Foto Belinda Helmert, Firma Kellogs schließt seineTore in der Übrseestadt Bremen, Walle
Was war
Die Chronik der inzwischen aufgelösten Zusammenarbeit (ausführlich: https://www.kelloggs.de/de_DE/who-we-are/our-locations.html/) zwischen dem Unternehmen und der Hansestadt liest sich wie ein Satz vom ehemaligen französischen Kulturminister und Schriftsteller André Malraux: „Mit Politik kann man nicht flirten, man muss sie heiraten.“ Offenbar hat Bremen seinen Brautwert eingebüßt. Jetzt steht ein gewaltiges Areal in exponierter Lage leer. Die primäre Immobilienmakler-Wesiheit zur Werterimmitlung lautet: Lage, Lage, Lage.
Die Phase des Flirtens beginnt mit der Zeitschrift Die Gartenlaube, in der unter anderem Theodor Fontanes „Unterm Birnbaum“ und Wilhelm Raabes „Unruhige Gäste“ (beide 1885) ersten Abdruck fanden. Die Beziehung zwischen Kelloggs und Bremen beruht auf die Anzeige eines Hamburger Unternehmens. Doch Bremen, um die Jahrhundertwende nicht so weit von den Großen dieser Welt entfernt, genauer die Reismühle Rickmers Werft, macht das Rennen und importiert die Flocken nun exklusiv nach Europa. Das Überseegeschäft beginnt, Bremen ist ein Begriff an der Wall street. Auch wegen der vielen Emigranten, die über Bremen und Bremerhaven ausgeschifft werden. Wir schicken Menschen, Amerika liefert Waren: eine win win Situation.
Der amerikanische Konzern, heute in zwanzig Ländern präsent, wurde während des Jugendstils um die Jahrhundertwende im Autostaat Michigan gegründet, genauer in Battle Creek (Deutsch: Schlacht am Fluss) gegründet. Es ist das Jahr, in das auch Hermann Hesses „Unterm Rad“ und „Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ fallen (ausführlich: https://de.wikipedia.org/wiki/Literaturjahr_1906).
Hesse schreibt: „Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches.“ Man muss ihm also eine Richtung (vor)geben. In dieser Zeit erscheinen nicht nur in der Poesie zahlreiche Werke, die um die Themen Selbstfindung und Erwachsenwerden kreisen und naturgemäß Sinnfragen stellen.
Was ist
Auch Amerika sucht sich zu positionieren und unternimmt seine ersten Gehversuche, eine Weltmacht zu werden, die sie seit dem Ersten Weltkrieg definitiv ist. Noch aber gibt Europa den Takt vor und Deutschland ist eine gute Adresse. Bremen ist tatsächlich eine führende Handelsstadt. Es macht Sinn, mit seinem guten Namen Vertrauen zu gewinnen auf dem alten Kontinent.
Wie (fast) immer steht der Zufall einer Entdeckung mit großer Wirkung Pate. Der asketisch lebende Arzt John Harvey Kellogg will seine Kinder vom Fleischkonsum abbringen und Getreide schmackhafter machen. Es sind nicht seine leiblichen, sondern 40 (vierzig) adoptiere Waisenkinder, die er zu Getreidekonsumenten erzieht. Er führt ein eigenes Sanatorium, das Health Institute. Einer der Hauptgründe für viele Zivilisationskrankheiten liegt seiner Meinung nach im zu hohen Fleischkonsum (ausführlich: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Harvey_Kellogg). Zwei Zufälle, die Entdeckung von Glutamat und seine Leidenschaft für vegane Ernährung führten dazu, dass anstelle ham and egg Conflakes auf den Tisch kommen. Zufällig ist sein Bruder Industrieller, die Familie reich und bald noch reicher.
Bremen verbindet noch vor dem Rheinland als der erste Ort alle drei Verkehrswege in seinem Hafengebiet. Große Schiffe sind stellen noch das wichtigste Transportmittel dar. Die Weser wird ausgegraben und vertieft, damit große Schiffe Platz haben. Logischer Schritt: die zweitgrößte Hansestadt und nicht das dreimal so große Hamburg wird dank seiner vortrefflichen Hafen- und Schienenlage der logistische Exklusivpartner für den Import von Kelloggs in Europa. Ab 1962 errichtet der Konzern sogar ein eigenes Produktionszentrum, fusioniert (eigentlich kauft) den ehemaligen Partner Reis- und Handels GmbH und schafft über 200 Arbeitsplätze in Bremen. So wenige wegen der vielen Maschinen, dafür aber gut bezahlte und ungefährliche. Die Reputation allein zählt.
Kelloggs expandiert, unter anderem erwirbt der Mutterkonzern das Gelände der Krupp AG, da die Werften und der Schiffsbau seit den siebziger Jahren kontinuierlich kriseln und dem Konkurrenzdruck aus Asien, später auch Polen nicht mehr standhalten. Man investiert viel in die räumlich sichtbare Infrastruktur: eigener Gleisanschluss, eigene Brauchwasseraufbereitung, eigener Güterbahnhof. Allein 2004 sind es über 20 Millionen Dollar, was einem Gegenwert von 18,5 Mio Euro entspricht. Wieviel Portionen Flocken müssen dafür Ei und Schinken ersetzen? Wieiviel Steuern degressiv abgeschrieben werden? Welche Subvention erhält Kelloggs, damit es in Bremen bleibt und nicht den Standort wechselt? „Die Mathematik ist eine ganze Welt für sich und man muß reichlich lange in ihr gelebt haben, um alles zu fühlen, was in ihr notwendig ist.“ (Aus Robert Musils Törless-Roman).
Umso überraschender für Außenstehende – und dazu gehörten wohl auch die Bremer Politiker – kommt das Aus. Noch 2010 hat die Kelloggs-Leitung das skandinavische Zentrum mit Bremen zusammengelegt und damit die Hansestadt aufgewertet. An einen Rückzug glaubt niemand. Doch längst ist der Hafen zu klein und der Naturschutz mit seinen Auflagen zu streng geworden. Durch Aufkäufe der Konkurrenz wie Procter & Gamble wächst der Flocken-Riese inzwischen zur Nummer zwei weltweit in der Getreideproduktion. Quasi das Pepsi von Cola.
Geschichte wiederholt sich. Manchmal läuft sie in die entgegengesetzte Richtung. Hat Bremen Hamburg zu Beginn des Jahrhunderts manchmal noch wie im Fall des Konzerns abgehängt und den Fisch Kelloggs an Land gezogen, mit Exklusivrechten geködert, so wendet sich der Fisch nun an die Elbe und schwimmt seit 2016 dort herum. Es ist auch die Geschichte von Ehemann und Geliebten – letztere ist einfach mehr sexy.
Kelloggs hat sich inzwischen nach Spanien und nach Hamburg verabschiedet. Alle Versuche, das schmackhafte Aushängeschild im Bremer Überseehafen zu halten, blieben vergebens. (Ausführlich: https://www.kreiszeitung.de/lokales/bremen/kelloggs-verlagert-deutschland-zentrale-bremen-nach-hamburg-3799295.html)
Was wird
Was nun wird, wissen die Architekten aus Berlin am besten. Und natürlich der Windparkbetreiber, der das Gelände gekauft hat (ausführlich: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/politik/kellog-areal-verkauft100.html). Der neue Eigentümer heißt Wpd AG, ein Unternehmen mit 2200 Mitarbeitern und Sitz in Bremen, das vor allem im offshore Bereich in Bremerhaven Windmaschinen produziert und selbstredend nicht nur sich, sondern die neu entstehenden Gebäude im Überseehafen Bremen nun mit Energie versorgt. Und dabei Kritikern den Wind aus den Segeln nimmt, denn nach hartem Feilschen hat die Stadt Bremen nicht viel für ihr Grundstück bekommen, so viel ist sicher.
Auf dem Areal des im Umbruch befindlichen Stephaniequartiers entstehen bereits Wohnungen, öffentliche Einrichtungen wie etwa eine Grundschule, ein Selbst-Bierbrauerei und Gewerbeflächen, hauptsächlich Gastronomie. 2030 soll soll die neue Stadtfläche auf der Überseeinsel abgeschlossen sein. Vieles davon ist schon zu sehen: so innovativ, wie verkündet, wirkt es nicht. Das Motto lautet: Vielseitigkeit unter einem Dach. Drei Architekturfirmen mit Sitz in Berlin und Frankfurt gestalten drei Areale, insgesamt fast 20 Hektar. Zum Vergleich: Coca Cola (many bodys, one mind) hatte 43 000m² in Hemelingen, die nun in ein neues Stadtquartier transformiert werden (sollen).
Das architektonische Zitat, so nennt man das, ist natürlich Kelloggs. Die markante Gebäudehülle wird bleiben, das Innenleben muss weichen. Urban und nachhaltig soll alles werden, modern und trotzdem bürgernah; eine Einheit mit der Innenstadt und dennoch auch eine Insel. Die „Verwirrungen des Zöglings Törless“ beginnen damit, als er nicht versteht, wie es negative Zahlen geben kann und Unendlichkeit errechnet werden soll. Die schicksalhafte Veränderung von Hans setzt ein, als er bemerkt, dass Wissen und der Beste zu sein ihn nicht erfüllen und Glück nicht zu lernen ist, weil es nicht in Zahlen aufgeht.
Es gibt einen Trend, eine Art Negativspirale. Nach Coca Cola, Kellogg’s und Könecke nun also Hachez: vier sind es inzwischen, die der Biss verloren haben, sich in Bremen durchzubeißen. Oder invers: Weshalb kann Bremen die Lebensmittelindustrie nicht (mehr) vom Standortfaktor Hansestadt überzeugen? Provokant: Ist Bremen zu provinziell, kann es nicht weltstädtisch? Als Begründung für seinen Weggang gibt der Konzern an, dass die Bremer Fabrik im Vergleich zu den anderen Standorten am wenigsten ausgelastet sei. Außerdem fehle es an Synergien. Gemeint ist das fehlende Image, dass Bremen mit Erfolg und Globalität assoziieren soll oder schlicht die Ausstrahlung, das Flair und Charisma. Die Braut Bremen wirkt bieder. Kelloggs ist smart. Wenn alle gehen, will man nicht der letzte sein, der die Tür schließt.
Ghost city
Golden City heißt das Stadtquartier um Kelloggs in den Bremer Hochglanzbroschüren. Das hiesige sobenannte Theater ist schon lange vom Konkurs bedroht.Eine Geisterkulisse mit Schildern auf Bauprojekte droht. In den Neunzigern lief in den Produktionshallen alles vom vollautomatisierten Band und wie am Schnürchen. Die Welt hat sich inzwischen garvierend verändert. Wer den Anschluss verträumt, erwacht als Nachzügler. Vielleicht glauben Optimisten einfach zu lange, dass es genügt, daran zu glauben, dass alles gut wird, damit es auch eintritt. Derzeit stocken die Bauvorhaben in der city Bremens, sie droht zur Geisterstadt auszuwachsen. Investoren mit Fantasie und Hang zu Visionen begegnet man lächelnd mit Auflagen und Denkmalschutz, mit der Welt von Gestern, die einzig wahre Ware, wie es scheint. Um es mit Musil aus dem Törless-Roman zu formulieren: „Es gibt immer einen Punkt dabei, wo man nicht mehr weiß, ob man lügt oder ob das, was man erfunden hat, wahrer ist als man selber.“
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