Draußen vor der Tür

Foto Belinda Helmert: Liebenauer St. Laurentius Kirche, Eingang

Beckmanns Krankheit

Wir alle standen doch schon mal draußen: oder fühlten uns ausgeschlossen. Es fehlte der Schlüssel oder man lies uns nicht herein. Wir kamen zu früh oder zu spät. Beckmann ist nur ein Name. Aber der einzige, der in dem Nachkriegsdrama (Trümmerliteratur) von Wolfgang Borchert auftaucht. Manche setzen ihn und damit das lyrische Ich einfach mit dem Autor gleich. Doch Beckmann schied freiwillig aus dem Leben, Borchert hingegen wollte leben, wurde Opfer einer schleichend siechenden Krankheit.

Deutschland lag in Trümmern, war gegen die Wand gefahren. Manche Menschen erlitten einen Identitätsbruch. Sie wussten nichts mehr mit sich selbst oder/und der Welt anzufangen, die sie umgab. Sie waren nicht gewollt. Sie waren zu nichts mehr Nütze. Sie fühlten Leere. Sie fühlten so nutzlos.

Das Stück, in acht Tagen geschrieben, erlebte kurz vor seinem Tod im Februar 1947 seine Radio-Premiere. Die Uraufführung (in Hamburg) erfolgte im November 47. Meine Worte zu Borchert per Audiodatei vor drei Jahren (aus der Reihe Literaten von A bis Z):

Borchert war mir immer präsent. Gerade weil er unverschuldet ohne Perspektive blieb, um sein Leben bestohlen und gebracht. Er wurde zum Sprachrohr einer Generation, vergleichbar mit der „lost generation“ (er las vorzugsweise die amerikanische Kriegsgeneration um Faulkner und Hemmingway) oder dem Untergang der k.u.k. Monarchie-Autoren.

Er war so etwas wie der Georg Büchner des 20. Jahrhunderts. 26 Jahre währte sein Leben, nur zwei davon besaß er zum Schreiben. Auch dem legendäre Büchner waren nur 24 volle Lenze beschieden. Beide lebten in Umbruchzeiten und leisteten zivilen Ungehorsam. Beide zog es auf der letzten Station in die Schweiz: Borchert in die Nietzsche-Stadt (Hesse, Erasmus, Jaspers nicht zu vergessen), Büchner nach Zürich (Frisch, Dürrenmatt, Keller, Goethe, Zweig, Joyce). https://insider.lunchgate.ch/schriftsteller-in-zuerich/

Sag Nein

Mit dem pazifistischen Appell „Sag Nein“ schrieb Borchert eigentlich ein Ja: auf die Demokratie, den Widerstand, den Frieden. Und dies in einer kriegslüsternen Zeit. Auch damals hielten sich die Bürger für Gutmenschen im Recht. Auch damals sprach man vom Siegen und von Gerechtigkeit. Wie wir wissen, ist Würde antastbar. Mehr noch, sie beginnt zu stinken, wenn sie in der falschen Haut steckt.

Foto Belinda Helmert: altes Fachwerkhaus in der Kirchgasse nahe der St. Laurentius

Borchert stammte aus Eppendorf, ein Stadtteil in Hamburg-Nord mit 50 000 Einwohnern um die Jahrhundertmitte, in der Borchert verschied. https://www.shmh.de/journal-eppendorf/

Über sein Leben https://www.wolfgangborchert.de/ an dieser Stelle nur so viel: Er war mir in seiner Haltung stets ein Vorbild. Die Art, mit wenig so viel zu sagen, in den visuellen Sprechpausen und den Wiederholungen alles zu vermitteln, was eigentlich unbegtreiflich ist: den Schmerz, die Einsamkeit, die Entfremdung und die gräßliche unverschuldete Schuld des Überlebens, des Weiterlebens als ob nichts geschehen wäre. Eine Bankrotterklärung mit Liebe und Humanität. Selten, so etwas in Worte zu packen. Celan ist es gelungen, wennmgleich wesentlich verrätselter, nie so unmittelbar.

Foto Belinda Helmert: St. Laurentius von hinten. Der Name geht auf den Märtyrer Laurentius zurück, der nach dem Küstenort benannte Christ, der selbst bei Androhung von Folter und Tod seinem Glauben nicht verriet. Haltung bewahren, etwas Größeres gibt es nicht für die Würde des Menschen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Laurentius_von_Rom)

Dann mach nicht mehr mit !

Wie kann man Gesinnung wechseln wie ein Hemd? Das ist ein Thema von „Draußen vor der Tür“. haben wir nicht geglaubt, es gäbe in der Bundesreupublik eine Wende? Nie wieder Krieg, Hetze, Demagogie, Ausgrenzung? Hgelianisch gedacht der Fortschritt der Geschichte ist Fortgang im Bewusstsein, und besonders nach „Wir sind das Volk“ der friedlichen Demonstration, die Mut bedurfte, auf die Straßen zu gehen und das schier Unmögliche zu fordern, gab es doch Hoffnung in diesem Land. Einst das Volk der Dichter und Denker, heute der Wichtigtuer und Lenker. Sag Nein, möchte man schreien. Oder mit Beckmann: „Das mache ich nicht mehr mit.“

Ich war Zeuge und Besucher dreier „Draußen vor der Tür“ – Inseznierungen, davon eines als Puppenspiel im Jahr der Deutschen Einheit. Es gibt zahlreiche Vertonungen und Aufführungen des Stückes, sogar ein Beckmann-Theater. https://www.wolfgang-borchert-theater.de/ Eine der etwas älteren Aufnahmen und mit gewöhnungsbedürftiger Musik: https://www.br.de/mediathek/podcast/hoerspiel-pool/wolfgang-borchert-draussen-vor-der-tuer/1440041

Beckmann hinkt seiner Zeit hinterher und ist zu langsam, um sein Leben wieder einzufangen. Er zeigt Haltung, selbst wenn er nicht Schritt zu halten vermag mit den anderen und die Liebe ihm enteilt ist: „Halt! Sie laufen mir ja weg. Mein Bein kommt nicht mit. Langsam.“

Foto Belinda Helmert: Liebenau, St. Laurentius von der Seite. Die Kirche liegt auf einem Hügel am Rande des alten Fleckens am linken Aueufer. Der Turm stammt aus dem 19. Jahrhundert; das Original fiel einem Blitzschlag zum Opfer. (https://www.mittelweser-tourismus.de/poi/st-laurentius-kirche-liebenau/)

Und Gott weinte

Natürlich trifft Beckmann auch auf Gott, zu dem ihn zunächst „der andere“ führt. dieser gibt sich larmoyant. Er lässt die Menschen tun, was sie wollen, weil er ihnen das Geschenk des „freien“ Willens gegeben hat. Daher weist er Beckmanns Anklage, Stalingrad, „als die Bomben brüllten„, von sich. Es stellt sich die seltsame Frage, ob seine Stimme zuleise oder die Menschen zu laut geworden sind. Und wie einst Büchner „Woyczeck“ spielt der Donnewr eine Rolle. „Deine Stimme ist leise geworden – zu leise für den Donner unserer Zeit. Wir können dich nicht mehr hören.

Gott geht ab und wie bei Kafka erscheint der andere, der sich als Türwächter entpuppt. Beckmann fragt: „Was ist hinter den Türen, die das Leben uns aufmacht?“ Die Antwort lautet lakonisch und doch nicht weniger kryptisch: Das Leben. Nur wer kann es noch leben, das Leben? Es hieße ja verdrängen und lügen und noch mehr unendliches Schweigen über die Armut, das entfremdete Subjekt, das Fremdschämen über all das Unrecht, das geschieht, immer wieder aufs Neue. Sind wir nicht alle Frau Kramer, die sagen, das ginge uns nichts an. Eben, weil sie nur Frau Kramer ist und nichts dahinter. Das kernlose, substanzlose Ich, so hat es Ernst Macht genannt.

Foto Belinda Helmert: St. Laurentius von vorne mit Wohnhaus. Um 900 datiert die erste Holzkapelle. ie jetzige, im spätgotischen Stil erbaute Kirche trägt im Türsturz einen Stein mit dem Datum 1522.

Ein Herz, das schreit

An Dinbgsymbolen mangelt es dem Stück nicht. Da ist das Hinken, da sind die surrealen Träume und das sehr reale Brot, da ist vor allem das Leitmotiv (hier ein Leidensmotiv zugleich): die Gasmaskenbrille. Trotz der einfachen klaren Sprache, kalt und reduziert, monoton im Ductus, geizt Borchert nicht mit Synästhesie: ein schreiendes Herz ist eines davon.

In den meisten Hörspielen und auch einige Theaterinszenierungen wird mit der Elbe begonnen, welche den suizidalen Beckmann ausspuckt, weil er noch nicht genug gelitten hat. Das Vorspiel zeigt einen rülpsenden Tod, der sich an den vielen Toten – Stalingrad – verschluckt hat. Sämtliche Figuren außer Beckmann tragen keine Namen (Frau kramer ausgenommen) und bleiben Allegorien. Zu Beginn sind das der Tod, der Bestattungsunternehmer, Gott: da wird jedem klar, dass Beckmann schon tot ist und schöpft erst keine Hoffnung auf einen Wendepunkt. Aus dramatrugischen Gründen beginnt man daher gern mit der Elbe, die Beckmann wieder ab Land spült (ans vermeintlich rettende Ufer), weil er doch ein grüner Junge ist. Und Gott sagt: „Weil ich es nicht ändern kann.“ Das geht über seine Entscheidung, den Menschen eine freie Wahl zu lassen, hinaus.

Borchert reiht im Strindberg-Stil sequenzartig Bilder aneinander, angefangen von der Elbe, dann folgt die Begegnung mit der jungen Witwe, die ihn in die viel ztu großen Kleider ihres verschollenen Mannes steckt. Es kommt zum Gespräch mit dem Oberst, wo er seine Schuld nichtr abladen oder zurückgeben kann und der ihn für zu leise hält, anmschließend zum Dialog mit dem Direktor, der Beckmann für zu laut und theatralisch hält. Wir alle spielen Rollen und schlimmer noch, wir spielen sie schlecht und unglaubwürdig. Am Ende erscheint nur Beckmann redlich und der Rest als marionettenhaft.

Foto Belinda Helmert: Liebenau. St. Laurentius, Kirchenfenster. Leibniz sagt: Wir alle gleichen Fenster zur Welt und er nennt es Monaden. In einer Monade ist alles, potentiell zumindest. Der Mensch ist von seiner Möglichkeit her zu fast allem fähig, er ist potentiell Mörder und Heiliger. Die Spaltung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, erscheint perspektivisch: wie viele von uns gleichenb blinden oder verschmutzen Fenstern?

Sind alles Marionetten?

„Groteske, karikierte Menschenmarionetten?“Groteske, karikierte Menschenmarionetten?“

Zu Beginn, kurz vor seinem eintreten beim Oberst, bestaunt Beckmann dessen Fenster: „Ihre Fenster sehen von draußen so warm aus. Ich wollte mal wieder merken, wie das ist, durch solche Fenster zu sehen. Von innen aber, von innen. Wissen Sie, wie das ist, wenn nachts so helle warme Fenster da sind und man steht draußen?“ (Volltext Gutenberg-online) https://www.projekt-gutenberg.org/borchert/draussen/chap005.html

Auch Fenster sind sein Symbol, da sie zwischen drinnen und draußen vermitteln wie eine Tür. Allerdings tritt man gewöhnlich nicht durch sie ein, man sieht durch sie hindurch. Transparenz herrscht vor. Drinnen eine scheinbar aufgeräumte Ordnung. Am Ende sind die Menschen im Wohlstand und Selbstzufriedenheit erstarrt. Saturierte Gutbürger, die Leichen im Keller oder noch besser im Keller anderer Leute lassen.

Sie alle gehorchen. Befehlen im Krieg. Oder geben die Order an den Untergebenen weiter. Nach oben wird geduckt, nach unten getreten. Schuld sind die anderen. Beckmann macht es sich nicht so leicht. Er kommt nicht mit sich ins Reine. Er ist eben keine Marionette – eine Metonymie, der sich auch Büchner inb „Woyzeck“ bedient. Stichwortgeber bleibt in beiden Fällen Kleist mit seinem „Marionettenthater“-Essay.

Foto Belindas Helmert, Pffarrhaus zur St. Laurentiuskirche. Die Kirche ist im spätgotischen Baustil errichtet. Es ist ein dreischiffiger Hallenbau mit Kreuzgewölben. Die Außenmauern bestehen aus Bruchsteinen und Findlingen; die Sakristei ist im Fachwerkbaustil errichtet und stammt aus der nachreformatorischen Zeit. https://www.atoll1.de/tourismus/st-laurentius-kirche/

Kunst, Kunst! Aber es ist doch Wahrheit!

Als der Vorhang fiel, herrschte anfangs auch bei mir Traurigkeit über die Epoche, die Schuld unserer Väter, die Kälte der Mitmenschen, vor. Dann kam die Bewunderung für die Sprache und die Kraft, mit so viel Schönheit (borchert verurteilt nicht, wenn er der Zeit ihren Spiegel vorhält) in Abgründe zu blicken. Am Ende sind es Details, die Fülle an originellen Bildern wie den Totentanz mit Xylophon oder Aufzählungen wie „Mud und Mörtel und Matsch. Menschenmund, Knochenmörtel“, die berühren. Mit Wenigem so viel zu sagen in einer Zeit, in der so unendlich viel Überflüssiges geredet und dabei so wenig gesagt wird. Floskeln über Floskeln. Da ist einer, da ist Beckmann und hinter ihm Borchert, der aufsteht und nicht mitmacht bei der so genannten Wahrheit.

Zuletzt ein Blick auf das Kunstgespräch, das an Büchners „Lenz“ erinnert, geführt zwischen dem unheilbaren Selbstmörder Lenz und Kaufmann, dem Goetheaner und biederen Gutmensch. Ein guter Bekannter vermeinte, die Biedermeierzeit wäre doch gar nicht so schlecht gewesen, eine Atempause für die Mennschheit. Ich wagte nicht zu widersprechen, weil es im Angesicht der Dauerkristen und Apokalypsen wohl wirklich so ist: Behaglichkeit geht vor Revolution, vor allem, wenn sie scheitert. Zurück und finalisierend zu dem Direktor, der Beckmann verkennt und sich selbst euphemistisch für einen Wahrheitssuchenden und Kunstliebhaber (Kunstversteher) hält. Vierte Szene, anspielungen an Schillers „Räuber“ sind vorausgegangen, gefolgt von einem Trikolon mit schwacher Alliteration: „Frage, Hoffnung, Hunger!“

Foto Belinda Helmert: Kirschbaumblüten mit Schmetterling zwischen den Feldern von Steyerberg und Wellie. Randnotiz: eine Schülerin fragte mich unlängst, wer der andere im Stück sei. Im Grunde sind wir es immer selbst, der andere, der abgespaltene oder nicht gelebte Teil in uns. Wir alle sind Metamorphosen.

Beckmann soll präsentieren. Am Besten etwas Lustiges, denn traurig ist die Welt genug. Erotisch sollte es auch sein, aber nicht zu anzüglich oder direkt. Eben mit dem Schleier von Sais bedeckt, die Wahrheit. Ein zweites Trikolon folgt, diesmal mit starker Alltieration: „Gesichter, Gewehre, Gespenster

Nachdem sich, wie in jeder Sequenz, über die lächerliche, doch unentbehrliche Gasbrille ausgetauscht wurde (Nostalgie verjährt nie) kommt die Rede auf drei Brillen im Zivilleben, die der Direktor sein eigen nennt (und natürlich präsentiert): abgeben davon kann er keine. Schließlich sind seine gesamten und ganzen Einfälle, seine Wirkung, seine Stimmungen von ihnen abhängig. Er rät dem traumatisierten Kriegsheimkehrer endlich jemand zu werden. Im grotesken Humor kann er einen anfangenden Anfänger nicht gebrauchen. Er müsste schon gewissermaßen ein vollendeter Beginner sein, um auf der Bühne zu bestehen, denn dort ginge es doch um die höhere Wahrheit. Jene, die man nicht sieht, aber fühlt. „Goethe, Schmeling, Shirley Temple oder so was“.

Beliebigkeit, mit Namen verbundenen Größe und Wahrheit ist es, die nachdenklich stimmen muss in heutiger, in bleierner Zeit. Bleiern nicht nur, weil, wie Beckmann, in Russland/Ukraine wieder mal die Luft Blei atmet, oder weil sie schwer ist, wie in der Epoche der RAF. Auch für Blei entwickelt Borchert eine Dreierfigur: „zäh, grau und wertlos„. Und genau daran krankt er, krankt die Zeit und das Leben in Deutschland. Man bekommt Beklemmung, die Wohnung zu verlassen. Denn dann steht man und wehe sie fällt ins Schloss und man trägt nicht den passenden Schlüssel bei sich. Dann steht man lange – Draußen vor der Tür.

Foto Belinda Helmert: Steyerberg, zugewuchertes Haus nahe dem Märchenwald.

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