Foto Bernd Oei, die blaue Zone in Moulay Idris, ein religiöses Epizentrum zwischen Wüste und Bergen
Die geheiligte Geometrie namens Schicksal
Als Die vierzig Tage des Musa Dagh 1933 erschienen, war Franz Werfel 43 Jahre alt. Religion und ihr Missbrauch stand von jeher im Mittelpunkt seiner Werke. Dazu gehören weißgott nicht nur die deutschen Greuel. In seinem Roman gab er dem Völkermord (Genozid) Ausdruck, den das Osmanische Reich an den Armeniern verübte. (https://www.herder.de/hk/aktuell/der-jude-franz-werfel-und-sein-zeugnis-fuer-die-armenier-werfel-gab-uns-die-seele-/) Die Geschichte handelt von der Rückkehr des verlorenen Sohnes in sein Heimatdorf Yoghonoluk im heutigen Nordsyrien. (https://www.alamy.de/fotos-bilder/yogunoluk.html?sortBy=relevant).
Foto Bernd Oei: Nordmarokko, Moulay Idris, die heilige und für Ungläubige verbotene Stadt, unweit von Meknès, 550 m hoch auf dem Berg Jbel Zerhoun gelegen.(https://de.wikipedia.org/wiki/Jbel_Zerhoun).
Wie Wurzeln für das literarisch-politische Vermächtnis lagen imr Weltwirtschaftskrisenjahr 1929 und sie lagen in Damaskus.Flüchtlingskinder und Flüchtlingslager, Flüchtlingselend gab es damals wie heute. Und ebensoviele, die zusahen oder wegsahen und schwiegen. „Am 12. März 1938 zog Hitler unter dem Jubel der Einheimischen in Wien ein, und Werfel musste fliehen.Franz Werfel bezeichnete sich als „bewusster Jude im Denken und Fühlen„. Ebenso aber auch als „moderner Katholik„. Dass man glauben musste, um wahrhaft zu leben, stand für ihn außer Frage.
„Doch das göttliche Geheimnis sah er in einer jeden Religion vorhanden.“ (O-Ton Monika Beck, s.o.) Bei allem Engagement hat es viele verwundert, dass Wefel sich für eine bekennende Antisemitin alma Werfel entschied und er ihr die Treue hiel, ja sogar ihretwegen aus der jüdischen Gemeinschaft austrat. Einer der Schlüsselsätze in Musa Dagh gibt darauf eine indirekte Antwort: „Alles auf der Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.“
Foto Bernd Oei: Moulay Idris, Aufgang in die 788 kurz vor seinem Tod von Idris I, dem Begründer der Idrissiden-Dynastie, gegründeten Stadt.(https://de.wikipedia.org/wiki/Idris_I.)
Die Rettung liegt im Untergang
Darin besteht gewiss doie Quintessenz des Mammut-Romans. Der Inhalt des etwa 1000 Seiten zählenden Romans: ein in Frankreich lebender Armenier wird sich erst 1915 während des Urlaubs und bei Ausbruch der Völkerdeportation in er Türkei eines seiner kulturellen Identität bewusst. (https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-vierzig-tage-des-musa-dagh/7012). Am Ende eines heroischen wie martyrischen Kampfes werden er und sein Sohn sterben. Das Werk ist in drei Teile (Bücher) gegliedert: Teil 1 Das Nahende, Teil 2 Die Kämpfe der Schwachen, Teil 3 Untergang, Rettung, Untergang.
Der Eingangssatz beginnt bezeichnenderweise mit einer Orientierungsfrage und lautet: „Wie komme ich hierher?“ Gabriel Bagradian spricht diese einsamen Worte wirklich vor sich hin ohne es zu wissen.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/werfel/musadagh/chap001.html). Die Schlusszeile endet mit der Frage, wohin er geht : „Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe. Er klammerte sich ans Holz, riß es im Sturze mit. Und das Kreuz des Sohnes lag auf seinem Herzen.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/werfel/musadagh/chap018.html)
Foto Bernd Helmert: Moulay Idris.Viele Stufen führen auf diverse Terassen der 12 ooo Einwohner Stadt, übersetzt Sultan Idris. Erst seit einem Jahrhundert ist es Ungläubigen gestattet, wenigstens die Stadt um das Grab samt Koranschule herum zu betreten.
War Werfel Zionist? Aus der Promotion „Judentum und Christentum im Leben und Werk Franz Werfels““ von Olga Koller 2009 (https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:1258071/get.) geht dies nicht hervor. Die Frage nach der religiösen identität entschied in jener Zeit über Leben und Tod. In seinem Bestreben, sich weder als christlicher Jude noch jüdischer Kahtolik eindeutig zu positionieren, ringt er um Balance: „Er versucht, einen Ausgleich zwischen den beiden Religionen zu finden, diesmal sieht er aber die Lösung nicht in deren Verschmelzung, sondern er behauptet, beide hätten eine je eigene Daseinsberechtigung und die Gesellschaft könne auf keine von beiden verzichten.“ (Resümée Koller, S. 308).
Ebenso ambivalent verhält es sich mit seiner Haltung zur Position des auserwählten Volkes, das durch Gottes Leid geprüft werden muss: „Wenn Werfel von den tragischen Schicksalen der Menschen berichtet, die seiner eigenen Religion angehören, verweist er immer darauf, dass die Auserwählung ein Versprechen ist, das nicht nur Leid über das Volk bringt, sondern auch eine Quelle der Erlösung sein wird.“ (Koller, S. 309) Obschon er unaufhörlich zeitlebens die beiden verhärterten Positionen einander anzunähern sucht, muss er das Scheitern einer Versöhnung oder wenigstens einer Koexistenz akzeptieren.
Foto Bernd Oei, Aufgang in die blaue Stadt Moulay Idris. Der Zauber ist spürbar. Grundsätzlich gilt: Grün ist die vielleicht am eindeutigsten festgelegte Farbe, denn sie gilt allgemein als die „Farbe des Propheten“ oder die „Farbe des Islam“. Alle anderen Farben sind ambivalent. So gilt Blau sowohl als Farbe des Unglücks, als auch auch der Abwehr des Unheils. (https://www.islaminstitut.de/2005/farben-und-farbsymbolik/)
Vom Durcheinander des Nebeneinander
Die analytische Erkenntnis lähmt seine Vision nicht: „In einer solchen perfekten Umgebung würden beide Religionen, Judentum und Christentum, friedlich nebeneinander existieren, ohne die Notwendigkeit, ihre jeweiligen Eigenarten abzulegen“ (Koller, S. 311) Weshalb kann man nicht beides sein? „Das Leben und Wirken Franz Werfels ist eine Gratwanderung zwischen dem Judentum und dem Christentum. Zu manchen Zeiten ist er ein überzeugter
Christ, dann wiederum ein tief gläubiger Jude.“ Man lebt mehrere Leben neben einander her – manchmal geraten sie in Konflikt.
Zurück zur Fragestellung: War er Zionist? Seine Reisen nach Palästina 1924 und 29 brachten ihm zumindest die Erkenntnis, nicht in einem Kibuz leben zu wollen. (https://www.alma-mahler.at/deutsch/almas_life/lebensorte/alma_und_jerusalem.html). Er bekennt sich nicht zum Zionismus (https://www.berndoei.de/warum-die-welt-heute-so-elend-ist-franz-werfel-in-prag). Ein Indiz liefert der Vierzeiler „Delphisches Orakel“: „
„Wie lang noch herrscht die Hölle hier auf Erden
Mit blindem Haß in Süd, West, Ost und Norden?
Solange bis die Juden Christen werden.
Und bis Christen Juden sind geworden.“
Foto Bernd Oei: Moulay Idris. Jeder Schritt schreckt Tauben auf oder hungrige Kinder. Der heilige Pilgerort zu Füßen des Rif-Gebirges gilt als älteste Stadt des Landes. (https://www.freudenthal.biz/marokko/moulay-idris/)
Glauben, um aufzustehen
Ein Schlüsselgedanke des Romans von Musa Dagh scheint das Bekenntnis, glauben zu müssen, weil nur dies den Mensch vom Tier unterscheide, gerade im Angesicht der Hoffnungslosigkeit. „Wenn ein Tier nicht mehr daran glaubt, daß es sich wehren kann, geht es zugrunde. So ist es in der Natur und in der Geschichte.“ Etwas variiert: Man muss Gott auch unterstützen in seinen Werken. Ein zweiter Schlüsselsatz, der als Leitmotiv im Sinn des Leides als ein Motiv des Handeln Verwendung findet, lautet: „Ein Volk kann ohne Bewunderung nicht auskommen, doch ebenso wenig ohne Hass.“
Fremdheit hat zwei Seiten: allein ist das Überleben in der Fremde unmöglich, die Freiheit zum Scheitern verurteilt. Sie stiftet jedoch auch identitätsstiftend. Es bedarf des Abstands, um sich bewusst einer Sache, einem Menschen, einem Glauben annähern zu können. Dies wird auch in der Zeile „Fremde müssen mir dein Antlitz zeigen“ (aus dem Gedicht „Wenn ich dir plötzlich in die Augen sah“) überaus deutlich. (https://www.youtube.com/watch?v=8QHEnF390Eo)
Eine andere, repäsentativ erscheinende Zeile lautet: „Mein Auge bricht von allzuviel Erhelltsein“ aus dem Gedicht „Der schöne strahlende Mensch“ (https://www.youtube.com/watch?v=svsIzIeAQ9U). Metaphysische und spirituelle Sentenzen schwingen in allen Werfel-Tönen mit. Seinem Verständnis nach musste man sich Religion erkämpfen, erleiden und verdienen. Sie war niemals mit der Geburt erworbenes Gut.
Foto Bernd Oei, Moulay Idris Blick auf die Südseite des Rifgebirges – im Schatten des berühmten Fotos, das die Welt kennt.
Selbstlose Zudringlichkeit
Nicht anders als kämpferisch melancholisch formuliert er seine Mystik: „„Das Wesen des Göttlichen ist es gerade, dass es sich mit dem Weltlauf nicht vereinigen kann, und in dem Moment, da es die Geschichte berührt, sie zugleich aufhebt.“ (https://www.die-tagespost.de/kultur/franz-werfel-der-geheimnisvolle-art-184715). Der Artikel von Ingo Langer in „Die Tagespost“ stammt vom Mai 23. Als Aufhänger nimmt er Werfels Kritik am widerkehrenden allemannischen Pseudo-Heroismus: „So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit.“ Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Speiste sich dieser Völker-Wahnsinn einst einem ekelerregendem Größenwahn, so jetzt einem nicht minder bedrohlich-befremdlichen Verleugnungsgen.
Das Thema Zion, Symbol des Wohnsitzes und einer Burg, kann auch auf Werfels Formel „Die Welt fängt im Menschen an“ heruntergebrochen werden. Da er an keiner Nationalbewegung Interesse zeigte, so blieb dem Kosmopoliten Franz Werfel auch der jüdische Nationalismus suspekt. Nach wie vor wird er jedoch von ihm vereinnahmt. Politisch war er nach der Schoah bzw. dem Holocaust eine unausweichliche Überlebensgarantie. Das Künstlerehepaar Werfel und Mahler emigrierten nach Kalifornien. Sein schönster pointierter Aphorismus, entnommen aus dem Essay „Zwischen oben und unten“ lautet: „Nur der Anachronismus hat eine Chance, die Epoche zu überdauern.“ Es ist wahr, zwischen zu früh und zu spät liegt immer nur ein Augenblick, der Atem der Geschichte, den Walter Benajmin einen Engel hieß.
Foto Bernd Oei, Moulay Idris, die Perle mit Blick auf die verbotene „grüne“ Zone, das Herz der Stadt nahe Méknes.
Fazit: Über eine Million Armenier starben als Nebenprodukt des ersten Weltkrieges, nahezu unbemerkt. Nicht immer bestimmt die Quantität die Qualität des Leids. Schon gar nicht die der Aufmerksamkeit. Wir Deutsche täten gut daran, uns in Zurückhaltung beim Maßregeln und Verurteilen aufzulerlegen. Aber auch die Stimme zu erheben, wenn es um prinzipielles Unrecht wie Gewalt geht. Das Argument der Angemessenheit ist nicht mennschliches Urteil. Es steht außerhalb des Gerichtshofes. Jeder Mord ist gleich. Man kann die Toten nicht gegen einander aufrechnen. Die Frage nach dem ersten Unrecht ist müßig und wie alle Schuld niemals rational zu lösen. Daher kann die Lösung mit Werfel nur lauten:
„Oh Hoffnung,
Daß wir nicht umsonst sind,
Oh Reinheit,
Oh Vergebung,
Morgendlich entzündend dich und mich!“
Aus dem lyrischen Frühwerk „Der Gerichtstag“ (1915), Buch 1, Die Geburt der Schatten, Gesang der Memnons-Säule (https://www.projekt-gutenberg.org/werfel/gerichts/chap001.html)
Foto Bernd Oei, Umgebung von Moulay Idris: Sukkulenten und Olivenbäume. Die ursprüngliche Heimat von Aloe vera liegt möglicherweise auf der arabischen Halbinsel.
Ein zweites Schlusswort liefert die Stimme Jeremeias, des Juden, der nur zu seiner Bestimmung Jerusalem findet, weil seine Frau stirbt, bevor sie die Reise antreten kann. Der Umweg führt ihnr zur Einsicht: „»dass es Größe nur gegen die Welt gibt und niemals mit der Welt, dass die ewig Besiegten die ewigen Sieger sind und dass die Stimme wirklicher ist als der Lärm.« (aus: Werfel, Höret die Stimme, 27. Kapitel). Zugrunde liegt die alte Weisheit vom Missbrauch der Macht durch Verwechslung mit Herrschaft:
Ein zweites Schlusswort liefert die Stimme Jeremeias, des Juden, der nur zu seiner Bestimmung Jerusalem findet, weil seine Frau stirbt, bevor sie die Reise antreten kann. Der Umweg führt ihnr zur Einsicht: „»dass es Größe nur gegen die Welt gibt und niemals mit der Welt, dass die ewig Besiegten die ewigen Sieger sind und dass die Stimme wirklicher ist als der Lärm.« (aus: Werfel, Höret die Stimme, 27. Kapitel). Zugrunde liegt die alte Weisheit vom Missbrauch der Macht. Sie entsteht aus der Einsamkeit der Reflexion (der einzigen persönlichen Freiheit) und dem kommunikativen Handeln und sie endet, sobald Menschen sich nicht mehr auf Augenhöhe begegnen, versprechen und verzeihen können. Macht schlägt in Herrschaft und zuletzt in Tyrannei um, wenn nur noch eine Seite, eine Stimme, gehört wird.
Foto Bernd Oei: Panaoramablick auf Moulay Idris, Marokko bei 30 Grad im November.
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