Foto: Belinda Helmert. Passage und Boutique in den Hackeschen Höfen, Berlin, Spandauer Vorstadt. Obschon wir die Realität sehen, ist das Gesehene nicht immer real.
Husserl in Berlin
Es ist nicht bekannt, dass Edmund Husserl nähere Bekanntschaft mit den Hackeschen Höfen schloss. Das Gebiet der heutigen Hackeschen Höfe, nördlich des Alexanderplatzes, befand sich am Ende des 17. Jahrhunderts außerhalb der Stadtmauern. (https://www.berlin.de/sehenswuerdigkeiten/3560128-3558930-hackesche-hoefe.html).
Sie liegen damit im ehemaligen Spandauer Viertel, das nach der Teilung zum Berliner Osten gehörte. In der Spandauer Vorstadt standen 1710 bereits etwa 500 Wohnhäuser. 1859 im Geburtsjahr Husserls (in Mähren, das damals zur k.u. k Monarchie der Habsburger gehörte) wurde das Ensemble in der Oranienburger Straße eingeweiht. Um einen Innenhof gruppierten sich verschiedene Gebäudeteile und ein Turm in der Straßenfront bildete den markanten Höhepunkt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Hackesche_Hoefe). Alsbald gesellten sich Cafés zu denWohnungen, später kamen Ateliers hinzu. Eine Stadt in der Stadt entstand, zeitweise auch mit jüdischer Prägung.
Nach seinem Tod gelangte der gesamte Nachlass (40 000 Manuskriptseiten) des Gründers der Phänomenologie und Lehrer Martin Heideggers 1938vorübergehend nach Berlin in die Nähe Spandaus, wo es bis zu seinem Bestimmungsort Leuven, Belgien (dem Husserl-Archiv) zwischengelagert wurde. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln liefen diese Papiere Gefahr, von den Faschisten verbrannt zu werden.
Gleichwohl mochte Husserl die Höfe und Spandauer Vorstadt aus eigener Anschauung kennen. Immerhin studierte er 1878 – 81 an der heutigen Humboldtuniversität Unter den Linden höhere Mathematik. Dabei lernte er die Aktpsychologie von Franz Brentano kennen und entschloss sich für ein anschließendes Philosophiestudium. (https://de.wikipedia.org/wiki/Aktpsychologie) Ein Akt meint hier einen einzelnen Vorgang im Bewusstsein. Viele Akte ergeben einen Bewusstseinsstrom – ein Begriff, der in der Literaturwissenschaft anders gebraucht wird. Husserl verstand sich nie als Psychologe.
Intentionalismus und eidetische Reduktion
Der wichtigste Begriff seiner und Bretanos Lehre ist die Intention. Darunter ist Vorhabe und gerichtet sein zu verstehen, welche in einzelne Akte zerfallen. Verlgleichbar ist dies einem dunklen Innenhof, von denen uns die Umrisse einzelner Gebäudeteile bekannt sind, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, weil das Ganze von uns nicht zu erfassen ist. Die Wirklichkeit ist da, doch bleibt unwirklich.
Nach seiner Promotion kehrte Husserl nach Berlin zurück und vertiefte sein Studium bei Brentanto, der in Berlin tätig war. Eine freie Stelle entzog ihn abermals der pulsierenden Hauptstadt, die in dieser Gründerzeit erstmals die magische Millionengrenze überschritt und sich nach Wien und Paris zum geistigen Zentrum Europas entwickelte. Keine Stadt auf dem alten Kontinent wuchs annähernd so rasant wie Berlin um die Jahrhundertwende.
Das galt auch für die Hackeschen Höfe. Im beginnenden 20. Jahrhundert avancierte es zum Zentrum der deutschen Jugendstilbewegung, was sich an der Umgestaltung der Höfe bemerkbar machte. Unter Federführung des Architekten August Endell entstand die heutige Fassadenkulisse und Umbau des ersten Hofes an der Rosenthaler Straße. (https://de.wikipedia.org/wiki/August_Endell)
Husserls phänomenaler Intentionalismus fragt primär nach dem Sinn des Lebens und hinerfragt ihn auch. Der Philosoph und Mathematiker sah sich von der Wissenschaft mit ihrem Obejektivitäts- und Absolutheitsanspruch ermüdet und ernüchtert. Ins Zentrum seiner Forschung rückt nach den intentionalen Akten das Eidetische und die Reduktion. Unter Eidektik oder eidos versteht man das Angeschaute bzw. die Anschauung der Form, unter Reduktion das Zurückführen. Im Fall Husserls die Reduktion auf das Wesentliche oder wirklich Wirkliche.
Beides, das Erkennen der Intention bei der Wahrnehmung und ihre Neutralisierung zusammen ergibt die Rückführung des Wesentlichen, die Husserl wirkliche Wirklichkeit auf das Geschaute nennt (in Anlehnung an Kants Ding an sich) . Mit anderen Worten: den Blick richten auf das Wesen des Phänomens, das nicht in der Erscheinung selbst liegt. Wenn wir eine Fassade sehen, erblicken wir bestenfalls die Funktion neben der Oberfläche. Es gibt aber noch eine Wirklichkeit dahinter, die nur die eidetische Reduktion freizulegen vermag.
Vom realen zum idealen Vorbild
Mit dem realen Sozialismus lies sich weder der Prunk noch die Nutzung der Hackeschen Höfe vereinbaren. Bis auf den ersten Hof musste alles einem Funktionalismus von identisch anmutenden Mietwohnungen weichen. Erst nach dem Mauerbau begann die Sanierung und damit die Freischälung dessen, was in der Philosophie Husserls als der Kern des phänomenal Wesentlichen bezeichnet wird. Dazu gehört auch die Interaktion mit der Mit- und der Umwelt. Der tiefere Sinn der Architektur ist Kommunikation. Wenn ich einem Blinden von einer schwarzen Katze erzähle, gebrauche ich zwei Phänomene, die er nicht aus eigener Anschauung kennen kann. Meine für mich konkrete Aussage geht ins Leere.
Husserl spricht von Intersubjektivität – Bauwesen und Design sollen einen Wunsch des Menschen sichtbar machen, zudem Raumwahrnehmung und -Vorstellung visualisieren. Das Innere tritt nach außen, das Unsichtbare, eine Idee, erhält seine Gestalt. Die nach dem Betonplatenbau einsetzende „architektonische Phänomenologie“ mit ihrer Betonung von Architektur als einer menschlichen Erfahrung, die historisch kontingent ist, steht in scharfem Kontrast zum Anti-Historismus der Nachkriegsmoderne. (https://www.hisour.com/de/phenomenology-in-architecture-28264/)
Kopplung von Wahrnehmung, Einstellung, Vorurteil
Laut Husserl ist das Wesen des Wohnens nicht per se architektonisch, so wie das Wesen der Technik für ihn nicht per se technologisch ist. So führt Architektur zur Änderung der Wahrnehmung von Raum und damit auch zur Einstellung, idealerweise auch dem Selbst, dem Leben gegenüber. Das nennt sich in der Welt Husserls epoché. Damit ist Rückführung von komplexen oder abstrakten Systemen auf die Alltagswelt gemeint. Genauer: der Zusammenhang dessen, was sich zeigt mit dem, wie es sich zeigt. In der Architektur spricht man entweder von form follows function oder invers folgt die Funktion der Form. In der Philosophie vom Zusammenhang des Inneren (Einstellung oder Vorstellung) mit dem Äußeren (Wahrnehmung), die sich zu einem Vorurteil von Wirklichen verknüpfen und dabei die wirkliche Wirklichkeit überblenden.
Husserl verwendet sperrige Metaphern, etwa das Zureichen. „Das Zureichen bleibt vielleicht vorgereicht und wird nicht ergriffen.“
(https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/fragmente-edmund-husserls-das-zugereichte-15781474.html)
Was will uns dieser seltsam anmutende Satz mitteilen? Abgesehen davon, dass Husserl zum Selbst- und nicht nur zum Nachdenken auffordert. Vor allem bleibt hier im Jetzt bei der aktuellen Wahrnehmung etwas Fragment, wird nicht ergriffen oder begriffen, was im Ansatz, der Idee nach, bereits greifbar vorhanden ist.
Etwas bleibt verborgen, der Sinn oder auch die Sinnlichkeit, hinter dem, was allzu offensichtlich und dadurch auch transparent ist.Die Kardinalfrage Husserls lautet: Was erkennen wir, wenn wir etwas erkennen ? Die Antwort lautet: uns selbst. Kopfkino ist die Folge.
Im Zeitalter unbegrenzten Reisens, wenn nicht vital, so virtuell und digital, erscheint die Frage zentral: wo sind wir und wo erkennen wir?
Mehr und mehr substituiert Sicherheit das ursprüngliche und umfassendere Vertrautsein. Sicher fühlen wir uns in der Bestätigung dessen, was wir bereits wissen. Bestätigung stärkt nur Sicherheit, aber nicht Gewissheit über die Sache selbst. Jedes Urteil richtet sich (intentional) auf das spezifische persönliche Horizontbewusstsein. Je nach den subjektiven Zwecken wird die Sache zum Gebrauch, sie wird versachlicht oder verdinglicht und damit intentionalisiert. Die Folge ist dramatisch: Gewissheit ist mächtier als Gewissen – Ästhetik zwingender als Ethik.
Husserls Phänomenologie geht davon aus, dass komplexe Wahrheiten aus einfacheren aufgebaut sind, wie eine Komposition mit ihrer Melodie aus einfachen Tönen. Diese benötigen Haltepunkte, damit man sich an sie erinnert und diese werden hinzugefügt, so dass entweder eine Wiederholung oder eine Harmonie entsteht. Diese bildet stets das Amalgam aus Erinnerung und Erwartung, Retention und Protention.
Retention bedeutet Rückgriff, Protention Vorausgriff – beides schwingt in der Wahrnehmung dessen mit, was gerade aktuell erlebt wird. Das Wahrgenommene ist eigentlich das für Wahr Gehaltene oder für Wahr Begriffene. Die Vorstellung wird zur ständigen Begleiterin unserer Erkenntnis, ebenso wie die Erwartung. Diese ist durchaus nicht psychologisch subjektiv gemeint, sondern eher kulturell, sozial oder historisch bedingt.
Wenn wir beispielsweise Nachrichten auffnehmen, gleichen wir sie mit unserem Horizont ab – das wirkliche Sein wird von einem unwirklichen überlagert, das wir jedoch für das eigentliche und wesentliche halten. (Heidegger spricht von Neugeier, Sorge und Angst). Das Unwichtige wird wichtig, das Elementare gerät in den Hintergrund (Seinsergessenheit):
„Der wichtigere Teil der Wahrheit lieft immer auf der antipsychologischen Seite.“
Die wirkliche Wirklichkeit – Tatsache und Wesen
Laut Husserl existieren zwei Formen der Wahrheit: Tatsachenwahrheiten und Wesenheiten – sie verhalten sich wie Materie und Idee zueinander. Kongeniale Begriffe bilden Faktizität und Evidenz, beide liegen in der Tatsache begründet, diese muß als Wirklichkeit wahrgenommen werden. Nur die reine Wahrnehmung ist ein originärer Akt, der frei von Erinnerung, Assoziation oder Erwartung bleibt: Die uns bewusste Wahrnehmung spiegelt jedoch nicht das Ereignis selbst wider, sondern ist bereits dessen Kommentar.
Was Husserl erstrebt, ist eine eidetische Reduktion: eine Rückkehr zum Ursprung, zum eigentlichen Ereignis, das wir verblenden und verfremden.
„Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil nur aktuelles Erlebnis ist.“
Zwischen der Tatsache für sich und dem Wesen an sich vermittelt die Intention. Solche Intentionen formen auch aus der reinen Tatsache eine subjektive Tatsächlichkeit. Tatsächlichkeit besteht folglich in einem „Sinn der Zufälligkeit“, Wesentlichkeit hingegen in einem „Sinn der Notwendigkeit“. Die Phänomenologie trennt daher strikt Existenz von Eksistenz, Wahrheit und Wirklichkeit, Urteile über Wesen und Urteile von Tatsachen.
Das Eidetische (Wesentliche) muss reduziert werden auf das „Feld des Wesens“, befreit von Evidenz, Nutzen und Zweck, die dem Ereignis angesinnt werden. Verkürzt: Wahrheit muss frei sein von Ideologie und damit von wertenden Eigenschaften.
Wo Wissen(schaft) zur Ideologie verkommt, dient sie selbst dem Vorurteil. Die Reduktion erst ermöglicht „wirkliche Wirklichkeit“. Ausgeblendet werden muss der Putz der Fassade, folglich das vermeintlich sichere Wissen. Das erlernte und damit gewohnte Denken. Reduktion auf das Wesentliche fordert ferner die Ignoranz alles nicht Nachtprüfbaren: Zahlen, Fakten, die sich der Statistik erschließen mögen, nicht aber aus dem Objekt selbst hervorgehen
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – Churchill wird dies Zitat in nahezu identischer Form zugeschrieben (https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/20041111).
Zurück zum Wesentlichen
Eidetische Reduktion ist daher analog zu setzen mit radikaler Vorurteilslosigkeit und Unterbrechung einer Man-Welt, die im 21. Jahrhundert hauptsächlich aus Medien besteht. Bezogen auf die Architektur prägt Husserl das Bild, das Wesentliche des Hauses besteht darini, Fenster, Türen, Wände, ein Fundament und ein Dach zu haben. Er nennt das „auf letzte Tatsachen kommen“.
Das Gerüst jedes Phänomens ist relativ einfach, die Erscheinung jedoch komplex und verschieden. Wir müssen uns daher unserer Intentionen bewusst sein, um frei von Intentionalität denken zu lernen.
Abschließend das Zitat, das nachdenklich machen sollte, weil es nie an Aktualität verliert: es stammt aus „Die Krisis des europäischen Menschtums“ und diese inkludiert mittlerweile eine handfeste Krisis der Philosophie, des gesunden Menschenverstandes im Allgemeinen.
„Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindlichkeit und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie.“
(http://philotextes.info/spip/IMG/pdf/husserl_krisis.pdf) zitiert aus Husserliana VI, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Essay Die Krisis der europäischen Menschentums, III, S. 347
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