das Volk) schreibt er: „Religion ist die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, Ereignissen ins Gesicht zu sehen, die er nicht versteht.“ Das heutige Weltreich hat kein episches Zentrum mehr, es besteht an Börsen und agiert über eine internationale Sprache: Geld. Es gibt inzwischen noch weniger Superreiche als zu Jesus´Zeiten und diese Oligarchen besitzen inzwischen noch mehr Einfluss als zu Zeiten Krösus´.

Der Katholizismus preist Bettelmönchsorden wie aristotelische Vita contemplativa gegen die protestantische Verherrlichung der Arbeitswelt. Die Reformation heiligt die freie Subjektivität der Neuzeit (aber bitte ohne lutherischen Antiproletarismus und Antisemitismus!).

Foto: Bernd Oei, bei Stadtrundgängen begehbarer Turm der St. Bartholomaeikriche (https://www.forum-stadtkirche.de/die-stadtkirche-st-bartholomaeus-in-wunstorf/). Der wilde Weinwuchs bietet das frühherbstliche Naturschauspiel einer Blutkirche.

Baudelaire hielt den auf Mystik verzichtenden Protestantismus für profan und eine proletarische Entweihung. Nietzsche, von Haus aus Protestant, geht einen Schritt weiter, wenn er die Religion als Verräterin am Glauben geißelt: „Wir haben also als Missverständnis eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaften, Tehologie, Kultus, Sakramenten, kurz alles, was jesus von Nazarteht bekämpft hatte.“

Über das verhängnisvolle Verhältnis des Deutschen zum Dogmatismus braucht an dieser Stelle nichts hinzugefügt werden.

„Der Prolet Sokrates demonstriert allen, die etwas zu wissen glauben, dass sie gar nichts wissen.“

Foto Bernd Oei, Kubrunnen in der Langen Straße, Wunstorfer Fußgängerzone. Verantwortlicher Künstler : der Osnabrücker Hans Gerd Ruwe zur Erinnerung des historischen Viehmarktes an der Stelle der heutigen Gaststätte Ratskeller, wo sich Zweibeiner Gemästetes munden lassen. (http://www.wunstorfer-ratskeller.de/)

Wir wissen nicht viel, aber das wenige Wissen, das wenigstens ist uns bewusst. So liese sich der mit sokrates einsetzende Skeptizismus und wissenschaftliche Falsifizierungsmodus erklären. Ein Lob auf Demut und Bescheidnheit im Angesicht von professionellen GutMenschen und Weltverbesserern, die uns aus einer rosaroten eine grüne Brille beschert haben. Sokrates war sich nicht zu schade, auf dem Makrtplatz Auge in Auge mit offenem Visier den Diskurs zu suchen – mit Prolet hat das wenig gemein. Demonstration, lateinisch zeigen, zelebrierte er als Maieutik, Hebammenkunst: wer sich selbst widerspricht, bedarf keiner Opposition. In einem überregulierten Staat tut der Überzeugung mancher Gesinnungstäter Abrüstung Not.

Sein aristokratischer Schüler Platon verteidigt die substantiellen Ideen gegen ihre prinzipiell unvollkommenen Realisierungen.“

Foto: Belinda Helmert, Cartoon-Ausstellung im Inneren der St. Bartholomaei zum Thema Sterben und Beerdigung. Cartoonist ist der sächsische Illustrator Erich Rauschenbach. Wer früher stirbt ist länger tot.

Ob sich Platon nur auf Ideen inm Sinn von Ideal und Perfektionismen reduzieren lässt, darf im sokratischen Sinn bezweifelt werden. Nicht nur, dass er wie die vier Evangelisten dem Propheten schriftlich verewigten und seiner Stimme Schrift verliehen, mit Platon wurde die poetische Art zu philosophieren und in Gleichnissen zu sprechen kultiviert. Der Hermeneut Gadamer pointiert: „Das unverlierbare Vorbild dieser Kunst, starr gewordene Begriffe zu brechen, ist der platonische Dialog und die Gesprächsfüh-rung des platonischen Sokrates.“

Sein bürgerrealistischer Schüler Aristoteles heißt allein das theoretische Leben göttlich.“

Foto: Bernd Oei, Fachwerkhaus 17 in der Speckenstr., Wunstorf zwischen Aue und Bürgerpark

Ob Aristoteles, gemeinhin als Schüler Platons und gleichzeitig als sein Gegenpart apostrophiert, selbst in den Genuss aller attischer Bürgerrechte kam, darf bezweifelt werden. Schließlich war er aufgrund seiner makedonischen Abstammung ein Migrant und als einstiger Lehrer Alexander des Großen auch kein Freund Athens. Mit ihm als Vater des Empirismus hielten die Naturwissenschaften Einzug in das philosophische Haus und sein Dach erste Risse.

Skeptiker wollen weder Relatives verabsolutieren noch Absolutes relativieren.“

Foto: Bernd Oei, Gartenskultur der Klosterstiftsgärtnerei. Ein skeptischer Blick zurück oder voraus mit vom Licht umschmeichelten Lächeln.

Der Begriff skeptikós verweist auf Betrachtung wie der Kritik auf Prüfung. Wie ein Kritiker nicht alles schlechredet (siehe Kants „Kritik der Vernunft“) ist ein Sekeptiker kein Leugner oder gar Verneiner der Wirklichkeit. Er portioniert und gewichtet beispielsweise den subjektiven Charakter einer Erfahrung, um Meinung von Wissen und Gesinnung von Haltung zu unterscheiden. Ersasmus von Rotterdam achtetet Skepsis als notwendigen Bestandteil des Perspektivismus und der BVielfalt von Aspekten. Kant spricht von der Mannigfaltigkeit des Denkens. Ob ein Skeptiker an das Absolute glaubt ist mit Voltaires Bonmoit „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“ hinlänglich umschrieben.

Bei Spinoza offenbart der Schöpfer sich nur in der Schöpfung“

Foto Belinda Helmert, Sanddorn Am Stadtgraben Wunstof in unmittelbarer Nachbarschaft der Stiftskirche. Die Zitrone des Nordens ist als Ölweidengewächs mit den Rosen artverwandt. Sein Saft wirkt fiebersenkend und wundheilend.

Der Pantheismus eines ursprünglichen Juden, Spinoza, von seinen Glaubensbrüdern verbannt, besagt, dass Gott die Natur selbst ist (deus sive natura) – da homo sapiens gerne projiziert und benennen muss, stand er bald wie manch Philosoph zwischen allen Stühlen. Er hält Offenbarung für eine, vielleicht die einzige sichere Sache in der Welt und diese kann nur von dieser Welt sein, nicht außerhalb ihrer existieren. Die organische Vorstellung, dass natürliches Licht (der Vernunft) Erkenntnis schafft, führt zur übersinnlichen Einbidlungskraft, die übernatürliche Erleuchtung in sich trägt. Der Biologe Darwin schreibt: „Alles was gegen die Natur ist, hat auf die Dauer keinen Bestand.“ Spinoza hätte keine Einwände geltend gemacht.

Descartes befreit das moderne Selbstbewusstsein vom Materiellen wie die Geometrie von der Erde.

Foto Belinda Helmert: Bahnhof Wunstorf im Neo-Klassizismus, 1846-48, Detail (https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof_Wunstorf)

Das cartesianische Denken als mechanisch und dualistisch dem ganzheitlich – organischen von Spinoza gegenüberzustellen, ist eine gängige und doch unzureichende Art, das Leben in Zahlen aufgehen zu lassen. Die Wurzel von Materie und Spiritus ist, man denke an die Trinitätslehre, doch eine gemeinsame und sie pflanzt sich in der Polarisierung von Platon zu Aristoteles oder in deren Gefolgschaft Descartes und Spinoza. Es kommt auf die Balance an und noch mehr auf Versöhnung, weil beide Denksysteme sich ergänzen und nicht bekriegen. Die Folgen dieses kultivierten Spaltens waren jüngst während der Krisenzeiten in unserer modernen Welt zu spüren. Geometrie ist auch eine Metapher für das Bewusstsein, nicht erst in der Chaostheorie. Es scheint bei allem Verständnis für die Verschiedenheit der Betrachtungsweisen dem Menschen das Gefühl für Maß mehr denn je im Zeitalter der Vermessung abhanden gekommen zu sein.

Ende Teil 1

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