Joseph Roth: vor, mit und gegen Stefan Zweig

Foto Belinda Helmert, Keramikmarkt Oldenburg

Auf leisen Sohlen mit lauter Stimme….

Foto: Belinda Helmert: Oldenburger Keramikmarkt 2022, Katze

Der Anfang (1927-33)

Es gab ein Leben vor derlegendären Freundschaft von Stefan Zweig und Joseph Roth- die Zeit vor 1927. S. Zweig trat, da ihn das Schicksal begünstigt, häufig als stiller Mäzen anderer, ökonomisch benachteiligter und vermeintlich talentierterer Schriftsteller (unter ihnen Joseph Roth, Ernst Weiß und Paul Zech) auf; uneigennützig trug er zu deren Ruhm und finanziellem Überleben bei. Zweig war stets freigiebig und neidlos, betont auch Franz Werfel in seinem Nekrolog, »wo ihm ein großes Talent begegnete, nahm er sich seiner mit seltenem Fanatismus an.“

(Franz Werfel,»Leben heißt sich mitteilen«, Stefan Zweig, S. 400-408. Werfel hält den Nekrolog für Zweig; Zweig den für Roth.)

Zweig und Roth, beide frühzeitig nach dem Ersten Weltkrieg journalistisch für die Sache der Weimarer Republik (zeitweise auch in Berlin mit ihren symbolischeh Hinterhöfen) tätig, schreiben sich seit 1927 regelmäßig Briefe; zudem rezensiert Zweig auch alle Romane des 14 Jahre jüngeren »Chronisten eines untergehenden Jahrhunderts«.

Journalismus: engagiert gegen rechts

Foto Belinda Helmert:Oldenburg, Innenstadt, Hinterhof, Wohnungsausstatter Innenleben Lampe

Beide Autoren sind frühzeitig arriviert; Roth zunächst als Journalist, u.a. für die FZ. Zweig wird bereits Anfang der zwanziger Jahre in Wien auf durch seine Lektüre der FZ auf deren talentierten Auslandskorrespondenten aufmerksam. Beide lieben es, in fremde Kulturen einzutauchen, sprechen sechs Sprachen.

»Damals fiel uns der neue Name Joseph Roth zum ersten Mal auf – alle spürten wir hinter dieser blendenden Technik seiner Darstellung einen immer und überall mitfühlenden Sinn, der nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere und Innerste eines Menschen zu durchseelen verstand.

(Zweig, »Zeiten und Schicksale«, Nekrolog auf Joseph Roth, 1939, S. 329)

Foto Belind Helmert, Oldenburg, Innenstadt, Salon 7, ehemaliger Friseursalon, heute Café

Der erste Briefwechsel ist 1927 datiert. Der frisch verheiratete Roth ist gerade nach Berlin gezogen, Zweig lebt seit einigen Jahren auf dem Kapuzinerberg in Salzburg, reist aber ebenso leidenschaftlich und viel wie Roth – diesen zieht es jedoch auch nach Osten, auf Spurensuche seiner chassidischen Wurzeln in Galizien; Zweig zeiht es eher nach Nord- und Südmaerika. Überzeugte Europäer, Pazifisten und Demokraten sind beide. Die Gefahr von Rechts in der instabilen Republiken Österreichs und Deutschlands ist beiden bewusst. Der Umgang jedoch unterschiedlich: Zweig beschwichtigt diplomatisch, Roth legt unversöhnlich den Finger in die Wunde.

Was beide so unterschiedliche Schriftsteller lebenslang verbindet ist ein potenziertes Gefühl der Schuld und eigener Minderwertigkeit. Stets ist jedoch Roth für Zweig der »wahre Poet«, das »begnadetste Talent seiner Zeit«. Sein tiefes Mitgefühl geht auch aus seinen Rezensionen hervor.

»Von vielleicht zwei Millionen seiner Altersklasse hat die Hälfte der Krieg umgelegt, die meisten anderen der Zurückgekehrten haben sich allmählich zurechtgefunden, eingekapselt in einem Beruf, angeklammert rechts oder links an eine Partei, an eine Weltanschauung. Aber einige … wahrscheinlich die Zartesten, die Verwundbarsten, die Wertvollsten, haben es heute nach einem Jahrzehnt noch immer nicht über sich gebracht, kopfüber mit geschlossenen Augen sich in irgend eine Strömung zu stürzen und mit ihr zu schwimmen … sie sind redlich geblieben

Redlichkeit

(Zweig, »Begegnungen mit Büchern«, Rechts vor Links, 1929, S. 103-108.)

Die erste Rezension, die Zweig über den verehrten Roth schreibt und die den Beginn einer Freundschaft spielt, gilt jenem zeitgemäß überaus erfolgreichen Roman, der am Beispiel zweier konträrer Brüder den Riss in der Gesellschaft, die Spaltung in rechts und links aufzeigt. Der zweite Untergang ihrer Generation zeichnet sich ab – nach dem verlorenen ersten Weltkrieg droht die Diktatur und eine zweite Apokalypse.

Politischer Konsens

Die Verbindung verläuft emotional. So verschiebt Zweig die Ausschiffung nach Brasilien, als der vom Tod Roths am 27. Mai 1939 erfährt und verfasst seinen Nekrolog, worin er den Verstorbenen als einen »ewigen Karamasow« und »gerechtigkeitsfanatischen Menschen« bezeichnet, in dem sich »Schuld und Verhängnis«, jüdische Vergangenheit und Zukunft des Europäers vereinen. Zweigs »Ansprache zur Trauerfeier« berührt, doch sie lässt die eigene Resignation noch nicht erkennen, denn sie endet mit dem Gedanken, »unsere Aufgabe bis an das bittere Ende« gegen »das böse Prinzip« weiterzuführen. Das bittere Ende ist näher, als er glaubt.

(Zitate aus S. Zweig, „Die Welt von Gestern“.) Auch in seinen Memoiren über die goldenen Zwanziger Jahre findet Roth mehrfache Erwähnung.

Mäzenat ab 1933

In den dreißiger Jahren ist Zweig in vielerlei Hinsicht Roths Mäzen und väterlicher Freund; er unterstützt den Heimatlosen finanziell, bewahrt ihn durch seine Publikationen vor der Vergessenheit und stiftet neue Kontakte zu Verlegern (Allert de Lange und Querido) im Exil. Als moralische Instanz warnt er Roth vor den Folgen seiner exzessiven Alkoholabhängigkeit. Menschlich erscheint Zweig als der ausgeglichenere von beiden. Spätestens 1933 gerät die Situation in eine Schieflage: für Roth beginnt ein dramatischer, bald auch sichtbarer Absturz, Zweig kann sich aufgrund seines Hintergrundes und finanzieller Unabhängigkeit mondän bewegen.

Foto: Belinda Helmert, Oldenburg, Schlossplatz internationaler, Keramikmarkt

Seiner Heimat und Träume beraubt, fühlt sich der »ewige Jude« Roth (chassidische Wurzeln in Galizien) verraten vom Schicksal der Geschichte, die er eine »Kultur des Unbehagens« nennt und bleibt in seiner Verweigerung der Modernen, dem 20. Jahrhundert seltsam fremd. Früh(er) als Zweig wird er sich der metaphysischen Obdachlosigkeit bewusst, von der es keine Rettung gibt. So bringt seine journalistische Reisereportage „Juden auf Wanderschaft“ (1925) über das orthodoxe Judentum Zweig die eigenen, fernen Wurzeln erst nahe.

Nostalgisch-restaurativ entwickelt Roth darin seinen episch-dokumentarischen Stil, ein »literarisches Requiem«, jene, an eine Liturgie erinnernde Tonart, die einfühlsam zwischen sachlicher Beschreibung und sentimentaler Mystik moduliert. Roth, der spätestens mit „Hiob“ (1930) dem Sozialismus abgeschworen hat, schwankt zwischen chassidischer und katholischer Religion.

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(https://www.nwzonline.de/oldenburg/kultur/lichtkreuz-zieht-in-lamberti-ein_a_1,0,636154982.html

Zweig erkennt frühzeitig das Genie in Roth, der zu Lebzeiten hauptsächlich als Journalist reüssiert, dessen Romane jedoch international lange nahezu unbeachtet bleiben, nach 33 auch, weil sie zum großen Teil dem deutschsprachigen Publikum gezielt vorenthalten werden.

Der Wahl-Salzburger (bis 1934) bewundert nicht nur den zwischen Sachlichkeit, Pointe und Legende oszillierenden Erzählstil, sondern auch die Konsequenz in Roths sozialer und später nostalgisch-restaurativer Haltung, die immer dem Humanitären gilt.

Nicht selten, wie in „Tarabas“ arbeitet Roth mit Symbolen aus der Liturgie, in der sich Christentum und Judentum begegnen wie Altes und Neues Testament. Über Tarabas, der aus seiner Heimatlosigkeit in den Krieg flüchtet, um dort Ersatz zu finden, heißt es über die Seelenspaltung in zwei Tarabasse:

Er mußte, so schien ihm, den anderen Tarabas erwarten. Er wird wahrscheinlich nicht mehr kommen, dachte Tarabas, er hat genug von mir. Und er schlief ein, über dem Tisch, den Kopf in den gekreuzten Armen.“

(Joseph Roth, Sämtl. Werke, V, Tarabas, Buch II, Kap. 18, S. 578)

Drei Phasen Roths: Der rote Joseph

Zum Beginn seiner literarischen Karriere hat Roth noch sozialistische Ideale und brandmarkt vor allem den Faschismus. In Reaktion auf Hitlers Putschversuch entsteht in Roths »Das Spinnennetz« 1923 die erste politische Parabel innerhalb des Asphaltromans zum aufkommenden Faschismus. Die Phase des „roten Joseph“, die ihn in die Nähe von „Die Weltbühne“ und damit Tucholsky und Kästner rückt, endet mit „Der stumme Prophet.“ Zweig redigiert bereits „Rechts und Links“, ein seinerzeit überaus populärer Roman, der zwei Brüder porträtiert, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Generell zeigt Roth den Verlust der Mitte, die Bildung von Lager und die Spaltung der Gesellschaft in Extremisten auf.

Übergang von der Neuen Sachlichkeit zur Legendenbildung

Die zweite Phase Roths fällt etwa mit der aktiven Freundschaft zu Zweig zusammen. Nach dem Frühwerk, das entweder die Gefahren von Rechts oder Links-Extremismus, den Verlust der Heimat, die Orientierungslosigkeit, Nomadismus, bitterer Armut und innere Zerrissenheit (Hotel Savoy, Die Flucht ohne Ende, Der stumme Prophet, Rechts und Links) schildert, wendet sich Roth mehr und mehr dem jüdischen Thema zu. Am deutlichsten spiegelt sich dies in „Hiob“ (1930), „Tarabas“ (1933) und „Der Leviathan“ (1938) wieder: mit dem neuen Schwerpunkt wendet sich Roth von seinem anfänglichen Chronismus der Neuen Sachlichkeit und Gegenwartsroman ab und einem legendären, mytho-poetischen sprachstil zu, der Anklänge an das orientalische Narrativ sucht. In den Fokus rücken Zweifel und Wiederbelebung des Glaubens.

Der Briefverkehr zwischen den zwei Literaten verrät Gemeinsamkeiten in ihrer sozialliberalen und europäischen Gesinnung, aber auch den konträren Umgang mit den geschichtlichen Ereignissen und Bedeutung des Judentums. Zweig versucht es lange auf dem diplomatischen Weg, glaubt an die Vernunft, hofft auf Rettung vor dem drohenden Untergang und spannt ein weites Netz an Beziehungen. Zudem hält er es für ratsam, sich als Jude öffentlich weitgehend bedeckt zu halten. An Rolland schreibt er 32:

Die Politik ekelt mich überall; ich bin der Dummheit überdrüssig. Überall sehe ich, daß der Bürokrat, die Bürokratie, die Methode über den Geist triumphiert. Der Individualismus erscheint überall als Feind, wir gehen zu Superlativen des Herdentriebs über.“

Zweigs moderate Töne -Roths Kompromisslosigkeit nach 1933

Zweig fällt es zum Ärger Roths schwer, von alten Weggenossen wie seinem Verleger Kiepenheuer zu lassen, der mit dem Strom schwimmt wie manch anderer Kollege auch. Während Roth die Verleger, auch Juden als Denunzianten beschimpft, sollen sich laut Zweig andere Arrivierte ohne jüdischem Hintergrund sich weiter vorwagen. So schreibt er an Felix Saiten am 7. 5. 1933: „Die anderen müssen jetzt unsere Sache in die Hand nehmen.“

Roth droht damit, ihm die Freundschaft zu kündigen, was allerdings seinem Alkoholismus zuzuschreiben ist. Seine Entwurzelung, begleitet von der Erkrankung seiner Frau an Schizophrenie und dauerhafter aufwendiger Pflege, münden in der bizarre Hoffnung auf einer Re-Inthronisierung der Habsburger. Zweig setzt auf die Fortsetzung der Demokratie und Lehren, welche die Weimarer Republik zu ziehen hätte – Roth ist bereits 1930 von der Werdung des Anti-Christen und einem zweiten Weltkrieg überzeugt. Er ist damit gleichzeitig radikaler und entschlossener in seiner Kritik, andererseits retroperspektiver und damit auch konservativer in seiner Utopie als Zweig.

Jüdische Frage

Roths Reisen durch ganz Europa öffnen auch Zweigs Horizont für Weltgeschichte. Roth erkennt jedoch bereits am gespaltenen Judentum die Schwierigkeit des kulturellen Zusammenwachsens Europas. Der »Wanderer ohne Heimat« sieht daher in der Restauration der k. u. k. Monarchie die einzige Lösung. Seine Romanfiguren

»suchen ihre seelische Heimat in Deutschland und finden sie nicht. Sie fahren nach Frankreich, nach Russland, alle Länder durchstreifen sie, an alle Klassen, Sitten und Parteien versuchen nach Russland, alle Länder durchstreifen sie, an alle Klassen, Sitten und Parteien versuchen sie sich anzugliedern, aber immer vergeblich … und dieses Suchen von vielen Einzelnen, dieses unzählige Versuchen macht sie im tiefsten Sinne zeitbruderhaft.«

( Zweig, »Begegnungen mit Büchern«, Hiob, 1930, S. 109 – 114.)

Foto Belinda Helmert: Oldenburg, Schlosspatz, Int.ernationaler Keramikmarkt 2022

Zweig vergleicht Roth, mit Flaubert hinsichtlich der melancholischen Kunst der Desillusionierung und der präzisen Beobachtungsgabe für das Detail. Er stelle die Verworrenheit seiner Zeit mit äußerster Klarheit dar, erkennte das »Triebwerk der Gesellschaftsmaschine« und bleibt dabei einfühlsam. Er deutet Roths Arbeit auch als Enthüllungsjournalismus (heute invesitgative Reportage) über das Narrenschiff, mit dem die deutsch-österreichische Politik durch die Geschichte steuert.

Foto: Belinda Helmert: Oldenburg, Schlosspatz, Internationaler Keramikmarkt 2022

Auseinander tretende Perspektiven

Zweig bleibt lange Optimist und glaubt, selbst noch nach der traumatischen Durchsuchung der Gestpo auf seiner Wohnung dem Paschinger Schlössl am Salzburger Kapuzinerberg ( 18. Februar 1934) an die Verhinderung eines Anschlusses an Öserreich. Roth wirft ih dies als Naivität vor. Von der Unrettbarkeit des taumelnden alten Kontinents ist er noch nicht restlos überzeugt. Allerdings flieht er ins englische Exil und beginnt eine Riehe historischer Monografien, die gleichfalls das Schicksal von Emigrierten berührt wie Erasmus von Rotterdam. Bei beiden Autoren, jedoch unterschiedlich, tritt eine »unbezahlbare Schuld« in den Mittelpunkt ihres Werks. Zweig, weil es ihm als Privilegierten so gut geht, während Kollegen von ihm nach der Bücherverbrennung mittllos sind (erwähnt seien hier nur Toller, Musil) , verhaftet und deportiert werden (Ossietzky) oder Selbstmord begehen (Benjamin, Tucholski) – er leidet an der Schuld des Überlebens. Roth hingegen geht auch am Schicksal seiner an Schizophrenie erkrankten, am Ende dem Euthanasieprogramm zum Opfer fallenden Ehefrau zugrunde. Er fühlt sich schuldig am Verlauf ihrer Erkankung.

Erstmals mit dem „Radetzkymarsch“ tritt Roth die Flucht zurück in eine Dystopie der untergehenden k. u. k. Monarchie an. Diese ist auch, u.a. in „Die Büste des Kaisers“ Thema, doch nun wird sie zum Sinnbild einer verlorenen Identität, die mehr ist als das Schicksal von Kriegsverlierern und Obdachlosen. Gerade unter den Privilegierten setzt ein Heimweh nach vertrauten Werten ein. Roths Reichs-Gedanke läuft auf die Restauration der Monarchie hinaus.

Zweig ist ein moderner Europäer, der ein Reisen ohne Pässe in demokratische geführten Ländern ohne nationale Sonderinteressen befürwortet. Sein Individualismus bleibt der psychoanalytischen Schule Freuds verbunden; Roth hingegen hält weniger von unbewussten Mechanismen und erklärt die Welt mit Schopenhauers Grundtrieben, die auch einen Willen zum Untergang (kollektiver Suizid) inkludieren.

Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen und alles was unterging brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen. Die Damaligen lebten von Erinnerungen, die heutigen, um zu vergessen.

(Joseph Roth, Radetzkymarsch)

Foto: Belinda Helmert, Karneval in Bremen, Aktion Blaumeier, Wallanlagen

»Die Ordnung aller Dinge schien geschützt und gestützt zu sein durch ein System von tausend Sicherungen.«

(Franz Werfel, »Leben heißt sich mitteilen«, Stefan Zweigs Tod, S. 404).

Das Ende

Unrettbarkeit vor dem Untergang

Heute verbindet der Leser Roth zuerst mit dem »Radetzkymarsch« und »Hiob«. Sein zeitlebens erfolgreichster Roman ist jedoch »Rechts und Links« (1929). Dieser setzt unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise und dem damit verbundenen ökonomischen Zusammenbruch Europas ein, die Roth für den politischen Rechtsruck verantwortlich macht. Er schildert das letzte Aufbäumen vor dem Kollaps, die Spaltung der Gesellschaft in eine radikale, vom Sozialismus begeisterte Jugend und die Verbitterung der Alten, die dem verlorenen Krieg nur mit rechtspopulistischen Denken begegnen können. Roth begreift, dass Österreich unrettbar verloren und sein Anschluss an ein großes Deutschland unvermeidlich ist. Zweig hält den Roman für prophetisch, gerade weil er das Kollektivschicksal der Deutschen aufzeigt.Gleicher-maßen inkludiert er Roths eigenen Untergang, den taumelnden Kontinent.

Joseph Roth ist da um vieles hellsichtiger, dieser schreibt ihm im April 1933:

„Unsere Bücher sind im Dritten Reich unmöglich. Nicht einmal inserieren wird man uns. Auch nicht im Buchhändler-Börsenblatt. Die Buchhändler werden uns ablehnen. Die SA-Sturmtruppen werden die Schaufenster einschlagen.“

Der Mensch ist zerbrechich wie Glas. Bunt und vielfältig durfte er nur im Habsburger Reich sein, das viele Ethnien nahezu gleichberechtigt koexistieren ließ.

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Stefan Zweig enthält sich weiterhin einer eindeutigen Parteinahme gegen den Nationalsozialismus. So betont er in seiner Rede am P.E.N.-Kongress 1937 in Paris – das Treffen ist vom Spanischen Bürgerkrieg und vom Mord an Garcia Lorca (1898 – 1936) durch die spanischen Faschisten überschattet – es müsse „die Unberührbarkeit der dichterischen Aufrichtigkeit unversehrt bestehen bleiben.“ Diese Form des Liberalismus – „vor all dem, was Sie das Elementar-Nationale nennen wollen“ bringt Roth auf die Barrikaden.

Zweig setzt seine finanziellen Mittel und seine Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten setzt er immer wieder ein, um anderen zu helfen. So unterstützt er Joseph Roth und Ernst Weiß mit monatlichen Zahlungen. Eine argentinische Auszeichnung lehnt er dankend ab und bittet statt dessen um Visa für drei Flüchtlinge.

Zweig erweist sich als einfühlsam in die großen Themen seiner Zeit: Weltflucht, Emigration, Resignation, Entfremdung, die »Fatalität des Unabwendbaren« (Roth) und wird zum Anwalt der Stigmatisierten und Ausgegrenzten. Bis zum Triumphzug der Faschisten glaubt der Humanist an eine Wende zum Guten, doch am Ende triumphieren Rohheit, Fanatismus und Totalitarismus. So hat er dem, was Hannah Arendt »die Banalität des Bösen« hieß, nichts mehr entgegenzusetzen.

Tanz auf dem Vulkan

Dem Tanz auf dem Vulkan (Buchtitel Klaus Mann), dem Seiltanz über dem Abgrund, dem taumelnden Kontinent (Buchtitel Philipp Blom), dem Untergang des Abendlandes (Buchtitel Oswald Spengler) folgt die Apokalypse, die Zweig kommentiert:

»Im Politischen findet jede Parole am leichtesten Anhang, die statt eines Ideals eine Gegnerschaft proklamiert, einen bequem fassbaren, handlichen Gegensatz, der gegen eine andere Klasse, eine andere Rasse, eine andere Religion sich wendet.«

(Zweig, »Erasmus von Rotterdam. Sendung und Lebenssinn«, Blick in die Zeit S. 47).

Zweig nennt Erasmus das Auge des Wissens. Doch wie er zieht er sich zurück. Nicht immer sind Intellektuelle für den Kampf geboren, für den aktiven Widerstand. Haltung und Würde im Angesicht von Terror, Denunziation und Polemik zeig(t)en sie dennoch.

Foto Belinda Helmert: Oldenburger Innenstadt, Am Markt, Beleuchtungs- und Kunstkörper

Bis heute hat seine Aussage nicht an Aktualität verloren. Gesichter ändern sich, Systeme bleiben die gleichen. Zweig stehen mit Schnitzler, Werfel und Roth drei melancholische Stimmen der todgeweihten k. u. k. Monarchie nahe.

Roth säuft sich bis 1939 zu Tode – wie zahlreiche seiner Protagonisten zuvor. Andere suchen auf diversen Wegen den Freitod, ergeben sich dem Unrettbaren als Schicksal. Der humanistische Feingeist Zweig folgt 1942 und hinterlässt einen Abschiedsbrief. Dennoch nimmt er das Geheimnis des Doppelselbstmordes mit ins Grab

Hat seines Herzens letzte Regung Angst, Verbitterung oder Hoffnung und Erleich-terung empfunden?Hat er sich am Ende als Verräter an jenen gesehen, die schon vor ihm seinen Weg gegangen sind oder sich wie Joseph Roth in seiner Alkoholsucht schluckweise aus dem Leben stahlen?

Im »Phaidon« lässt uns Platon über Sokrates wissen, ein jeder von uns wählt seinen Dämon als Wegbegleiter in die Unterwelt. Dante kürte Vergil, Kleist die todkranke Henriette Vogel, Roth den Schnaps, Zweig die eigene, um so viel jüngere Frau zum Todesengel. Die Kette der Empedokles-Epigonen ist lang und Zweig nur ein weiteres Glied von ihr. Nicht nur Lemminge wissen, wann es Zeit ist zu gehen.

Foto Belinda Helmert, Oldenburger Keramikmarkt

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