Foto Belinda Helmert: Fachwerkhaus in Hildesheim, Brühl mit 12 Tugenden und 12 Lastern als Inschrift. Brühl ist eine historische Straße in der südlichen Innenstadt und bezieht sich auf den Fluss, ein Nebenarm der durch Hildesfheim fließenden Innerste https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BChl_(Hildesheim)
Verbrechen an der Menschheit
Nach Fausts aus unglücklicher Liebe zur Kindsmörderin ist sie wohl die bekannteste Maragrete „Gretchen“ in der anspruchsvollen Literatur: Grete Minde. Fontane adoptierte den Justizskandal für seinen poetischen Realismus. Margarete von Minden stammte allerdings aus Tangermünde nahe Stendhal in Sachsen-Anhalt. Der berühmte Autor spricht daher von einer altmärkischen Chronik. Die junge Frau entstammte einer Patrizierfamilie und wurde um ihr Erbe betrogen. Verstoßen liierte sie sich unstandesgemäß mit einem Kriminellen. Bei ihrer Rückkehr ereignete sich ein großer Brand, für den die Bewohner einen Sündenbock bedurften. Hexerei stand hoch im Kurs und die geldgierige Verwandtschaft tat einiges dafür (Justizkorruption), damit die verwahrloste „Grete“ der Brandstiftung angezeigt wurde. Nach eingehender Folterung zeigte sie sich geständig. März 1619 erfolgte ihre öffentliche Verbrennung bei lebendigem Leib. So recht an die Wahrheit hielt sich der Romancier in seiner Novelle 1879 nicht. http://www.helmutcaspar.de/aktuelles19/blnpdm19/tanger0.htm. Ein Verbrechen an der Menschheit (insbesondere der sozial benachteiligten holden Weiblichkeit) bleibt aber auch seine Geschichte in ihrem Kern, selbst wenn hier die Rache einer gedemüdigten Frau zum doppelten Kindsmord ausartet.
Foto Belinda Helmert: Hildesheim, Stiftsgenbäude, Stadtmitte Neustadt, Brühl, Gründung 13. Jahrundert, bis 19. Jahrhundert eigenständig, dann zwangseingegliedert. Heute findet sich hier die größte Ansammlung erhalten gebliebener Fachwerkhäuser aus cdem 17. und 18. Jahrhundert.
Foto Belinda Helmert: kahtolische Seminarkirche, Staute Heiliger Franz von Assisi Brühl 15 (Lüchtenhof), ursprl. 1657, durch Brand und im 2. Weltkrieg zerstört und im Spätbarock-Stil wiederaufgebaut. Brühl bedeutet „feuchte Niederung“. https://de.wikipedia.org/wiki/Priesterseminar_Hildesheim
Das Weib als Sprachrohr der Unterdrückung
Der erste Satz lautet: »Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.« https://www.projekt-gutenberg.org/fontane/minde/minde.html Ein Vorverweis auf den Tod zweier absolut wehrloser Kinder am Ende ist darin bereits enthalten. Grete reißt in ihrem Suizid sowohl die eigene Tochter als auch den Sohn ihres verhassten Halbbruders mit in den Tod, als sie vom brennenden Kirchturm springt. Sie will gesehen werden und sie will, dass die Familie, die Schuld ist an ihrem Elend, selbst so lange wie möglich leiden muss. Fontanes größtes Verdienst ist, eine so grausam endende Mörderin menschlich zu zeigen und Mitgefühl für die Täterin zu erwecken. Zu hören ist das erste, von der Kinderliebe Gretes mit Valdentin handelnde Kapitel, eigedenk ihres Sprunges, hier noch von der Leiter („Wie du springen kannst“) unter https://www.der-audio-verlag.de/hoerbuecher/grete-minde-fontane-theodor-978-3-86231-558-1/
Das 20. und damit letzte Kapitel endet mit the show must go on. Grete, die zuletzt Schauspielerin einer Wanderbühne war, wird von ihrer Zweitbesetzung ersetzt. „Am Abend aber gaben die Puppenspieler den »Sündenfall«. Der Saal war gefüllt und der Beifall groß. Niemand achtete des Wechsels, der in Besetzung der Rollen stattgefunden hatte.“ Zenobia spielte den Engel. https://www.projekt-gutenberg.org/fontane/minde/minde20.html
Eine prägnante Zusammenfassung liefert https://www.lesen.bayern.de/9783423140874/, eine ausführliche https://www.dieterwunderlich.de/Fontane-Grete-Minde.htm. Meine eigene: eine Frau wird nach dem Tod der Mutter aus dem Wohlstand getrieben, zum ihr Erbe gebracht und rächt sich, da durch die Armut auch das eigene Kind dem Elend preisgegeben wird und der Liebste, Vater des Kindes, nicht hätte sterben müssen. Fehelnde Menschlichkeit betrifft aber nicht nur die eigene , habgierige Familie, sondern im Grunde alle „frommen“ Bürger der Stadt, die sich von der Reputation blenden lassen.
Fontanes Vorliebe für ins Unrecht gesetzte, selbst jedoch Unrecht („Fehltritt“) verübende Frauen, ist augenscheinlich. Erinnert sie an die titelgebenden „Céilie“Effi Briest, Lydia in „L´Adultera“, Lene in „Irrungen und Wirrungen“, die allesamt an der Herzlosigkeit ihrer Gesellschaft scheitern. Fontanes Liebe gilt den Schwächen und den menschlichen Makel willen. Protagonistinnen als Träger der Gesellschaftskritik. https://www.deutschlandfunk.de/theodor-fontane-und-die-frauen-alle-haben-sie-einen-knacks-100.html
Foto Belinda Helmert: Fachwerkhäuser Brühl mit Blick auf Basilika St. Godehard (1133-72), eine der wenigen romanischen Kirchen, die fast unverändert blieben.
Foto Belinda Helmert: St. Godehard, ehemalige Benediktiner-Klosterkirche am Südrand der Altstadt. Die romanisch-dreischiffige Basilika mit Querschiff und Chorumgang, einem großen achteckigen Vierungsturm und einem Westwerk mit zwei kleineren Türmen und Westapsishttps://www.hildesheimer-geschichte.de/die-kirche/die-hildesheimer-kirchen-1/godehardi-kirche/
Bürgerliche Scheinfassaden
Fontane blieb ein leiser und subtiler Kritiker des Regimes, insbesondere des Wilhelminischen Kaiserreiches. Vor allem blickte er hinter die Fassade des Anstands, der Moral und der zur Schau getragenen Tugend. Die beiden politischsten Romane Fontanes machen das deutlich: Im „Schach von Wuthenow“ nimmt das moralische Versagen und der Untergang seines Helden den Untergang des preußischen Staates von 1806 vorweg; in seinem letzten Werk „Der Stechlin“ geht es unter dem Symbol des unruhevollen Stechlin-Sees in einem unaufhörlichen politischen und sozialen Diskurs um nicht mehr und nicht weniger als die schwankenden Grundlagen des Wilhelminischen Deutschland und um Perspektiven der politischen Zukunft. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/528388/theodor-fontane-als-zeit-und-gesellschaftskritiker-ein-beitrag-zu-seinem-150-geburtstag-am-30-dezember/
Sprach- ist zugleich Gesellschaftskritik. Von einem Gesellschaftsecho einerseits (den Tätern und Mitläufern) und der Sprache des Herzens (den Opfern oder zumindest den Ausgestoßenen) andererseits ist stets die Rede. Nach eigenem Bekunden ging es Fontane darum „das Hohle, das Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeois-Standpunkts zu zeigen“. (Frau Jenny Treibel“.) Dies ist die Schlußzeile eines sentimentalen Lieblingsliedes, das die 50jährige Kommerzienrätin im engeren Zirkel beständig singt und sich dadurch Anspruch auf das ›Höhere‹ erwirbt, während ihr in Wahrheit nur das Kommerzienrätliche, will sagen viel Geld, das ›Höhere‹ bedeutet. Anspruch und Wirklichkeit gehen so gut wie immer getrennte Wege bei Fontane. Der Kit., der die Bourgoesie zusammehält, sind die Erfolge im Außen: der Schein, die Fassade, der Glanz.
Foto Belinda Helmert, Brühl 22, Wohn- und Gechäftshaus, 17. Jahrhundert.
Foto Belinda Helmert: Spiegelung in einem Fachwerkaus im Brühl. Der Brühl ist eine historische Straße im südlichen Teil der Innenstadt von Hildesheim, in der sich neben gut erhaltenen Fachwerkhäusern noch mehrere weitere bedeutende Sehenswürdigkeiten befinden.
Deprivilegierung des Anstands
Trotz politischer Gleichstellung und wirtschaftlichem Liberalismus gelang es dem deutschen Bürgertum jedoch nicht, eine eigenständige bürgerliche Kultur zu entwickeln. Dies lag in erster Linie daran, dass trotz aller Entprivilegierungen Adelige weiterhin Schlüsselpositionen in Militär und Politik besetzten und in Verteidigung ihrer ursprünglichen Standesprivilegien akribisch darauf achteten, dass nur Gesinnungsgenossen in höhere Positionen aufstiegen. (Die Profilierung des Besitz- und Bildungsbürgertums von Carsten Breitschneider) https://www.grin.com/document/94782
In „Grete Minden“ wird dies dreifach offensichtlich: da ist die Habgier der Besitzenden, die nicht teilen wollen, die Eifersucht bzw. der Neid auf das Schönere, Klügeres, Anständigere als verzerrtes Spiegelbild und drittens die Unfähigkeit, Fehller bzw. Fehlhandlungen einzugestehen. Letzteres kann man auf die aktuelle Politik, aber auch das Verhalten der Wähler bzw. der so genannten Gutmenschen beobachten. Lieber die Scham in bodenlose Kriminalität bzw Unmenschlichkeit verwandeln, als einen Schritzt rückwärts zu gehen und den versöhnenden Schritt zu leisten.
Brandschatz bzw. Brandlegung spielt eine lange Rolle in der deutschen Geschichte und auch der Literatur, z.B. „Biedermeier und die Brandstifter.“ Es ist immer auch ein Beleg von gesehen werden wollen. Wenn das Herz fehlt, so auch in „Grete Minde“, kann das Unternehmen Familie oder Geschäft nur scheitern. Das vierte Kapitel von „Grete Minde“ zeugt auch von Fontanes tiefer Mutterliebe. Hier paaren sich auf Schillersche Weise Schönheit und Tugend. Vor allem geht es Fontane um Herzenbsildung und Anstand. Mit der (falsch verstandenen) Vernunft kommt auch das Böse in die Welt. https://www.hoergut-verlag.de/ht-klassik-a-z-mainmenu-46/509-grete-minde-theodor-fontane
Der Autor pointiert über die ihn zunehmend anwidernde Lage durch die Entlassung Bismarcks 1890: „Lieber Einsamkeit und ein Buch und eine Zeitung, als schlechte Gesellschaft, von der man nichts hat als Ärger und mitunter direkte Beleidigung.“
Foto Belinda Helmert, Hildesheimer Renaissance-Fachwerkhaus, Hinterer Brühl 12 a Seite. Das „Wernerische Haus“ grenzt an den Godehardiplatz mit der namensgebenden Basilika. Sein Schnitzwerk zeigt oben 12 Kardinaltugenden, unten die 12 Todsünden. http://www.fachwerkfreunde.de/k2/480-wernersches-haus
Foto Belinda Helmert: Wernerisches Haus, Hinterer Brühl 12 a Frontseite. Von den 29 Holztäfelungen versinnbildlichen vier Brüstungsbilder Hoffnung, Glauben, Nächstenliebe und Geduld. Erst der Bombenangriff am 22.3. 1945 . beschädigte das Gebäude massiv. Erst 2011 war die Sanierung abgeschlossen.
Umgang mit bitterem Unrecht
Die Kernfrage in „Grete Minde“, zumindest in meinen Augen, ist die nach dem rechten Umgang mit erlittenem Unrecht. Eine der bekanntesten Versionen, die letztlich Unrecht mit Unrecht vergelten im Sinne des AT Auge um Auge, Zahn um Zahn, liefert „Michael Kohlhass“. Eine elegantere, aber ebenso tödlich verlaufende Variante bildet „Der Graf von Monte Christo.“ Rache ist ein gängiges Literaturmotiv. Auch Fontane bedient sich dessen häufig, meist jedoch in Form eines Duells, gewissermaßen eine Pflicht zur Revanche aus Gründen der Ehre. In jedem Fall lässt sich bei ihm nur von einem misslungenen Projekt sprechen, da die Genugtuung ausbleibt und im Fall von Grete Minde nicht der Schurke nicht zur Strecke gebracht wird, sondern sein unschuldiger Stammhalter. Des Autors eigene Lösung in Umgang mit Empörung verrät sein Gedicht: „Versuch´s nicht mit Streit, berühr es nicht, überlass es der Zeit … Ärger ist der Lebensvergifter.“ http://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3944
In der Gegenwart stellt sich sowohl im politischen Rahmen wie lange währenden Kriegskonflikten im Nahost oder dem erstmals auffälligen zwischen Russland und der Ukraine (die sich kulturell lange nahe standen und nicht auf eine historische Feindschaft zurückblicken) die Frage, wem der Sieg oder die Vergeltung eigentlich Nutzen bringen soll. Bezüglich individueller Kränkung bishin zur Demütigung, sei es beruflicher oder freundschaftliche bzw. familiäre Zurücksetzung während der „Pandemie“ ist dies gleichfalls schwierig zu beantworten. Wo die Einsicht fehlt, falsch geurteilt und gehandelt zu haben, ist es schwer genug, wo Konsequenzen, teilweise auch juristischer Art ausbleiben, nahezu unmöglich, sich freizusprechen von Groll. Doch muss aus diesem auch Rache werden? Genug ist genug. https://www.hoergut-verlag.de/ht-klassik-a-z-mainmenu-46/509-grete-minde-theodor-fontanehttps://thebackpacker.de/grete-minde
Grete Minde versucht es auf Bitten des toten Bräutigams und Vaters der gemeinsamen Tochter, mit christlicher Barmherzigkeit, den bitteren Kelch der Schmähung und des Verrats zu trinken. Dennoch hofft auch sie auf Einsicht, Reue oder wenigstens eine gütliche Einigung vergebens. Der vermeintliche Gutmensch, ein herzloser Halbbruder, tritt, wo er nur kann. Die Schwägerin schmäht wo sie nur kann. Der verlorene Streit vor Gericht, offenbar befangen, wennicht bestochen, löst eine Kettenreaktion aus. Rache ist wie Eifersucht nicht nur eine zerstörerische, sondern v.a. eine autodestruktive Gewalt.
Fontane bekundet, er wechsle den Stil und nehme ihn „aus der Sache nimmt, die ich behandle“. In „Ellernklipp“, seiner Novelle unmittelbar in Anschluss an „Grete Minde“ und gleichfalls eine Kriminalgeschichte, stößt der Vater den Sohn in den Abgrund, hauptsächlich aus Eifersucht, weil dieser die Gunst jener Frau erlangt hat, die er selbst begehrt. Laut Fontane soll der Roman „ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens, das wir führen, “ sein. Insofern wünschte man sich mehr Realismus in der heutigen Literatur als auch in der hohen Politik, wo mehr gelogen und verdrängt wird als in mancher Boulevardburleske.
Foto Belinda Helmert: Spiegelung in einem Fachwerkhaus in Brühl.
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