Freudlos durch die Nacht

Riesenrad

Foto: Belinda Helmert, Altstadtfest Nienburg, Riesenrad bei Nacht – das fünfzigste seiner Art.

KAIN UND ABEL

Die Geschichte Kain und Abel aus Kains Sicht erzählt. Davon handelt Byrons Drame „Cain“ vor etwas mehr als 200 Jahren auf den Tag genau verfasst, ein zorniges Echo auf das verlorene Paradies. Freude, heißt es darin, ist eine Sünde, doch manchmal ist die Sünde eine Freude. Liebe den Menschen, doch die Natur liebe mehr. Denn die Freude steckt in den Wäldern ohne Wege, Entrückung (Verzücken) in dem einsamen Stein. „There is pleasure in the pathless woods, there is rapture in the lonley shore“ (Childe Harolds Pilgrimage, canto 4, 178) Byron verdanken wir weise Sätze wie: Du liebst eine Frau nicht, weil sie schön ist, aber sie ist schön, weil du sie liebst. Freud, selbst kokainabhängig, war von Byron begeistert und schrieb in seinem Essay „Ein tragischer Blick ins Innere der menschlichen Bedingung“, Freuds Blick auf die Seele entspringt einem mechanischen und zudem materielistischen System, da alles, was die Seele steuert und in Triebe lenkt, aus ursächlichen Zusammehängen der verdrängten Wirklichkeit erklärbar wird. Insofern gleichen wir alle Irrlichtern, einem Riesenrad bei Nacht, von dem wir schhemenhaft einige Gondeln erhaschen. Beim Näherkommen lösen sich die Lichtflecken.

Foto: Belinda Helmert, Nienburger Altstadtfest bei Nacht

Chemisches Labor oder Triumph der Wut

Der Mensch hat auch Freude an der Angst. An der Verstellung wie der Enttarnung. Freud spricht in seinen „Studien von der Hysterie“von psychischer Kristallisation – in Anlehnung an Stendhals Kristallisationstheorie; die von der Lust an der Illusion handelt, die notwendigerweise eine dysfunktionale Lust der Desillusionierung nach sich zieht. Freud verdeutlicht mithilfe seines, der Chemie entlehnten Sprachbildes, dass sich Effekte (Symptome) wie Gefühle an andere, bereits vorhandene und vertraute Strukturen, anlagern wie Salzkristalle an eine Form. Um zur Wurzel zu gelangen, müsse man daher die jüngsten Schichten abkratzen und sich Symptom für Symptom zum substantiellen Kern vorarbeiten. Adam und Eva hatten keine Töchter: Die Brüder Kain und Abel mussten es unter sich ausfechten: der blinde Gehorsam verlor, die Wut triumphierte.

Die meisten Menschen erleben Freude, wenn es ihnen gelingt Schmerz, Sorge oder Angst zu vermeiden. Daher entspringt sie der Lust an der Ablenkung und dem Verdrängungstrieb. Im Drama Byrons empört sich Kain gegen den Sündenfall, durch den Gott zur Ursache allen menschlichen Leidens geworden ist. Er erschlägt seinen Bruder Abel, der sich als christlicher Fanatiker entpuppt, mehr aus Verzweiflung denn als Bosheit. Allerdings deutet der biblische Mythos auch die Freude an Aggression und Gewalt an und wenn wir alle Kains Erben sind, dann zugleich unsere Lust am Siegen. Survival of the fittest heißt es bei Charles Darwin. Evolutionärer Vorteil nennt es Konrad Lorenz. Laut Freud aber gilt für den Menschen: Aggressivität ist auch immer teilweise gegen sich selbst gerichtet und damit selbstzerstöerisch.

Foto Belinda Helmert: Nienburger Altstadtfest, Version 51

Religiöser Wahn

Testostoron erweist sich als Folge, als Symptom und nicht als Ursache von Freude an Gewalt. Im Bibeltext sorgt Gott als religiöse Instanz für Ordnung: Er bestraft Kain für den Mord an Abel mit nie endender Wanderschaft und dem Verlust der Heimat. Daraus schlussfolgerte Thomas Hobbes in „Leviathan“, dass Gewalt monolpolisiert gut sei, in den Händen vieler aber schlecht. Er war einer der ersten, die soziale Ungerechtigkeit für untherapierbar hielten und daher nicht das Individuum, sondern das System als solches hinterfragte. Er vertrat den Laizismus. Um mit einem Gedanken aus der tazvom Novembver 2017 zu schließen: „Religion ist eine Quelle von Gewalt, wenn sie von Menschen benutzt wird, die versuchen mit ihrer Hilfe ihre Ziele zu erreichen.“ (https://taz.de/Wo-ist-dein-Bruder-Abel/!5466232/).

Kain und Abel spalten das Denken. Freude und Schmerz, verstanden als Lust zur Aktivität und Gestaltung einerseits, Schmerz verstanden als Passivität und Gehorsam andererseits, liegen im Gehirn äußerst dicht beisammen. Sitz ist die Amygdala, auch als Belohnungszentrum bekannt. Sie besteht aus Nervenzellen, Neuronen. Findet etwas eine positive Bewertung schütter die Amygdala Glückshormone wie Dopamin, Oxytocin, Endoprhine oder Serotonin aus. Spiegelneuronen sorgen für die Mitfreude oder Mitfeiern, genauso aber auch für Mitgefühl oder Anteilnahme an Trauer. Allerdings ist immer ein Netzwerk von Nervenzellen und damit Verknüpfung einzelner Neuronen am Werk, bis wir Freude oder Schmerz empfinden. Auch hier sind wir uns nur eines Teilbereichs bewusst wie Lichter in der Nacht.

Foto Belinda Helmert, Götterfunken über Nienburg

Schwerelos

Freude, schöner Götterfunken (Schiller) … macht uns schwerelos. Sie ist mit Leichtigkeit verknüpft, mit abheben, schweben. Beethoven schrieb seine neunte Symphonie, von vielen wird ihr vierter Satz nur Ode an die Freude genannt, als er bereits taub war. Schillers letzte ( posthum veröffentlichte) Fassung endet mit Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Die Wurzeln von Schillers „Ode an die Freude“ lagen in seinen ersten Dichterjahren, die er nachträglich als missglückt empfand. Das Pathos der Freude schien ihm unvereinbar mit den Idealen der)Weimarer) Klassik. Er konnte sich daher über die Freude und ihren Erfolg nicht freuen. Völlig losgelöst von der Erde tönte es einst aus den Boxen. Am Ende stand Einsamkeit.

Rilke schrieb einmal Glück dem Schicksal und Freude als Selbstbestimmung dem Menschen zu. Er sprach von „Freude als gute Jahrezeit über dem Herzen“ . Konfuzius hingegen unterschied nützliche Freuden, die das soziale Gefüge stärken von nutzlosen, die nur schlechten Egoismus fördern. Feste beasaßen in der Antike ohnhein religiöse Ursprünge und stets dem Zusammensein dienliche Aufgaben. Es hat als kollektives Brauchtum foglich Verbindung zm Heiligen. Feste heben die Menschen für eine begrenzte Zeit in eine andere Dimension ihres Daseins, war seit jeher mit Musik und Tanz verbunden. Historische Lichterfeste sind im jüdischen, hinduistischen, christlichen, perischen und chinesischen Kalender fest verankert. Ein Volksfest hat etwas Archaisches.

Wilhelm Raabe wiederum nennt in seinem Roman „Der Hungerpastor“ Freude den besten Arzt. Weil freudlos niemand auf Dauer sein kann oder will. Und so schufen auf dem Rad des Lebens Kinder aus ein wenig Drehkraft den Vorläufer des heutigen Reisenrades, dessen Urspung man auf dem Balkan vermutet. Alks wheel of fortune eroberte es bei der Weltausstellung 1893 von England aus den Kontinent.

Foto Belinda Helmert: Auf dem Altstadtfest traten über vier Tage 60 Bands an vier verschiedenen Bühnen auf.

Panem et circenses

Das Autoscooter gibt es in Deutschland seit den Zwanziger Jahren – seine Geburtsstunde erlebte es auf der Düsseldorfer Messe. Damals hießen die Feste meist noch Rummelplatz. Brot und Spiele sollten das Volk für schlimme Entbehrungen entschädigen, so wussten es schon die Römer. Auch hier durfte laute Musik, Fanfare, nicht fehlen. Ganze Arenen wurden geflutet, um spektakuläre Seeschlachten (naumachia) nachzustellen. Dabei wurden den Sklaven oder Sträflingen Ketten angelegt.

Foto Belinda Helmert: Nienburger Altstadtfest. Es findet historisch zur Tagundnachtgleiche statt: die sonne geht präzise im Osten auf und im Westen unter. In Anatolien war der Spetember der erste Monat des Jahres.

Vielleicht ist es die Verletzlichkeit, die wir mit ausgelassener Freude und Enthemmung zu vermeiden suchen. Denn niemals ist der Mensch verletzlicher, als wenn er liebt und was könnte intimer, weniger öffentlich sein, als die nach innen gekehrte Freude.

Foto Belinda Helmert, Nienburger Altstadtfest. Lebkuchenherzen – eine über hundertjährige Tradition.

Empfohlene Beiträge

Noch kein Kommentar, Füge deine Stimme unten hinzu!


Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert