Der Rhein und nichts als Sein

Foto Bernd Oei: Straßburg, Gerberviertel Petit France, (Ober)Rheinkilometer 293, rechtsrheinische Uferseite. Das Quartier mit alten Fachwerkhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit ihren hohen Spitzdächern wird von Kanälen des Flusses. Neben Goethe, Büchner, Lenz erwies auch F.Hölderlin 1801/02 auf seinem Weg nach Bordeaux die Ehre. Das Weltkulturerbe bildet zugleich das historische Zentrum der Stadt.

Entstehung, Motiv, Struktur

Den Begriff „vaterländische Gesänge“ verleiht Hölderlin nachträglich erst 1803 seinem Zyklus, vordem ist noch von „hesperischen Gesängen“ die Rede. Im Brief an seinen sechs Jahre jüngeren Verleger Friedrich Wilmans (er verlegt u.a. A. W. Schlegel, Brentano und später Hoffmann) grenzt er sie thematisch von den der Liebeslyrik seiner „Nachtgesänge“ ab und verweist auf den „völkischen Charakter“ seiner Hymnen. So ist auch die Hymne „Der Rhein“ ein politisches, zugleich mythisches und metaphysisches Vermächtnis im Ringen um die Einheit von Religion, Philosophie und Poesie in der Kunst. Dabei zieht der Dichter keinen Unterschied zwischen Zeit (Gegenwartsdichtung) und Vaterland. 1801, noch im schweizerischen Hauptwil und damit der Quelle des Rheins relativ nahe, verfasst er fünfzehn Strophen, doch die Endfassung erfolgt wie so häufig erst im Sommer später, diesmal im heimatlichen Nürtingen. In seinem hypotaktischen und oft mäandernden Satzbau bricht „Der Rhein“ wie „Germanien“ und „Patmos“ mit der gewohnt klaren Trennung der Grundtöne; die Strophen gleichen eher Synthesen aus naiv-heroisch und idealisch. Die Hymne entzieht sich einer eindeutigen Zuweisung gemäß des eigenen ästhetischen Schemas. Gegenüber seinem engsten Freund Sinclair, dem er das Gedicht auch widmet „Die zwei ersten Partien sind der Form nach entgegengesetzt, dem Stoff nach aber gleich, die zwei folgenden der Form nach gleich, dem Stoffe nach aber entgegengesetzt, die letzte Partie hingegen gleicht mit durchgängiger Metapher alles aus.“1

Foto Belinda Helmert, Rheinfall von Schaffhausen am Bodensee. Rheinkilometer 204. Der längster Fluss Deutschlands durchfließt hier Deutschlands gößten See, den Bodensee auf seinem Weg nch Basel. 150 m Breite, 23 m Fallhöhe und dies seit etwa 17000 Jahren. Die Abflussmenge schwankt über das Zwölffache. Im Hintergrund Schloss Laufen, nur mit einem f weniger als der Geburtsort Hölderlins am Neckar bei Lauffen. Der Neckar ist ein 362 km langer Nebenfluss des Rheins, der von seiner Quelle bis zur Nordsee 1232 km zurücklegt.

Fünf Elemente, Flüsse, Perioden

Von welcher Metapher neben dem Rhein, der keineswegs nur als Fluss und als Naturphänomen gefasst wird, ist die Rede? Was sind die zwei Formgesetze und welches die beiden Stoffe? Hölderlinsch kulminiert alles (der Lauf, die Bewegung) in einer Trinität der drei Seinsbereiche: Göttliches, Menschliches und Natürliches amalgamieren in und durch die Topografie des Flusses. Wie gewohnt nimmt der Dichter Anleihen aus der griechischen Mythologie mit ihren fünf Flüssen Styx, Lethe, Archeron, Phlegethon und Cocytus; sie verbinden jeweils die Unter- mit der Oberwelt.

Styx fließt aus dem Orkus (Oceanus) in die Untwerlt und impliziert wörtlich den Hass bzw. Ekel. In seine Fluten wurde Achilleus getaucht, um ihn unverwundbar zu machen, nur die Ferse blieb trocken und daher sein Todesurteil. Der Fährmann Chiron, dem Hölderlin eine eigene Hymne im Zyklus widmet, bringt die Toten vom Ufer der Lebenden zu dem der Toten, dem Reich des Hades, das der dreiköpfige Höllenhund Kerberus bewacht. Eine vergleichbare Stellung nimmt der biblische Jordan ein.

Lethe ist der Fluss des Vergessens, von dem die Toten trinken müssen, damit sie im Zuge der Seelenwanderung wiedergeboren werden können. Sein Gegenpart Mnemosyne hingegen bildet ein See, der Gedächtnis und Wiedererinnerung stiftet. Acheron ist der Fluss der Klage; engt mit dem Fährmann Chiron verknüpft; Phlegeton ist der Feuerstrom, der zum Gerichtshof der Toten, dem Tartarus, führt und mit Vergeltung und Rechtsempfinden verbunden wird. Cocytus als Fluss des Jammers und der Trauer findet in der Odyssee Erwähnung. Auf diese Weise entsteht ein mythisches Kaleiddoskop.

Folglich synthetisiert Hölderlin fünf elementare anthroposophische Aspekte und überträgt sie auf einen divinisierten Vater Rhein. Der Fluss geht über eine Allegorie des Sakralen (heilige Einfalt) hinaus; er ist auch politische und kulturelle Grenze (Germanien und Frankreich, Schweizer Demokratie und deutsche Monarchie).

Foto Belinda Helmert: Rhein bei Basel, Rheinkilometer 166. Aufnahme vor der ältesten (der „Mittleren“) Brücke des Flusses, der am Tomasee in Graubünden mittig in der Schweiz entsrpingt. Basel ist u.a. Nietzsche-Stadt, aber auch Hesse, Erasmus, Popper und Borchert verbrachten hier Zeit. Im Hintergrund der Basler Münster mit über 500 Jahre Bauzeit (nur der Kölner dom brauchte noch länger).

Politisches Bekenntnis

Sinclair2, ist zu dieser Zeit der Widmung mit der Aufgabe betraut, Vaterlandsverräter – Anhänger der Revolution und damit Jakobiner – zu überführen. Aufgrund seine Milde wird ihm später Allianz mit den Konspirateuren und damit Hochverrat zur Last gelegt, deren Folge ein Prozess ist, der die Freunde am Ende entzweit. Sowohl Hölderlin als auch er sympathisierten als liberale Freigeister mit den Jakobinern. Vieles in „Der Rhein“ deutet die revolutionäre Losung Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit hin. Der Dichter legt zudem Spuren auf (den Genfer) Rousseau, die Frankophilie mit Graecophilie verknüpfen.

Die Motive friedliche Einheit und Streit sind unter dem aktuellen Gesichtspunkt des Napoleonischen Feldzuges, der Gärung innerhalb des Heiligen Reiches Deutsch-Römischer Nationen auch leitmotivisch für das Gedicht.

Jede Hymne beginnt laut Hölderlins Ästhetik idealisch und endet heroisch; zudem impliziert sie gleich einem Drama eine Peripetie: den Wendepunkt bildet hier die achte Strophe mit der unmissverständlichen Eingangzeile:

Es haben aber an eigener Unsterblichkeit die Götter genug und bedürfen … Heroen und Menschen / Und Sterbliche sonst.“3

Natur und Götter bedürfen eines wahrnehmenden Subjekts, um vollständig zu sein.

Während seines Aufenthaltes in Hauptwil wandert Hölderlin auch an die Quelle des Rheins. Sein Gedicht wirft die Frage nach der Differenz von Ursache und Grund, Quelle und Mündung, auf. Die imaginierte Reise beginnt nicht zufällig mit dem Rheinquelle und endet in ihr (anstelle in der Nordsee), da Wiederkehr und Zyklus betont. Der Fluss wird zum Abbild natürlichen Alterns der Kulturen, die sich auch erneuern. In diesem Zusammenhang stehen Licht und Schatten-Metaphorik, die mythisch dem Apoll und Dionysos zugesprochen entsprechen. Analog verfährt Hölderlin mit Progression und Regression als poetische Gestaltungsprinzipien, welche Rück- und Vorgriff enthalten. Das einstige goldene Zeitalter der Hellenen soll in Germanien wieder geboren werden.

Der Rhein weist in freier Metrik (diverse Versmaße alternieren) Rätsel „Reinentsprungenes“ – rein und Rhein bilden Homonymie. Der Dichter inkludiert zahlreiche Chiffren; auch Zahlen sind hier von Bedeutung sein, zumal sich religiöse Texte nicht ohne Zahlenmystik vollständig erschließen. Fünfzehn Strophen zu je fünfzehn Zeilen ergeben insgesamt 225 Verse. Fünf dürfte auf die fünf Elemente bezogen sein. Die mesopotamische Hauptstadt Niniveh, gelegen am Tigris, hat 15 Tore, darunter das weltberühmte Ischtar. Noch naheliegender ist der Bezug zum Johannesevangelium, Offenbarung 15 im Buch der sieben Siegel, das von der Apokalypse handelt, nachweislich eine bevorzugte Stelle des Dichters.

Foto Belinda Helmert: Rheinbrücke Diessenhofen–Gailingen zwischen Baden Würrtemberg und Kanton Thurgau. Es ist die einzige vollständig erhaltene Holzbrücke am Hochrhein; sie zählt zu den heute seltenen Pfahljochbrücken mit einem Vorgänger aus dem Ende des 13. Jh. und 86 m Länge. Die lichte Durchfahrtshöhe der Brücke ist so niedrig, dass Schiffe der Schweizerischen Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein vor der Durchfahrt die Bugmasten, Kabine und das Sonnensegel absenken – bei Hochwasser unpassierbar.

Natur – Gott – Mensch

Drei Seinsbereiche: Göttliches, Menschliches und die Natur, entsprechend idealisch reinem Selbst, heroischen Selbstbewusstsein und naivem Bewusstsein, begleiten die Strophen durchgängig. Entsprechend die drei Hauptsubjekte ein: der Rhein repräsentiert als Metonymie die vergeistigte Natur, Herakles als der gefesselte Prometheus verkörpert allegorisch das Göttliche im Menschen und Rousseau das Natürliche im Geist. Der Verlauf des Rheins von der Quelle über die Berge ins Meer ist zugleich eine Kulturreise mit anthropologischen Anteilen von der Antike bis in die Gegenwart (Zeitreise) mit Vorgriff auf eine kommende Epoche (goldenes Zeitalter). Aufgrund der Personifizierung „Vater Rhein“ liest sich die Hymne wie die Genesis; Schöpfung menschlicher Kultur inmitten einer archetypischen (mythisch aufgeladenen) Landschaft. Dabei dominiert die intrinsische Verwobenheit der Sphären, da sie sich nicht wie sonst auf Strophen verteilen, sondern teilweise innerhalb einzelner Abschnitte miteinander kommunizieren.

Rousseaus Bedeutung für das Gedicht

Eine ausführliche Interpretation liefert meine Monografie „Höderlin: Das Eine ist Alles“ (2008, Neufassung 2020). An dieser Stelle werden nach dem allgemeinen Zurodnung (siehe oben) nur die Rousseau-relevanten Stellen angeführt. Ein erster Hinweis erfolgt in der vierten Strophe:

Um frei zu bleiben“ ist der geistige Grund, weshalb wir geboren werden. Die Formulierung verweist auf Rousseaus Staatsvertrag: der Mensch ist frei geboren, so heißt es in der Präambel zum „Contrat Social“). Auch Kant stimmt dem in seinem Begriff der Würde zu, weshalb das ganze Wesen des Menschen darauf abzweckt, sich Freiheit zu bewahren (Freiheit zu handeln, nicht befreit sein von einer Handlung).

Das Adjektiv glücklich geboren bezieht sich auf den Rhein und dieser auf das „Reinentsprungene“, ergo das „Neugeborene“ und dem „Lichtstrahl“. Die Syntax verbindet wiederum Zeit und Raum. Die Ursache liegt in der Flussquelle, diese entspricht der Geburt des Menschen. Der Vergleich ist jedoch nur eine Annäherung an das Rätsel. Am Ende bleibt jedoch ein vages „wie jener?“

Foto Bernd Oei: Rhein bei Düsseldorf, wo bei Rheinkilometer 743 die Düssel in den Rhein fließt. Berühmtester Dichtersohn der Stadt: Heine. Im Hintergrund die zur Adenauer Zeit entstandene, über 1, Kniebrücke, eine der sieben Rheinbrücken der Stadt mit Rheinturm im Hintergrund.

Ursprung der Menschheit

Die zweite Stelle findet sich in der siebten Strophe: „Dann haben des eigenen Rechts“: Philosophisch stiftet der Dichter einen Bezug zu einer Schrift, die zu den wichtigsten überhaupt zählt und sein Denken geprägt hat: „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ von Rousseau. Aus dieser Schrift ist das Prinzip der natürlichen Gleichheit und das unverbrüchliche Recht auf Freiheit entlehnt, das bereits im „Hyperion“ Thema ist.5 Diese Formulierung spielt bereits auf Rousseau an, auf „Schwärmer“ und seinen berühmten Eingang aus: „Contrat Social“: „Der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Ketten“, wobei die finale 15. Strophe mit „angekettet“ sowohl mythisch Prometheus als auch menschlich Rousseau gelten kann. Hölderlin bezieht sich darauf im „Hyperion“: „wann reißt der Mensch aus seinen Ketten sich los?“ Das Ketten-Motiv lässt sich zudem auf Platons Höhlengleichnis im siebten Buch aus „Politeia“ beziehen.6

Laut Rousseau erzeugt nicht der Naturzustand, sondern die Zivilisation und damit des Menschen Gesetz Ungleichheit und damit einhergehend alle Laster. Der Bezug auf ihn ist eindeutig durch: „nicht Ungleiches dulden, der Schwärmer“. Der Gesellschaftsvertrag basiert auf Gleichheitsideal der égalité.

Wenden wir uns der achten Stropohe zu: „Es haben aber an eigner Unsterblichkeit die Götter genug“ verweist auf das Christentum und damit der Wert des Mitleids bzw. Mitgefühls, das Rousseau stets betont. Dem Fühlbaren steht die Kaskade der Zerstörung gegenüber: „dass sein eigenes Haus zerbreche“ und „sich Vater und Kind / Begrabe unter den Trümmern.“ Eine solche Apokalypse, verbunden mit der Theodizee, wagt auch Kleist 1808 mit „Das Erdbeben von Chili“. Dort erfahren die Menschen nur während der Katastrophe menschlichen Beistand, am Tag danach werden Schuldige gesucht und barbarisch erschlagen. Eine weitere Kontradiktion in der Hymne ist „Muss wohl“ und „erlaubt“, die Notwendigkeit und das Erhabene der Freiwilligkeit.

Foto Belinda Helmert, Konstanz, Deutschlandeck – wo bei Rheinkilometer 592 die wilde Tochter Mosel nach 544 km in den Vater Rhein mündet.

„um frei zu bleiben“

den brauchen sie“ bezieht sich grammatisch auf ein Anderer folglich den Mitmenschen, weil ohne Gemeinschaft auch das Selbst nicht gedeiht. Dieser „andere“ ist nun der Schwärmer und damit konkret Rousseau und seine Gefolgschaft. Der mittlere Teil ist der Form nach gleich, dem Stoff nach unterschiedlich gehalten. Eine Entscheidung kündigt sich an und in diesem Ringen besteht der heroische oder tragische Charakter einer Hymne. Ziel lautet: „um frei zu bleiben, / Sein Leben lang.“

Die Frage nach dem (göttlichen) Ursprung und der Reinheit findet ihr Echo in der „reinen Stimme“, und indirekt in der Metapher „Gericht“, da Rousseau Gewissen einen „inneren Gerichtshof“ heißt. Das Gewissen ist angeboren und kann nicht erworben werden, wohl aber vergessen, verdrängt oder umgelogen. Hölderlin schlussfolgert: „denn weil / Die Seligen nichts fühlen“, bedürfen sie den Menschen. Freiheit ist deren höchstes Gut, Notwendigkeit das der Götter.

Dass Hölderlin sich vornehmlich auf Rousseau bezieht, verraten seine Gedanken und Erwähnungen in den beiden Essays „Nemesis“ und „Über Gesetz und Strafe.“ Ihre Rezeption lässt an seinen republikanischen Standpunkt keinerlei Zweifel. Der Preis der Freiheit ist das Böse und die Wahl, Unrecht zu begehen, die Stimme des Gewissens zu überhören, womit er „Ungleiches duldet“.

Sehen bis an die Grenzen und darüber hinaus

Foto: Bernd Oei: Kurz vor Bingen, Rheinkilometer 531, südöstlich des Rheinknies. Berühmtester Dichhtersohn: Stefan George.

Zur neunte Strophe: „Drum wohl ihn“ dürfte sich auf Rousseau und seine Herkunft und späteres Asyl in der Schweiz beziehen, „ein wohlbeschiedenes Schicksal“. Die Wanderungen durch die Alpen können sich auf die eigenen als auch die des Vorbilds beziehen. „Daß… / Er sehn mag bis an die Grenzen“ ist auf seine Bedeutung für die Aufklärung als auch die Sprachphilosophie und Musikerziehung gemünzt. In seiner Ode auf ihn heißt es: „Dem Sehenden war [Fremdlinge, /Der Wink genug … Und fliegt, der kühne Geist, wie Adler den /Gewittern, weissagend seinen / Kommenden Göttern voraus“.8

Ein Bezug zu Rousseau besteht vierfach: zum einen als Begründer der Aufklärung, zugleich jedoch der Romantik, der mit seiner Gefühlsbetonung für Hölderlin richtungweisender ist als Voltaire oder Diderot, zum anderen, weil sein Anspruch, dichtend zu philosophieren der Form des schwäbischen Dichterphilosophen adäquat ist. „Hyperion“ ist ohne „Die neue Héloise“ gar nicht denkbar. Drittens ist auch Rousseau dem Rhein entlang gewandert, beide Künstlerseelen wandeln damit auf den gleichen Spuren und nutzen die Natur als Gleichnis. Zuletzt fühlt sich Rousseau im Gegensatz zu Voltaire und Diderot unwohl in seiner Zeit, missverstanden und deplatziert; auch psychologisch bietet er folglich Hölderlin Identifikationspotential.

Halbgott Rhein

Foto Bernd Oei: letzte Rheinschleife vor der Loreley, Rheinkilometer 555 beim rechtsrheinisch gelegenen St. Goarshausen nahe die Burg Katz. Ley bedeuet Felsen und auch Weinberg.

In der zehnten Strophe heißt es: „Halbgötter den ich jetzt“ – es bleibt offen, ob Rousseau damit gemeint ist, doch die Wahrscheinlichkeit erscheint groß, da er drei Zeilen darauf namentlich genannt wird „Wem aber, wie, Rousseau, dir“ in Verbindung mit dem Attribut „stark ausdauernde Seele“ und die „süße Gabe zu hören.“ Diese Formulierungen sind sowohl biografisch deutbar als auch als Gleichnis auf Analogien mit dem Dionysischen „Wie der Weingott, törig, göttlich“, da Rousseau aufbrausend und irrational, pathologisch reagieren konnte.

Formal gesehen geht es seit der siebten Strophe um Rousseau, stofflich findet das Ruhige „seligbescheiden“ (9. Strophe) mit der aufrührenden Emotion „die sehnende Brust mir beweget“ seinen Widerstand und Antagonismus. Rousseau entspricht aber nicht nur dem Rhein geografisch und mythologisch auf der Suche nach Ursprünglichkeit, sondern auch dem Halbgott Herakles hinsichtlich seines Verfolgungswahns, zudem weist er prometheische Analogien auf, da er den Mensch aus den Fesseln seiner Knechtschaft befreit: „die entweihenden Knechte, wie nenn ich den Fremden?“ In seiner zehnstrophigen Ode auf Rousseau bezeichnet Hölderlin den Genfer Philosophen als über die eigne Zeit hinausblickenden Menschen, dem „Gott ins Freie weist“. Hölderlin gebraucht dabei erstaunlich viele Substantive, die zu „Der Rhein“ konvergieren“: Schatten, Quelle, Ufer, Zeit, Völker, Tal, Wetter, Sonne, Gewitter, Zeichen. Er gibt darin den Hinweis, dass Winke der Götter Sprache sind und weissagende Männern den Götter Zungen oder heilige Gefäße.

Als konkreter Orte wird in der elften Strophe der Bielersee genannt, an dem sich Rousseau in einem Kloster aufhielt, als er „Träume eines Spaziergängers“ verfasste. Rousseau ist der Gedanke gewidmet, dass die Neuzeit etwas Entscheidendes verloren hat, das in der Antike noch natürlich gegeben ist und für künftige Generationen wiedergewonnen werden muss.

Foto Bernd Oei: Burg Stolzenfels, Rheinkilometer 585, linkes Mittelrheinufer nahe Koblenz, gegenüber der Lahnmündung (245 km Länge).

1 Hölderlin, Sämtl. Werke, Hg. Mieth, IV, Briefe,, Brief an Isaak von Sinclair, 06. 08. 1801, S. 223.

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