Die Schlafwandler

Foto Belinda Helmert: Tausendjähriger Rosenstock am Hildesheimer Dom, Apsis im Innenhof. Aus Schutt und Asche nach 1945 erblühte er mit 25 Trieben neu und wurde behutsam erweitert, was die Jahresplaketten belegen. Blüten trägt „Rosa canina L“ zwischen Mai und Juni. https://www.ndr.de/ratgeber/reise/hannover/Der-1000-jaehrige-Rosenstock-in-Hildesheim,hildesheimerdom326.html

Zerfall des Ganzen

Zugegeben. Die Titel klingen sperrig und sollen es vermutlich auch sein. „Pasenow oder die Romantik“ lautet der erste Teil einer Trilogie (1930- 32)“Esch oder die Anarchie“ schließt sich nahtlos an. Mit „Huguenau oder die Sachlichkeit“ endet die Triade des Romanciers Hermann Broch, der im amerikanischen Exil starb und philosophisch dem Wiener Kreis (Positivismus) nahestand.

Eine Zusammenfassung der Trilogie liefert https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/die-schlafwandler/30490 Bestechend ist vor allem die klare Einsicht noch vor der Machterfreifung Hitlers und dem folgenden Anschluss Österreichs, wie das Kollektivschicksal der beiden Bruderländer verlaufen wird. Broch kannte die Mechanismen des Kapitalismus aus nächster Nähe: sie waren in ihm buchstäblich verwoben wie eine zweite Haut.

Wo Fontane endet, mit dem Beginn des Wilhelminischen Reiches, da setzt Hermann Broch historisch fort. Sein übergeordnetes Thema lautet nietzscheanisch: Die Entwertung aller Werte bzw. die Umkehr derselbigen. Nihilismus und Dekadenz. Wer anders als ein Wiener, ein Zeitgenosse Joseph Roths, der 1886 geborene Sohn eines Textilfabrikanten, hätte die Entkernung des Ich pointierter zum Ausdruck bringen können?

Die erzählte Zeit deckt die Epoche zwischen 1888 und 1918 ab. Die drei wichtigsten Perspektivträger sind zunächst der Berliner Leutnant Joachim von Pasenow, die fleischgewordene preußische Uniform. Er verkörpert zugleich die „Trägheit des Gefühls“, ein Charakter, der lieber ordnungsgemäß erschossen wird als lebt. Protagonist des zweiten Romans ist der titelgebende august Esch, seins Zeichens Buchhalter in Köln. Bereits hier tauchen in Balzac-Manier viele Personen auf, die dem Leser aus dem ersten Teiles vertraut sind. Wiederholt wechseln die Orte wie die Liebhaber, die Berufe wie die Gesinnung. Ist Pasenow der Ordnungsmensch, so erscheint Esch als ein Liebhaber des Zufalls und ein ewiger Träumer, der gerade deshalb nur die zweite Wahl nimmt. Am Ende seiner modernen Odysee ist er, was er vorher war: Buchhalter. Dialektik im Stillstand. Nicht ganz, da er im dritten Teil stirbt.

Foto Belinda Helmert: Holztür Kleine Annenkapelle mit Blick auf die Apsis des Hildesheimer Doms mit seinem tausendjährigem Rosenstock, dem Wahrzeichen der Stadt und der Gründung der St. Marien Himmelfahrt https://de.wikipedia.org/wiki/Tausendj%C3%A4hriger_Rosenstock

Auflösung der Identität

Die dritte Leitfigur, die den Leser in Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie durch das Labyrinth der Gassen und Menschen führt, ist der Händler und Deserteur Wilhelm Huguenau. Der Beginn spielt an der Mosel (Grenzgebiet zu Frankreich): zusammen mit den Titelhelden der ersten Romanteile arbeitet er bei einer Zeitung. Pasenow hat die Armee verloren, Esch den Traum von Amerika Huguenau hat nie geträumt oder an irgend etwas geglaubt: er besteht nur aus Pragmatismus und Egoismus; beides erlaubt ihm, die Lager zu wechseln wie ein Chamäleon die Farbe: „sein Gesicht war ihr Gesicht“. Faschismus als antizipierte Reaktion, quasi unvermeidbar nach den Gesetzen des Zerfalls und der Ichlosigkeit im Vakuum.

Ein wesentlicher Teil der abschließenden Handlung spielt in Colmar, das wie der gesamte Elsass eine wechselvolle Geschichte zwischen den Nachbarstaaten besitzt. In einem Satz Wirklichkeit als Traumlandschaft. März 2010 titelte daher auch „Die Zeit“ in ihrer Glosse dementsprechend. Prägnanz im Stil der Neuen Sachlichkeit. Realität in potenzierter Form. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-03/hoerbuch-schlafwandler

Man muss die Klarsicht Brochs, politisch wie künstlerisch, die Verzahnung von Philosophie, Naturwissenschaft, Wirtschaft und Ethik (ihren Zerfall) Tribut zollen, weil es sie in dieser Kombination und Schärfe nur selten gibt. Er bezeichnet humane Politik bereits als letztmögliche Utopie, deren Verwirklichungsgrad sich mit Einsteins Relativitätstheorie und Heinsbergs Unschärferelation messen lassen müsse. Vergleichbar ist sein Stil, besonders des abschließenden Teils der Trilogie, bestenfalls mit Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ aufgrund der eingestreuten Essays und Retardierung der Handlung. Der innere Monolog dominiert. Wer Individualist sein will, muss etwas von Massenpsychologie verstehen.

Foto Belinda Helmert: Rosenstock mit angrenzendem Friedhof und Kreuzgang des Doms. https://www.dom-hildesheim.de/de/tausendjaehriger-rosenstock-hildesheim

Mord ohne Konsequenzen

Nach seinem Mord an Esch, dem Idealisten, sagt Huguenau, der Pragmatiker: „Es bleiben nur jene Taten am Leben, die in das bestehende Wertesystem passen.“ Anders als von Moralisten erhofft, kommt er mit allen Tricks, Verrat, Betrug und Mord durch und bleibt ohne Reue: „Der zartgraue Nebel traumhaften silbernen Schlafes hatte sich über das Geschehene gebreitet, immer undeutlicher wurde es ihm […] und schließlich wußte er nicht mehr, ob er jenes Leben gelebt hatte oder ob es ihm erzählt worden war.“ (Epilog, Zefall der Werte) https://www.projekt-gutenberg.org/broch/3huguen/chap088.html

Auch hier schließt sich ein „grauer“ Kreis, da es im ersten Kapitel heißt: „Huguenau mußte an eine Käseglocke denken – die Welt lag grau, madig und vollkommen tot in unverbrüchlichem Schweigen.“ (https://www.projekt-gutenberg.org/broch/3huguen/chap001.html)

Foto Belinda Helmert: Kreuzgang im Dom. Angrenzend an das Dommuseum. https://www.dom-hildesheim.de/de/kreuzgang-hildesheimer-dom

Schlafwandeln

Das Motiv des Somnambulismus deutet sich im zweiten Teil der Trilogie an. Broch benutzt es als Metapher für die politische Arglosigkeit, das Sichwegträumen von Esch. Im dritten Teil nimmt es eine zentrale Stellung ein, etwa in Verbindung mit der Figur Hanna Wendling; diese lebt mit ihrem Sohn samt Dienerschaft in der Villa „Haus in Rosen“ in der Nähe Colmars, während ihr Mann, der Rechtsanwalt an der Front seine Vaterlandspflicht erfüllt. Die Frau ist von innerer Tiefe, da sie das Grauen des Krieges mehr wahrnimmt als ihre Umgebung, doch gleichzeitig physisch äußerst lethargisch. Gegenübergestellt werden die unwirkliche Wirklichkeit (der Krieg) und die wirkliche Unwirklichkeit (ihre Apathie). Sie existiert im Rosenduft „in einer Art Wirklichkeit zweiter Stufe zu leben, … eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen …“

Hannah stirbt an Einsamkeit, geradezu verwahrlost, umzingelt von Erinnerung und zunehmenden Realitätsverlust. Es liegt nahe, Hannah als Personifizierung der untergehenden, morbiden und in Nostalgie versunkenen k. u. k. Monarchie zu betrachten. Die Rosen dienen als Reminiszenz an die Romantik und ihre unstillbare Sehnsucht. Distanz zum Leben, Pathos der Schwermut in Vollendung.

Die Schlafwandlerin Hannah bleibt eine Nebenfigur, eine Randerscheinung. Dennoch bildet sie wie alle Mariginalien ein elementares Mosaik im Ganzen, um das es Broch geht. Denn die Trilogie ist vieles, keinesfalls aber ein Entwicklungsroman. Sie gleicht einer Flucht ins Innere, einer Realitätsverweigerung und fortwährender progressiver Entfremdung.

Bettina Richter stellt in ihrer Promotion 2013 über die Trilogie eine Verbindung von Hannah Weidling zu Fontane und der romantischen Ironie und „Effi Briest“ her. „Wenn sie abends in die „Leere der Landschaft“ blickt, wird ihr Innenleben selbst leer, Angst und Einsamkeitverschwinden und machen Platz für ein Freiheitsgefühl.Diese Szene erinnert an das Ende von Effi Briest, an dem Effi ebenso nächtelang am offenen Fenster sitzt und schließlich stirbt.“ http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/15627/1/Diss%20Schlafwandler.pdf (S. 263) In ihrem Fazit spricht Richter das Offensichtliche aus: das zunehmende Chaos der Zeit wird durch wachsende Perspektivenvielfalt, widersprüchliche Subjektivierung von Ereignissen und das Nebeneinander der unterschiedlichsten Gattungen innerhalb der Prosa stilistisch begleitet.

Foto Belinda Helmert: Rosenroute, Plakette. Die Blume ist das Symbol für das Wieder- und Neubestehen einer der ältesten Stadte Niedersachsens aus dem 8. Jahrhundert. Die Route führt vom Marktplatz 5,3 km entlang der historischen Sehenswürdigkeiten https://www.hildesheim-tourismus.de/tour/rosenroute

Zerfall der Werte

Im Epilog, dem Schlusskapitel der Trilogie, die den Einfluss seiner Philosophie, namentlich des Wiener Positivismus (Kreis um Schlick und Carnap) widerspiegelt. die Sätze sind lang, abstrakt und kompliziert, scheinbar abgekoppelt von der Handlung und ihrem dynamischen Prozess. „Jedes Wertsystem geht aus irrationalen Strebungen hervor, und die irrationale, ethisch ungültige, Welterfassung ins absolut Rationale umzuformen, diese eigentliche und radikale Aufgabe der »Formung«, wird für jedes überpersönliche Wertsystem zum ethischen Ziel. Und jedes Wertsystem scheitert an dieser Aufgabe. Denn die Methode des Rationalen ist immer nur die der Annäherung,….“ Die Auflösung des Konkreten, selbst des Körpergefühls oder zum Ich wird greifbar. Der Wiener Kreis bildete eine Reaktion auf Ernst Mach und die Substanzlosigkeit des Ich, die auch Musil als sein Schüler vertrat. https://pdf.live/edit?url=https%3A%2F%2Fhomepage.univie.ac.at%2Fchristian.damboeck%2Ftexte%2FBroch.pdf&source=f&installDate=031223

Schlick wurde sogar von einem Austrofaschisten ermordet. Philosophen lebten folglich im Zeitalter Brochs äußerst gefährlich, besonders, wenn sie sich mit der Wirklichkeit und ihren Verfallserscheinungen auseinandersetzten und vor einer Wertlosigkeit, einem Vakuum bzw. einem Schlafwandeln, warnte. So benennt auch der australische Historiker Christofer Clerk seine Recherche „The Sleepwalkers“ (Die Schlafwandler. Wie Europa 1914 in den Krieg zog“, 2014) nach Brochs Trilogie. http://irwish.de/PDF/Dienste+Kriege/Clark-Schlafwandler.pdf Darin relativiert der Spezialist für preußische Gesschichte die These von der Alleinschuld als kriegstreibende Macht. Er greift auf die Trilogie zurück, weil sie bestimmte historisch logische Mechanismen reflektiert.

Werte können weder durch Theorie noch Erkenntnis logisch gefunden werden, sondern müssen als Wertetafel gesetzt und geglaubt werden, notfalls auch mit Gewalt instruiert und medial aufbereitet. Werte sind, so Broch, von Wirklichkeit und Tatsachen entkoppelt, sie entsprechen einer fiktiven, rein subjektiven Wirklichkeit. Werte werden geschaffen aufgrund persönlicher Lebenseinstellung. Nachweislich setzte sich Broch mit allen Krisen seiner Zeit, darunter auch die psychologischen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen auseinander, doch interessierte ihn am meisten die von Nietzsche aufgeworfene Religions- und Vertrauenskrise. „Keine der Krisen hat ihn so nachhaltig umgetrieben wie die fundamentale Religionskri-se, die er in Nietzsches Gesamtwerk artikuliert fand“, schreibt Paul M. Lützeler in seinem Essay über Brochs Nietzsche- Essay https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110217032.183/html?lang=de

Broch schrieb in Bezug auf Nietzsches „Gott ist tot“ auch über das Böse im Wertsystem der Kunst und dass man darauf eine konstruktive Antwort auf den Nihilismus der Zeit finden müsse, die Nietzsche schuldig bliebe.

Foto Belinda Helmert: Bernward-Statue vor dem heutigen Weltkulturerbes St. Marien Himmelfahrt. Die Bonzeskulptur des wohl einflussreichsten Bischofs und Kunstsammlers der Stadt von 1893 hat ihren jetzigen Bestimmungsort erst nach der aufwendigen Sanierung 2011 eingenommen.https://de.wikipedia.org/wiki/Bernwardsdenkmal

Triumph des Irrationalen

Über elementare Lebensentscheidungen herrscht am Ende doch der uns unbewusste Trieb oder eine irrationale Neigung, der wir nicht Herr werden können, befand Broch. In seiner Trilogie verlieben sich Männer in Frauen gegen ihren Willen. Das rationale Denken bestimmt nicht die Richtung, schon gar nicht den Entschluss in ihrem Leben – abgesehen von dem Pragmatiker, der auch vor Mord nicht zurückschreckt. Wissenschaft dagegen entspricht einer bestimmten Neigung, einem Bedürfnis des Gemüts, wie es Broch und vor ihm Carnap artikulierten. In diesem Sinne tritt sie an die Stelle der Religion als Welterklärungsmodell, doch sie verfügt nicht über ihr ethisches Gerüst.

Als Positivist suchte Broch in der Philosophie Gewissheit und Klarheit, wie vor ihm Wittgenstein. Eine Welt unumstößlicher Gewissheit im Kopf, während alles herum in Fugen geht. Verbindliche Objektivität in einer Epoche der auflösung alter Gewissheiten, Staaten, Selbstverständlichkeiten. Indirekt hielt er ein Plädoyer für Sturktur und an die Aufklärung ausgerichtete Logik, die analysiert und die Änderung bei sich selbst beginnen lässt. Aufwachen als Therapie. Andererseits war sich Broch der Grenzen des Rationalismus bewusst und hielt ihn für eine wünschenswerte Utopie. So schreibt er in besagtem Epilog „das Rationale vermag bloß zu atomisierensie leitet seinen Zerfall und seine endgültige Zersplitterung ein.“

Um etwas Neues zu kreieren, muss das Alte vorher untergehen. Darin liegt aller Wert der Zerstörung. Dies „Stirb und Werde“- Prinzip formulierte bereits Nietzsche und weit vor ihm Heraklit, der den Krieg als „Vater aller Dinge“ bezeichnete und damit die Notwendigkeit aller Zerfallserscheinung sowie ewigen Wandel bekräftigte.

Foto Belinda Helmert: Domkuppel. Nach der kriegsbedingten Zerstörung 1945 wurde die goldene Kuppel, die nach dem Sieg des Hildesheimer Bischofs gegen den Herzog Braunschweigs 1367 das Dach des Vierungsturms krönte, nicht wieder hergestellt. https://www.dom-hildesheim.de/de/geschichte

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom, Unesco Weltkulturerbe seit 1985. Grundsteinlegung 852. Geweiht 872. Abeschlossener Neuaufbau 2014.

Die Logik der Tatsachen treibt das Rationale ins Überrationale

Brochs Romantrilogie stellt eine Herausforderung dar. Nicht von ungefähr war sein literarisches Vorbild James Joyce. Montagetchnik, innerer Monolog, Reflexkionen des neutralen Erzählern, jede Menge retardierender Momente. „Letzte Zerspaltungseinheit im Wertzerfall ist das menschliche Individuum.“ Das klingt abstrakter als Nietzsches „Alle Lüge beginnt mit Ich“. Dies bestätigt auch der Essay von Hermann Kocyba „Der Schatten Nietzsches – Hermann Broch und der Zerfall der Werte“ https://www.berndoei.de/wp-admin/post.php?post=6521&action=edit

Am Ende triumphiert zynisch sachliches Verhalten im Individuum, doch in der Welt, ihrem geschichtlichen Verlauf, das Irrationale. Vielleicht gerade darum, weil Menschlichkeit und feste Überzeugung sich als ein Makel herausstellen. Vielleicht auch nur, weil der Autor die Kassandra geben will. Die verlorene Einheit, so Hannah Arendt in ihrem Essay über Broch, den sie im amerikanischen Exil persönlich kennenlernte, lässt sich auf die Dreiheit Denken – Erkennen- Handeln reduzieren. Man möchte meinen, dass der am Ende desillusionierte und im Lazarett amputierte Leutnant das Denken, der getötete Buchmacher Esch das von Träumen angeregte Erkennen und der Mörder Huguenau, „ein wertfreier Mensch„, das Handeln verkörpern.

Broch verknüpft dichterische und denkerische Wirksamkeit so eng wie sonst nur Musil. Sein Begriff für Immoralismus lautet „Privattheologie„. Derzufolge hat Huguenau bie Gewissensbisse. Er allein lässt sich vom „Aufstand des Irrationalen“ nicht infizieren um den Preis der Menschlichkeit, des Mitgefühls, das auch zu den Irrationalitäten unserer Natur zählt.

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom, St. Marien, Frontfassade mit Vierungsturm im Osten, 32 m und romanischen Westbau, 41 m sowie patiniertem Bernward-Denkmal. Wie zahlreiche Bauelemente musste aus der baufällige ursprüngliche Westriegel durch einen neuen ersetzt werden (1840). Das Dommuseum ist links zu sehen.

Foto Belinda Helmert: Blick aus dem Fenster des Dommuseums, das sich um den Kreuzgang anschmiegt. Es beherbergt den Domschatz, einer der weltweit bedeutendsten der Mediavistik. Die Umgestaltung währte 5 Jahre, die Neueröffnung fiel auf 2015. https://www.dommuseum-hildesheim.de/de

Trägheit des Gefühls

Brochs auffälligste Metapher, eine Personfizierung zudem, ist dem ersten Kapitel aus „Pasenow und die Romantik“ entlehnt. Bekanntermaßen nannte sich Heine einen „entlaufenen Romantiker“ und Nietzsche wähnte sich mit der „fröhlichen Wissenschaft“ endgültig vom romantischen Pessimismus kuriert, da er Romantik mit Schopenhauer und Wagner gleichsetzte. Wie immer ging es ihm dabei um Selbstüberwindung

Heine fand über das Mittel der (romantischen) Ironie, Nietzsche über das Mittel der Paradoxie zu dem, was sie Gesundheit nannten: „Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hilfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus“. (Die fröhliche Wissenschaft, V; Aphorismus 370 Was ist Romantik). Zweifellos fußten beide unwillentlich noch mit einem Bein in der Romantik, die sie beide als Krankheit (die Lust am Leiden) empfanden.

Broch nun beginnt seine Trilogie mit einem Vater, der sich als Lustgreis entpuppt und seinem Sohn Joachim, der das Werben um eine gewisse Ruzena als peinlich empfindet. Er übersieht, was im Grunde Lebenslust ist und verliebt sich später unfreiwillig selbst in die (spätere) Schauspielerin und böhmische Lebedame Ruzena. Seine Affäre mit ihr ist ihm unbegreiflich, bringt sie doch sein geordnetes Leben durcheinander und gefährdet seine arrangierte Verlobung mit einer standesgemäßen Aristokratin. Dass Ruzena am Ende auf den Leutnant schießt, erscheint bei all der Verwirrung nahezu logisch.

Im ersten Kapitel heißt es: „Wenn ein Mensch sowohl infolge der kastenmäßigen Abgeschlossenheit seines Lebens, als auch infolge einer gewissen Trägheit des eigenen Gefühls die Gewohnheit angenommen hat, den Nebenmenschen zu übersehen, so muß es ihm selber auffallen und verwunderlich erscheinen, wenn sein Auge von zwei fremden jungen Leuten gefesselt wird, die sich in seiner Nähe unterhalten.“

Nach dem Verlust des Bruders (im Duell) hält sich die Mutter aufrecht und verbirgt ihre Emotionen. „Man wunderte sich über ihre Standhaftigkeit, ja bewunderte sie. Aber vielleicht lag das bloß an der Trägheit des Gefühls, die ihr eigentümlich war.“

Das Motiv emotionaler Trägheit begleitet den Ordnungsliebhaber Joachim durch den gesamten Roman. Erwähnt sei abschließend nur eine Passage aus dem zweiten Kapitel: „Das Gefühl ist träge und daher so unverständlich grausam. Die Welt ist von der Trägheit des Gefühls beherrscht.« Trägheit des Gefühls! Joachim war davon getroffen; war er nicht selber voller Trägheit des Gefühls, war es nicht strafbare Trägheit, daß er nicht genügend Phantasie aufbrachte, Ruzena trotz ihres Sträubens mit Geld zu versorgen und aus dem Kasino herauszunehmen? Er sagte bestürzt: »Wollen Sie wirklich Ehre als Trägheit des Gefühls bezeichnen?«

Seine Trägheit wird den pflichtbesessenen Leutnant bis zur Amputation führen: schrittweise verliert er seine einzige Leidenschaft (Ruzena), die Ordnung (Armee) und die Schlacht, seine Unversehrtheit und seinen Glauben an die Ehre. Seine Trägheit ist Schlafwandelei. Nicht umsonst erscheint ihm Gottes Gesetz grausam, „erbarmungslos und kalt„, deren Gesetze „greifen ineinander wie die Zahnräder der Maschinen.“ Alles ist von außen erklärlich, nur für den Betroffenen meist nicht.

Foto Belinda Helmert: Hildesheimer Dom St. Marien Himmelfahrt, Rückseite mit Domsschule. https://www.hildesheimer-geschichte.de/die-kirche/die-hildesheimer-kirchen-1/dom-baulichkeiten/

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